Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
02.08.2007. Die Welt begrüßt eine neue Generation von Theaterregisseuren. Die taz liefert eine ausführliche Ethnologie jamaikanischer Reggae-Typen. Die FR sehnt sich zurück nach dem nervenden ergreifenden Ernst der Bergmans und Antonionis. In der FAZ verabschiedet sich Wim Wenders in lyrischer Form von Antonioni.

Welt, 02.08.2007

Von der Öffentlichkeit noch kaum bemerkt stellt eine neue Generation von Regisseuren neue Fragen an das Theater, meint Matthias Heine, und nennt Namen wie Tilman Köhler, Roger Vontobel, Rafael Sanchez oder David Bösch: "Sie sind vom Altersgrößenwahn der Steins und Zadeks, die glauben, mit ihren Dichtern exklusiv auf Du und Du zu verkehren, genauso weit entfernt, wie vom Altrevoluzzertum der Gotscheffs, Castorfs oder Percevals, die mit jeder Aufführung wieder das ganze Theater und die Gesellschaft in Frage stellen. Und die Jungen von gestern, die Petras, Hartmann, Thalheimer & Co sitzen längst in Machtpositionen, wo sie oft schneller zynisch wurden als sie altern konnten."

Weitere Artikel: Peter Dittmar fürchtet um die Zukunft des Schweizermessers, nachdem der neue Auftrag von der Armee des Landes international ausgeschrieben wurde. Hendrik Werner macht in der Leitglosse auf eine neue Produktion der Neuköllner Oper aufmerksam, die das Leben Rudolph Moshammers als Musical erzählt. Hendrik Werner begibt sich zum 100. Todestag Paula Modersohn-Beckers auf Spurensuche in Worpswede. Sven Felix Kellerhoff unterhält sich mit dem Antisemitismusforscher Wolfgang Benz über die Ausstellung "Antisemitismus? Antizionismus? Israelkritik?" in Berlin. Auf der Kinoseite empfiehlt Peter Zander Oliver Rihs' ohne Förderung gedrehten rauen Berlin-Film "Schwarze Schafe".

Im Leitartikel des politischen Teils macht sich Eckhard Fuhr Gedanken über die Nachfolgefrage in Bayreuth. Ist Katharina Wagner nach ihrer "Meistersinger"-Inszenierung qualifiziert? "Der Stiftungsrat wird um die Nachfolgefrage nicht herumkommen. Man muss hoffen, dass Wolfgang Wagner so viel Einsicht aufbringt, kein Junktim zwischen seinem Abgang und einer Wahl Katharinas aufzubauen. Das Ende der wagnerschen Familienprivilegien könnte dann sehr schnell kommen."

Im Forums-Essay sagt der theoretische Physiker Freeman Dyson das Ende des Darwinschen Zeitalters an.

TAZ, 02.08.2007

"Slackness?" fragt Klaus Walter und liefert in seiner ausführlichen Ethnologie jamaikanischer Reggae-Typen auch gleich die Erklärung: "Schlampigkeit, Bummelei, Nachlässigkeit, Schlaffheit - so übersetzt das Wörterbuch. Im Jamaican English, wie es von den unteren Klassen auf der Insel gesprochen wird, steht Slackness für sexuell explizite Songtexte, für den Genuss, den das Aussprechen und Hören solcher Texte verursacht - und für ein ganzes Subgenre der Reggae-Geschichte. Entgegen einem weit verbreiteten Glauben sind Slackness-Lyrics keine Errungenschaft des Hiphop-affinen Dancehall-Ragga der Achtziger und Neunziger. In Jamaika wurden geschlechtliche Angelegenheiten schon immer beim Namen genannt, die poetisch camouflierende Umschreibung sexueller Handlungen hat sich hier nie durchgesetzt. Gewissermaßen ist die ursprüngliche Sublimierung unterblieben."

Weiteres: Michael Braun berichtet, dass gerade mehr als 700 italienische Intellektuelle dafür kämpfen, dass die Ermittlungen im Mordfall Pier Paolo Pasolini wieder aufgenommen werden. In der zweiten taz bereitet uns Ralf Sotschek auf "Jihad - das Musical" des New Yorker Regisseurs Evan Cabnet vor, das sich den islamischen Terror vorknöpft und nun beim Fringe-Festival in Edinburgh gezeigt werden wird.

Besprochen werden Todd Phillips Komödie "Der Date Profi", Michael Lehmanns Film "Von Frau zu Frau", Leopold Grüns Dokumentarfilm "Der rote Elvis" (den Jan Kedves ebenso klug wie verstörend findet) und Shinya Tsukamotos Horrorfilm "Nightmare Detective" auf DVD.

