Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
06.07.2007. In der FR wirft Perlentaucher Thierry Chervel der FAZ vor, sie benutze ihre Zeitung, um einen Konkurrenten bei seinen Auftraggebern anzuschwärzen. Die NZZ stellt eine 95-jährige Bloggerin vor. Die Berliner Zeitung freut sich, dass Warlam Schalamows "Erzählungen aus Kolyma" endlich auch auf Deutsch zu lesen sind. In der SZ ruft Al Gore den planetaren Notfall aus.  In der FAZ fordert der Biophysiker Stefan Klein seine Kollegen auf: Sprecht Deutsch!

FR, 06.07.2007

Der Perlentaucher antwortet in Person von Thierry Chervel auf den jüngsten FAZ-Artikel zu unserer Seite. "So schwärzt das größte Feuilleton der Republik ein kleines Unternehmen, das ihm nicht genehm ist, bei einem wichtigen Auftraggeber an. In einem Beistellkasten erwähnt man, dass man einen Prozess gegen dieses Unternehmen gewonnen habe. Dass man Partei ist in einem anderen Prozess gegen dieses Unternehmen, den man in erster Instanz verloren hat, erwähnt man an dieser Stelle nicht. Journalismus ist das nicht."

Weiteres: Daniel Kothenschulte sichtet ökologisch inspirierte Thriller, die in der Vergangenheit vor der Klimakatastrophe warnten - es sind nicht sehr viele. Christian Schlüter glaubt in der Times mager nicht, dass Popmusik viel mit Moral zu tun hat. Außerdem hat die FR heute ein Live-Earth-Klima-Special, u.a. mit einem Artikel von Al Gore und einem Interview mit Silbermondsängerin Stefanie Kloß und ihrem Drummer Andreas Nowak

Besprochen werden eine Ausstellung über die Skythen im Martin Gropius-Bau Berlin und eine Schau mit flämischen Meistern nach Rembrandt und Vermeer auf Schloss Wilhelmshöhe in Kassel.

NZZ, 06.07.2007

Sabine Pamperrien weist auf der Medienseite darauf hin, dass Bloggen kein Privileg der Jugend ist. So hat die 95-jährige Spanierin Maria Amelia von ihrem Enkel ein Blog geschenkt bekommen, das sie nun eifrig vollschreibt: "Ihre Erinnerungen reichen bis ins Jahr 1915 zurück." Gerti Schön berichtet von neuen Diskussionen in den USA über Gewaltdarstellungen im Fernsehen.

Im Feuilleton bekennt Andrea Köhler, dass Michael Moores neuer Film "Sicko" über das amerikanische Gesundheitssystem - "das teuerste und ineffizienteste der Welt" - großen Eindruck auf sie gemacht hat: "Moore ist dieses Mal nicht höchstpersönlich in die Hochburg der Mächtigen vorgestoßen; er hat allem voran die Misere der Benachteiligten und Betrogenen dokumentiert. Die Opfer der politisch sanktionierten Profitgier haben vor der Kamera die unmissverständliche Würde des echten Leids. Da ist der Mann, dem nur die Wahl zwischen zwei abgeschnittenen Fingern blieb (wobei diese nicht schwerfiel, weil das Annähen eines Ringfingers lediglich 12.000 Dollar, das des Mittelfingers aber 60.000 Dollar kostete), da ist die Frau, die ihr Kind verlor, weil sie vom Krankenhaus aus versicherungstechnischen Gründen fortgeschickt wurde."

Weiteres: Uwe Justus Wenzel erzählt von der "Erfahrung radikaler Kontingenz", die er in Kassel gemacht hat. Ursula Seibold-Bultmann hat das neu eröffnete von den Zürcher Architekten Barbara Holzer und Tristan Kobler entworfene Besucherzentrum "Arche Nebra" besucht. Marcus Stäbler stellt die französische Cembalistin und Dirigentin Emmanuelle Haim vor.

Besprochen werden John Neumeiers Tanzmärchen "Kleine Meerjungfrau" bei den Hamburger Ballett-Tagen, Beethoven- und Ligeti-Einspielungen des Artemis-Quartetts und Aufnahmen von Vladimir Ashkenazy.

