Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
02.07.2007. Alle Zeitungen sind mit dem Bachmannpreis für Lutz Seilers Erzählung "TurkSib" (auf die wir verlinken) mehr als einverstanden: Ein "geradezu klassisches Stück Literatur" ist diese Erzählung zum Beispiel laut FR. Der FAZ liegen Aufnahmeanträge Martin Walsers, Dieter Hildebrandts und Siegfried Lenz' für die NSDAP vor, die sie aber nur sehr vorsichtig kommentiert. Und die Glamourqueen Barbra Streisand hat alle, die eine Pressekarte bekommen haben, in den Bann geschlagen.

Welt, 02.07.2007

Als "beinahe altmeisterliches Meisterwerk der modernen Erzählkunst" lobt Elmar Krekeler Lutz Seilers beim Bachmann-Wettbewerb prämierte Geschichte über eine Fahrt mit der TurkSib durch Kasachstan, und auch ein "brüllkomisches, todtrauriges" Kabarettstück von Peter Licht hat ihm gut gefallen. Doch insgesamt hat der Wettbewerb Krekeler kalt gelassen: "Der Bachmann-Wettbewerb am Wörthersee folgt offenbar einer merkwürdigen Wellenbewegung. Vermochten zwar im vergangenen Jahr die meisten Teilnehmer zu erzählen, ohne etwas zu erzählen zu haben, war es diesmal umgekehrt."

Weiteres: Völlig in den Bann geschlagen ist Manuel Brug von Barbra Streisands Konzert in der Berliner Waldbühne: "Die Streisand, Diva und gleichzeitig Tante Barbra auf einer Art kollektiver Bettkante, Glamourqueen und schüchterner Backfisch, vor allem aber immer noch das bezaubernd schräge, unglaublich nervige und überaus begabte 'Funny Girl' aus dem Musical über die legendäre jüdische Komikerin Fanny Brice, mit dem sie 1964 am New Yorker Broadway zum Weltstar wurde, erlaubte sich Dinge wie niemand sonst: Sie hatte mitten im Publikum einen Telepromter platziert, wich aber oft genug vom vorgefertigten Redefluss ab. Sie wurde dezent politisch, freilich nur ganz allgemein mit der Rezitation von William Saroyans 'The Time of Your Life'. Sie zog ihre Schuhe aus und stellte sie auf den Tisch. Sie trank ganz entspannt Kamillentee."

In der Randglosse verarbeitet Berthold Seewald das Hin-und-Her um die Drehgenehmigung für Tom Cruise und den Valkyrie-Film im Bendler-Bock. Sven Felix Kellerhoff berichtet von der Focus-Meldung, dass Martin Walser, Siegfried Lenz und Dieter Hildebrandt Mitglieder der NSDAP waren.

Besprochen werden die Uraufführung von Unsuk Chins "Alice in Wonderland" mit Gwyneth Jones bei den Münchner Opernfestspielen, die Doku-Soap "Männer allein daheim", und auf der DVD-Seite die Wiederveröffentlichung des "schlechtesten Tanzfilms aller Zeiten" "Dirty Dancing" sowie eine Ausgabe der Filme des italienischen Horrorklassikers Mario Bava.

FR, 02.07.2007

Christoph Schröder ist mit Klagenfurt im Reinen. "Dass sich am Ende mit Lutz Seilers grandiosem Text 'Turksib' ein geradezu klassisches Stück Literatur gleich in der ersten Abstimmungsrunde durchsetzte und der mit Abstand beste Beitrag auch den mit 25.000 Euro dotierten Bachmannpreis erhielt, ist hoch erfreulich, spricht für das Prinzip Klagenfurt, ändert nichts daran, dass die Grenzen dessen, was literarisches Schreiben ist, was Klagenfurt-Literatur ist, im Begriff sind, sich zu verschieben, nicht erst seit dem Coup der Berliner Zentralen Intelligenz Agentur im Vorjahr - Gewinnerin Kathrin Passig saß Tag für Tag im Cafe des ORF-Studios, scheinbar verwachsen mit ihrem Laptop, unaufhörlich wichtig tippend, was auch immer."