Und Tom.

NZZ, 02.08.2007

Nicht besonders begeistert ist Paul Jandl von Luk Percevals "Moliere"-Spektakel in Salzburg: "Luk Percevals Kompilation der Moliereschen Dramen gelingt das Kunststück, alles, was dort an subtilen Nebendiskursen läuft, zu unterschlagen. Der bei Moliere monströse, mit Blut durchpulste Körper der Gesellschaft ist bei Perceval nur noch ein schlapper Schwanz."

Thomas Christen schreibt in seinem Antonioni-Nachruf: "Es ist kein Zufall, dass immer wieder Antonionis Film-Enden zur Illustration des Besonderen, Typischen, Eigentümlichen dieses Regisseurs herangezogen werden. In ihnen kristallisiert sich der Wille des Regisseurs, seine Zuschauer zu aktivieren, ihnen einen Platz im Film und dem Film einen Platz im Leben der Zuschauer zu sichern. In seinem Essayband 'Bowling am Tiber' sinnierte Antonioni über das Problem des Zu-einem-Ende-kommen-Müssens und plädierte für ein nicht angeschlossenes Ende, das dem Film erlaube, sich jenseits der Fiktion in der Alltagswelt des Zuschauers einzunisten oder zumindest Spuren zu hinterlassen. Er zitierte Tschechow, der neue Schlüsse forderte und im Gegenzug eine neue Literatur versprach."

Für die Kinoseite wirft Christoph Egger einen Blick auf sechzig Jahre Filmfestival von Locarno. Und Elsbeth Gut Bozzetti sammelt italienische Reaktionen auf den Tod Antonionis.

Besprochen werden Bücher, darunter Alice Schwarzers "Antwort".

FR, 02.08.2007

Henrik Schmitz schreibt zum Verkauf des ehrwürdigen New Yorker Wall Street Journals an Rupert Murdoch. Das WSJ ist dabei nicht nur die US-Zeitung mit der zweithöchsten Auflage, sie verfügt auch über einen Kundenstamm von rund 730.000 zahlenden Online-Abonnenten aus Kreisen betuchter Manager. Das Internet ist Murdochs neuestes Hobby, hier sieht er die Zukunft. Unternehmen, die eine glorreiche Vergangenheit als Schutzschild gegen die Kräfte der Veränderung betrachteten, würden untergehen, hatte Murdoch unlängst gesagt. Andere sehen gerade in Murdoch den Untergang für das Wall Street Journal."

Harry Nutt schreibt über eine Reise in die westukrainische Stadt Lviv, einstmals Lemberg, die von der Zeit-Stiftung im Rahmen ihrer Sommerakademie "History Takes Places" ins Visier genommen wurde: "'Ach, Europa' denkt man unweigerlich beim Überqueren des Rathausplatzes, wo ein Mann mit nacktem Oberkörper über Stunden vom Fenster aus das Treiben unten auf der Straße beobachtet. 'Renaissance', flüstert das Stilbewusstsein, 'Habsburg", ruft eine es weniger genau nehmende Stimme zurück."

In Times mager greift Arno Widmann die New York Times-Nachrufe auf Bergman und Antonioni auf: "Kein Nachruf auf die beiden Toten macht so klar, wie nötig sie waren und wie bitter wir sie vermissen werden, wie dieser Versuch, sie als Gespenster eines finsteren, die Laune verderbenden Alteuropa zu betrachten, die unfähig gewesen seien, die Leichtigkeit des Seins zu akzeptieren."

Besprochen werden Leopold Grüns Dokumentarfilm über amerikanische DDR-Bürger und den Sänger Dean Read "Der rote Elvis" (den Daniel Kothenschulte zwar "höchst anregend", aber trotzdem "nicht ganz befriedigend" fand), Michael Bays Film "Transformers", ein Konzert von Placido Domingo im Kurhaus Wiesbaden, Annette Seemanns Biografie über die Herzogin Anna Amalia und das "Lexikon des Unwissens" von Kathrin Passig und Aleks Scholz (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Zeit, 02.08.2007

Die Zeit verabschiedet die beiden Helden des europäischen Kinos, Ingmar Bergman und Michelangelo Antonioni. Jens Jessen fasst den "epochalen Zufall", der die beiden grundverschiedenen Regisseure am gleichen Tag sterben ließ. "Auf jeden Fall stehen sich der katholische Süden und der protestantische Norden in dem Italiener und dem Schweden prototypisch gegenüber. Beide waren auf ihre Weise Erforscher der Moderne. Aber wo für Bergman alles Inhalt war, war für Antonioni alles Form. Wenn Bergman experimentierte, und das hat auch er manchmal getan, dann sollte es dazu dienen, die Geschichte besser zu erzählen. Wenn Antonioni experimentierte , und das tat er immer, dann wollte er die Geschichte gerade nicht erzählen, oder besser gesagt: vor einer Erzählung bewahren, die so tut, als gäbe es eine Wirklichkeit. Bergman wollte zur Wahrheit vordringen, Antonioni wollte zeigen, dass es diese Wirklichkeit nicht gibt und dass Wahrheit nur in der Vergeblichkeit besteht, mit der seine Figuren zur Wirklichkeit vorzudringen versuchen."