TAZ, 06.07.2007

Auf der Tagesthemenseite erklärt der Migrationsforscher Michael Bommes, warum es nicht klug wäre, wenn die türkischen Verbände aus Protest gegen die geplante Heraufsetzung des Zuzugsalters bei der Familienzusammenführung aus dem Integrationsgipfel aussteigen: "Wer jetzt aussteigt, kann nachher nicht einklagen, dass die Versprechen des Gipfels Konsequenzen haben, dass daraus Entscheidungen werden, die wirklich zu besserer Integration führen."

Im Kulturteil möchte Wiebke Porombka nach einem Gespräch mit dem Lektor Gunnar Cynybulk nicht in den im Spiegel begonnenen Abgesang auf den Aufbau Verlag einstimmen. Ilona Lehnart fragt sich, ob die Giraffe "Brownie" auf der documenta unters Urheberrecht fällt. Auf der Medienseite berichtet Dorothea Hahn vom internen Aufruhr bei den zum Verkauf anstehenden französischen Wirtschaftszeitungen Les Echos und La Tribune. Besprechungen widmen sich der ersten Folge der Post-Punk-Anthologie Messthetics mit "Colossal Youth" der Young Marble Giants und das Album "Our Love To Admire" von Interpol.

Schließlich Tom.

Berliner Zeitung, 06.07.2007

Christian Esch berichtet von einer Tagung zu dem russischen Schriftsteller Warlam Schalamow, dessen große Werke vom Überleben im Gulag wie die "Erzählungen aus Kolyma" unbgreiflicherweise erst jetzt (bei Matthes und Seitz Berlin) auf Deutsch erscheinen: "Wie der Nationalsozialismus hat auch der Stalinismus eine Literatur von Überlebenden der Lager hervorgebracht, die die Vernichtung und Reduzierung menschlicher Existenz in Worte zu fassen versucht. Aber während Auschwitz unbestrittener Bestandteil des europäischen Gedächtnisses ist, gilt das für Kolyma, den 'Kältepol der Menschlichkeit' im Gulag (Solschenizyn), nicht; und so bekannt die Werke etwa von Primo Levi oder Imre Kertesz heute sind, so unbekannt ist Warlam Schalamow außerhalb seiner Heimat."

Auch die neue Ausgabe von Osteuropa ist Schalamow und dem Schreiben über das Lager gewidmet.

Welt, 06.07.2007

"Grundsätzlich haben Tocotronic selbstverständlich Recht", gibt Michael Pilz zu, hat die neue, von seelischer Hygiene und deutscher Gewissensqual gezeichnete Platte "Kapitulation" aber mit Bangen gehört: "Man fragt sich die ganze Zeit, mit wachsender Panik, ob man richtig lebt, und nicht, ob man die Platte mag."

In der Randspalte begrüßt Tilman Krause den "warmen Regen", den Kulturstaatsminister Bernd Neumann über die Kultur, vor allem die Stiftung Weimarer Klassik, niedergehen lassen möchte. Sven F. Kellerhoff diskutiert in einem anderen Text Neumanns Entwurf für ein neues Gedenkstättenkonzept der Bundesregierung, das unter anderem vorsieht, mittelfristig die Birthler-Behörde aufzulösen. Ulrich Kriest schreibt über Werner Herzog, dessen neuer Film "Rescue Dawn" diese Woche in den USA herauskommt.

Auf der Meinungsseite weist Klaus Schroeder vom Forschungsverbund SED-Staat auf einen Fall hin, wonach ein Schüler offenbar für einen Aufsatz abgestraft wurde, in dem er eine islamkritische Haltung einnahm.

Besprochen werden ein Konzert von Queens of the Stone Age in Berlin, die große Frida-Kahlo-Schau in Mexiko-Stadt und der heute auf Arte laufende Film "Der Novembermann".

SZ, 06.07.2007

Klimaretter Al Gore ruft im Aufmacher den planetaren Notfall aus und diktiert dem nächsten amerikanischen Präsidenten die erste Amtshandlung ins Stammbuch. "Die Vereinigten Staaten müssen sich im Laufe der kommenden zwei Jahre einem internationalen Abkommen anschließen, das den Abgasausstoß, der zur Erderwärmung führt, in den Industrieländern um 90 Prozent und in der übrigen Welt um mehr als die Hälfte reduziert: Dies muss so rechtzeitig geschehen, dass die kommende Generation eine intakte Erde übernehmen kann." (Hier das englische Original).