Weiteres: Ina Hartwig möchte im Fall der NSDAP-Mitgliedskarten von Siegfried Lenz, Martin Walser und Dieter Hildebrandt erst mal die Historiker die Lage einschätzen lassen. In einer Times mager erinnert Hans-Jürgen Linke das hundertjährige Statdttheater Gießen an die ständige Gefährdung durch Sparwillige.

Besprochen werden der Berliner Auftritt von Barbra Streisand, die neue als "Museum der Dinge" firmierende Dauerausstellung des Werkbundes in Berlin und eine "bedächtige" Aufführung der Walküre durch die Berliner Philharmoniker in Aix-en Provence.

NZZ, 02.07.2007

Paul Jandl freut sich über den Ingeborg Bachmann Preis für Lutz Seiler. "Selten war das Ergebnis des Preislesens besser begründbar als diesmal. Es ist ein Votum für das Schwierige in der Literatur, für eine ihr immanente Langsamkeit. Eine Langsamkeit, die sich gegenüber der rundherum beschleunigten Welt nicht geschlagen gibt."

Joachim Güntner widmet sich einem Bericht des Focus, wonach Martin Walser, Dieter Hildebrandt und Siegfried Lenz 1944 Mitglieder der NSDAP geworden sein sollen. "Interessant ist die Chronologie der Enthüllungen. Einst ging es um die Größen in Politik und Wirtschaft, dann um den akademischen Betrieb, jetzt sind die Autoren an der Reihe. Die Forschung ist also bei den 'staatsfernen Elementen' angelangt."

Weiteres: Beat Stauffer beschäftigt sich mit der Schwierigkeit in der Schweiz und in Deutschland, eine gemeinsame Repräsentanz der Muslime zu finden. Und Joachim Güntner informiert über die Zusammensetzung der deutschen Islamkonferenz.

Besprochen werden die Uraufführung von Unsuk Chins Oper "Alice in Wonderland" in München, das 31. Open Air St. Gallen, Südafrikas 2. internationale Buchmesse und Mascagnis "Cavalleria rusticana" im St. Galler Klosterhof.

FAZ, 02.07.2007

Der FAZ liegen Aufnahmeanträge von Martin Walser, Dieter Hildebrandt und Siegfried Lenz in die NSDAP vor, die Hubert Spiegel nur sehr vorsichtig kommentiert. Alle drei Autoren sagen, dass sie von diesen Anträgen nichts wissen, ähnlich wie vor zwei Jahren Walter Jens und Peter Wapnewski. Spiegel schreibt: "Die Mitgliedskarte, die Martin Walsers Namen trägt, ist eine Quelle, die auf den ersten Blick erhebliche Lücken offenbart. Aber selbst die vollständig ausgefüllte Karte hätte nur begrenzte Beweiskraft. Juristisch gesehen liegt eine Parteimitgliedschaft nur dann vor, wenn der Aufnahmeantrag unterschrieben und das Parteibuch ausgehändigt wurde. Er habe, sagt Martin Walser im Gespräch mit dieser Zeitung, nie einen Aufnahmeantrag gestellt, nie ein Mitgliedsbuch erhalten und auch nie an einer Aufnahmefeier der NSDAP teilgenommen."