Weiteres: Ulrich Greiner würdigt in einem eigenen Text Ingmar Bergman und vor allem dessen Film "Wilde Erdbeeren": "Wer diese Bilder gesehen hat, wird sie nicht vergessen." Jessen reicht zudem den Nachruf auf den in der vorigen Woche verstorbenen Schauspieler Ulrich Mühe nach. Peter Kümmel tut sich auf den Salzburger Festspielen um, diesem "Beerenpflückerereignis von gewaltigem Ausmaß". Ulrich Stock stellt den Musiker Michael Fakesch vor, der sich aus Rosenheim aufgemacht hat, den Funk zu digitalisieren. Und Thomas Winkler schreibt über den somalischen Rapper K'Naan.

Bei Claus Spahn hat sich nach einer Woche Katerstimmung über Katharina Wagners Bayreuther "Meistersinger" breit gemacht: Nur noch hohl wirkt die Inszenierung mit all ihren "Demagogen und Knallchargen auf der Bühne". Stefan Koldehoff unterhält sich mit den drei Museumsdirektoren Reinhold Baumstark (München), Martin Roth (Dresden) und Peter-Klaus Schuster (Berlin), die sich auf der internationalen Bühne nicht länger Konkurrenz machen wollen, sondern ein zusammengenommen "ansehnliches Imperium des Kunstbesitzes" präsentieren. Ernst Falzeder feiert eine Sensation der Psychoanalyse: die jüngst aufgetauchten Tagebücher einer Patientin, die ihre Sitzungen bei Sigmund Freud protokolliert hat. Und Katja Nicodemus würdigt Michael Bays Blockbuster "Transformers" immerhin als "Triumph der Hirnlosigkeit".

Im Aufmacher des Literaturteils feiert Ulrich Greiner Alberto Vigevanis Erzählung "Sommer am See". Und für das Dossier wirft Wolfgang Büscher einen Blick auf die neuen Stars der florierenden Fotografie-Szene.

FAZ, 02.08.2007

Auf der Kinoseite erinnert sich der Regisseur Martin Scorsese an Michelangelo Antonioni, besonders an seinen Film "L'Avventura": "Mich faszinierten die neuen Filme, die aus Frankreich und Italien zu jener Zeit, aber 'L'avventura' beeinflusste mein Verständnis des Kinos unauslöschlich, und zwar als Zuschauer ebenso wie als Filmstudent. Der Film verlangte ein solches Ausmaß an Konzentration und Teilnahme, dass ich ihn mir einige Male ansah. Er forderte, auf ganz andere Weise erfahren und aufgenommen zu werden als alle anderen Filme, die ich kannte."

Außerdem ist da noch ein sich poetisch gebender Antonioni-Abschieds-Text von Wim Wenders - "Arrividerci; Maestro:

So traurig wie es war, zu erfahren,
dass du von uns gegangen bist,
so froh war ich doch, zu hören,
dass du in Frieden gegangen bist,
und so bewusst und klar
wie du es gewollt hast. (...)"

Das Filmblog Achteinhalb verlinkt auf ein Video von Scorsese über Antonioni und bringt übrigens auch den berühmten Schluss von "L'Eclisse" als Youtube-Video.

Außerdem auf der Kinoseite: Dirk Schümer und Robert von Lucius tragen schwedische und italienische Reaktionen auf den Tod von Ingmar Bergman und Antonioni zusammen. Und Andreas Kilb denkt in der Glosse über das Verhältnis von Hollywood-Stars und Berlin nach.