Weiteres: Filmregisseure suchen in NS-Gedenkstätten Authentizität, die Gedenkstätten wiederum fürchten die "Macht der Fiktion", stellt Sonja Zekri fest. Wenigstens durchkreuzt der mörderische Wettlauf um die erste Besprechung unter den Kinokritikern die PR-Pläne der Studios, kommentiert Susan Vahabzadeh die allererste Besprechung der in Japan gezeigten Harry Potter-Version in der Times. Christoph Kappes erlebt in Berlin eine von "Problemjugendlichen" aus "Paris93/BerlinNeukölln" gerappte Winterreise von Schubert. Gerhard Matzig imformiert über das seit langem erste deutsche Stadthaus aus Holz, das in Berlin errichtet wird. Der Theatermacher Jerome Savary verlässt die Opera comique in Paris und gründet mit 65 Jahren eine eigene Bühne, weiß Johannes Willms. Lothar Müller begrüßt es, dass der ehemalige deutsche U-Boot-Bunker in St. Nazaire zum Kulturzentrum umgebaut wird. Wolfgang Schreiber gratuliert dem russischen Pianisten und Dirigenten Vladimir Ashkenazy zum siebzigsten Geburtstag.

Auf der Medienseite berichtet Caspar Busse, dass der Bezahlsender Arena angeblich seine Rechte an der Fußball-Bundesliga an Premiere abgeben will.

Besprochen werden eine "grandiose wie erschreckende" Ausstellung der Fotokünstlerin Cindy Sherman im Berliner Martin-Gropius-Bau, eine "angemessene" Hommage an den Dichter Wolfgang Bauer im Grazer Stadtmuseum und Literaturhaus und Bücher, darunter Hilary Spurlings "differenzierte" Biografie von "Henri Matisse".

FAZ, 06.07.2007

Warum sprechen deutsche Wissenschaftler sogar auf Konferenzen in Deutschland Englisch? Der Biophysiker und Autor Stefan Klein findet das gefährlich: "... wie wollen sie Verständnis in einer Gesellschaft finden, mit der sie nicht einmal mehr die Sprache verbindet? Und werden wir bald auf Deutsch überhaupt nicht mehr über neue Forschungsergebnisse sprechen können, weil uns die Worte fehlen? Die Gesellschaft droht sich zu spalten zwischen den Nutzern einer Elitesprache und all den anderen, an denen die aktuellen Entwicklungen vorübergehen. Ob Deutsch eine Wissenschaftssprache bleibt oder nicht, ist darum keine Frage des Nationalstolzes. Es geht um viel mehr: um die Demokratie."

Weitere Artikel: Necla Kelek hofft, dass sich die Integrationsbeauftragte Maria Böhmer nicht von den türkischen Verbänden in Deutschland beeindrucken lässt, die gegen eine geplante Heraufsetzung des Zuzugsalters bei Familienzusammenführungen von sechzehn auf achtzehn Jahre protestieren. Eduard Beaucamp denkt anlässlich der documenta über das Geschick der Moderne nach, "noch in der Vergreisung Pubertät" vorzutäuschen. Wolfgang Schneider war dabei, als in Berlin-Moabit die Thomas-Mann-Büste enthüllt wurde. Andreas Kilb besucht das Restaurant "Peking-Ente" in der Berliner Voßstraße, weil dort kürzlich Barbra Streisand speiste. Jürgen Kesting gratuliert der Altistin Elena Obraszowa zum Siebzigsten, Eleonore Büning dem Pianisten Vladimir Ashkenazy ebenfalls zum Siebzigsten.

Auf der letzten Seite porträtiert Thomas Wagner den vermutlich neuen Direktor des Bonner Kunstmuseums, Stephan Berg. Der amerikanische Wissenschaftler Jared Diamond erklärt im Interview: "Wenn wir die großen Umweltthemen nicht lösen, sind wir erledigt." Auf der Seite 1 der FAZ drückt Patrick Bahners seine Genugtuung darüber aus, dass der "von den kommunistischen Barbaren geschaffene historische Zustand" des Berliner Schlossplatzes einem Fassaden-Nachbau des historischen Schlüter-Schlosses weichen muss.

Besprochen werden die Ausstellung "Im Zeichen des Goldenen Greifen" im Martin-Gropius-Bau in Berlin, eine Ausstellung mit Werken des Malers Emilio Vedova auf der Laguneninsel Sant'Erasmo (mehr hier) und Bücher, darunter ein Fotoband zur russischen Avantgarde-Architektur und ein bislang nur auf Englisch erschienenes Buch von Sylviane A. Diouf über die Geschichte der Africatown-Sklaven.