Weitere Artikel: In der Leitglosse kommentiert Regina Mönch den Vorschlag des Neuköllner Bürgermeisters Heinz Buschkowsky, private Wachleute in Schulen anzuheuern, um die Gewalt an den Schulen zu reduzieren. Edo Reents ist soweit einverstanden mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis für Lutz Seiler ("Seiler gehört zu den fast schon altmodischen Autoren, die die Beschreibbarkeit äußerer Wirklichkeit als Herausforderung begreifen und mit nobler Sorgfalt bestehen"), nicht aber mit den zweiten und dritten Preisen etwa für Peter Licht (hier Seilers Text). Jürg Altwegg liest französische Zeitschriften, die sich noch mit den Folgen der Wahlen befassen. Gemeldet wird, dass Klaus-Dieter Lehmann von der Stiftung Preußischer Kulturbesitz als neuer Präsident des Goethe-Instituts vorgesehen ist. Oliver Jungen verfolgte die Tagung "Islam through Jewish Eyes - Judaism through Muslim Eyes" im Schloss Elmau.

Auf der Medienseite macht sich Michael Hanfeld Hoffnungen, dass die Politiker eine weitere Expansion der öffentlich-rechtlichen Sender im Internet blockieren. Auf der letzten Seite beobachtet Swantje Karich, wie die Mitarbeiter der berühmten Dresdner Porzellansammlung Tausende von Stücken katalogisieren, um sie vor neuen Ansprüchen des Hauses Wettin zu schützen. Martin Otto erinnert an den Begründer der modernen Urkundenlehre (auch Diplomatik genannt) Harry Bresslau, nach dem in Berlin ein Park benannt wird. Und Marta Kijowska porträtiert den unermüdlichen Vermittler zwischen deutscher und polnischer Literatur Albrecht Lempp, der in Krakau den Witold-Gombrowicz-Preis erhalten hat.

Besprochen werden das Berliner Konzert von Barbra Streisand ("Da singt eine Frau, die keines der 47 kräftezehrenden Jahre ihrer hart erkämpften Karriere leugnet", schreibt Dieter Bartetzko), die Uraufführung von Unsuk Chins Oper "Alice in Wonderland" in München, eine Lucas-Cranach-Ausstellung in London, Aaron Watkins "Dornröschen"-Choreografie in Dresden und Sachbücher.

Übrigens hat Olaf Sundermeyers Schmähartikel gegen Perlentaucher und Eurotopics vom Freitag im FAZ.net doch eher empörte Kommentare erhalten. Und auch in manchen Blogs wurde der Artikel kommentiert: "Die FAZ hasst den Perlentaucher", schreibt das Literaturcafe. "FAZ weint wegen Perlentaucher", meldet Der Dissident. Sehr vorsichtig dagegen das Altpapier in der Netzeitung.

TAZ, 02.07.2007

Für Dirk Knipphals geht der Klagenfurt-Preis an Lutz Seiler (mehr) in Ordnung, die Jury aber hätte in seinen Augen ruhig theoriefreudiger sein können. "Diese Jury konnte gut über einzelne Bücher diskutieren, über die Literatur als ganze aber nicht. Das mag ein Standardvorwurf gegen Klagenfurt-Jurys sein (und geht es nicht, beiseite, der Literaturkritik insgesamt ein bisschen so?). Diesmal war es aber besonders schade, weil er durchaus Ansatzpunkte für fruchtbare Kontroversen gegeben hätte. So hatte sich Ijoma Mangold, Literaturredakteur der SZ und neu in der Jury, offenbar vorgenommen, intelligent gebaute, in sich geschlossene Erzählformen gegen noch kursierende Avantgardeansprüche ins Recht zu setzen. Mit ihm auf der einen und Iris Radisch als Protagonistin der Kunstfraktion auf der anderen Seite hätte man gut darüber streiten können, ob Büchnersches Pathos wirklich noch als Referenzpunkt taugt."

Weiteres: Christiane Rösinger kolportiert in ihrer documenta-Kolumne das Gerücht, Peter Friedl habe die Idee zur ausgestopften Giraffe aus der Westbank von Ayse Erdmann gestohlen. Margret Fetzer resümiert einen Münchner Vortrag des postkolonialen Literaturwissenschaftlers Homi K. Bhaba über "Globalization and Ambivalence". Philipp Gessler will im Meinungsteil an den Privilegien der christlichen Kirchen in Deutschland keine Hand anlegen, bevor der Islam nicht ein wenig an sich selbst arbeitet.