Im Feuilleton sieht Jordan Mejias mit der Übernahme des Wall Street Journal (Website) durch Rupert Murdoch weder das Ende der Welt noch der von ihm gekauften Zeitung gekommen. Andreas Platthaus referiert und glossiert kursierende Diskussionen zur befristeten Vergabe von Promotionsrechten an Universitäten. Wolfgang Sandner berichtet vom landesgrenzenlosen musikalischen "Festival Mitte Europa" in Sachsen, Böhmen und Bayern. Der Schriftsteller Reinhard Kaiser denkt anlässlich europäischer Rechtsvereinheitlichungen über Für und Wider des gesetzlichen Verbots der Holocaust- und allgemeiner der Völkermordleugnung nach - und neigt letztendlich zum Wider. Jürgen Kesting gratuliert der Sopranistin Gundula Janowitz zum Siebzigsten.

Auf der letzten Seite porträtiert Helmut Mayer die Literaturwissenschaftlerin und Leiterin des Berliner Zentrums für Literatur- und Kulturforschung Sigrid Weigel, die soeben die Ehrendoktorwürde der Universität Leuven erhielt. Konstantin Riffler schreibt über die Erfolge der Musikrichtung Reggaeton in Latein- aber auch in Nordamerika (Hörproben und mehr gibt es hier).

Besprochen werden eine Wiener Ausstellung zum Jugendstil-"Tausendkünstler" Koloman Moser, eine dem berühmten Reiterstandbildproduzenten Pietro Tacca gewidmete Ausstellung in Carrrara, Joachim Triers Film "Auf Anfang" und Bücher, darunter Keto von Waberers Erzählband "Umarmungen".

SZ, 02.08.2007

Lothar Müller sinniert aus aktuellem Anlass über die Milch - "in der sich von der Muttermilch über den Milchbruder bis zur Milchmädchenrechnung Ernährungsgeschichte, Sprache der Bibel und Volksmythologie durchdringen. Und die Butter ist wie das Salz, mit dem sie lange verbunden war und wie das Brot, mit dem sie sich in der frühen Neuzeit zum 'Butterbrot' zusammenschloss, ein zentrales Element dieser Mythologie. Seit dem Zeitalter der Französischen Revolution ist, nicht zuletzt deshalb, weil Ernährungsfragen stets zugleich Klassenfragen waren, das mythologische Erbe von Milch und Butter in die Realgeschichte des Bürgertums wie der Arbeiterbewegung in der Industriellen Revolution eingeschmolzen. Die 'gute Butter' war nicht nur Standessymbol gutbürgerlicher Küche, sondern zugleich Ziel von Forderungen nach Verteilungsgerechtigkeit. Die Subvention des - trotz verzweifelter sozialistischer Margarinereklame überaus hohen - Butterkonsums gehörte zu den nahezu unantastbaren Grundsätzen aller DDR-Regierungen."

Weitere Themen: Holger Liebs setzt sich mit Scientology-Verschwörungstheorien um den Doppelselbstmord des Künstlerpaars Jeremy Blake und Theresa Duncan auseinander. Oliver Geden schildert, wie sich die Schweiz gerade mit der Forderung eines Minarettverbots an die Spitze des europäischen Rechtspopulismus setzt. Stefan Koldehoff informiert, dass das Bundesamt für zentrale Dienste und offene Vermögensfragen auf einer Website 2300 Gemälde, Grafiken, Skulpturen und Kunstgewerbe veröffentlicht hat, die seit Ende der Nazizeit in Deutschland ohne nachweisbare Eigentümer, also Raubkunst sind. Jörg Häntzschel berichtet von Protesten gegen ein neues New Yorker Gesetz, das von allen, die auf New Yorks Straßen mehr als 30 Minuten lang fotografieren oder filmen wollen, eine schriftliche Genehmigung der Stadt und den Nachweis einer Haftpflichtversicherung in Höhe von einer Million Dollar verlangt. Hans Schifferle sieht auf dem 21. Münchner Fantasyfilmfest lauter bizarre Dienstleister des Todes am Werk und Wolfgang Schreiber gratuliert der Sopranistin Gundula Janowitz zum siebzigsten Geburtstag.

Besprochen werden ein überragendes Konzert des Pianisten Grigory Sokolov im Salzburger "Haus für Mozart", die Eröffnungsinszenierung "Le Salon" der Formation "Peeping Tom" der Reihe "Young Directors Project" bei den Salzburger Festspielen, die 14. "Rohkunstbau"-Ausstellung im Potsdamer Schloss Sacrow, Joachim Triers Spielfimdebüt "Auf Anfang" ("Punkrock und Heidegger, Partyexzesse und hochfliegende dichterische Ambitionen und tragische Schicksalslinien", freut sich Rainer Gansera), Jörg Kalts Wiener Abschluss-Film "Crash Test Dummies", Oliver Rihs Episoden-Film "Schwarze Schafe" und Bücher, darunter Volker Wittenauers Studie über die Sprache am Hof der Hohenzollern "Dienste der Macht" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).