Besprochen werden die neue Dauerausstellung des umgezogenen Werkbundarchivs in Berlin, die wieder aufgelegten Kolumnensammlung von Frieda Grafe "Ins Kino! Münchner Filmtips 1970-1986" und Michael Moores Film über das amerikanische Gesundheitssystem "Sicko".

Und Tom.

SZ, 02.07.2007

Ihr erster Besuch beim Wettbewerb in Klagenfurt führt bei Kristina Maidt-Zinke zu einem gewissen Ennui. Was gab's? "Weltekel und Solipsismus - nichts Neues in Klagenfurt. Beziehungsdesaster, depressive oder krebskranke Mütter, Familienneurosen, Kindheitserinnerungen (Kurt Oesterle), geriatrisches Elend (Björn Kern), eine bild- und tongestützte, scheinbar mediengenialisch wirre, aber letzten Endes biedere Performance (Jörg Albrecht), eine gewitzte Provinzposse (Martin Becker) und den zunächst dankbar aufgenommenen, dann doch ausgeschiedenen Kosmonauten-Selbstmord des milde humorbegabten Jochen Schmidt. Und? Noch mal hinfahren? Nun ja..."

Auf der Literaturseite präsentiert Johannes Willms die "definitive" Biografie zu Leni Riefenstahl. In dem bisher nur auf Englisch erschienen Buch räume Steven Bach mit der Selbststilisierung der Filmemacherin endgültig auf. Willms erscheint bald das Bild "eines weiblichen Monsters. Voraussetzung, mit diesem unbändigen Willen zur Macht zu reüssieren, war zum einen ein völliger Mangel an Empathie, eine Gefühls- und Seelenkälte, den Bach an einem frühen Beispiel illustriert. Walter Lubovski, ein junger Berliner Jude, der sich in Leni Riefenstahl, der er beim Schlittschuhlaufen begegnete, verliebte, wurde von ihr und einer Freundin derart gedemütigt und malträtiert, dass er sich während eines Besuchs im Ferienhaus von Riefenstahls Eltern die Pulsadern aufschnitt. Damit ihr Vater das Geschehen nicht bemerkte, wurde der Blutende von ihr einfach unter einem Sofa versteckt. "

Weitere Artikel: Dass der Focus auf NSDAP-Mitgliedskarten von Siegfried Lenz, Martin Walser und Dieter Hildebrandt gestoßen ist, sagt für Lothar Müller wenig darüber aus, ob die drei dabei waren oder eingetreten wurden. Elisabeth Kiderlen stellt die seit einem Jahr im Iran laufende Unterschriftenkampagne gegen die Benachteiligung der Frauen vor. Stefan Koldehoff trägt die Pläne der Eremitage in St. Petersburg weiter, zur Befriedung eines Restitutionsstreits auch im Iran ausstellen zu wollen. "Verschwenderisch" ist das Wort, das laut Johannes Willms am besten auf den renovierten Spiegelsaal in Versailles zutrifft. Jörg Königsdorf gefällt weder das Innere des neuen Festspielhaus in Aix-en Provence noch die von Simon Rattle und den Berliner Philharmonikern zur Einstimmung aufgeführte Walküre. Fritz Göttler schreibt zum Tod des taiwanesischen Filmemachers Edward Yang. Martin Walser äußert kurz seine Zufriedenheit mit Rainer Kaufmanns Verfilmung seiner Novelle "Ein fliehendes Pferd".

Besprochen werden die Eröffnung der Münchner Opernfestspiele mit einer "naiven" Inszenierung von "Alice in Wondernland" von Komponistin Unsuk Chin und und Regisseur Achim Freyer, ein Auftritt des Techno-Duos "Daft Punk" in Düsseldorf, Filme von Sam Fuller, Richard Linklater und Rudolf Thome auf DVD, und Bücher, darunter George Meredith' Roman "Die tragischen Komödianten".