Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
10.08.2007. Die NZZ fragt, ob nun auch bei der New York Times die Besitzerfamilie verdrängt wird. Die FAZ berichtet, dass das putinistische Regime in Russland nun auch wieder zum Mittel der Zwangspsychiatrisierung greift. Die FR bringt eine Weihnachtserzählung des kenianischen Autors Uwem Akpan.

NZZ, 10.08.2007

Auf der Medien- und Informatikseite untersucht Thomas Schuler die Frage, ob auch die Sulzbergers ihre Anteile an der New York Times aufgeben könnten, so wie es die Bancrofts im Dow-Jones-Konzern mit dem Wall Street Journal getan haben, und scheint recht zuversichtlich, dass es vorerst bei den jetzigen Besitz- und Einflussverhältnissen bleibt. Das Familienmodell habe ohnehin nicht ausgedient, "weil sich auch die News Corporation im Familienbesitz befindet. Genau wie die Washington Post und die New York Times schützt die Eigentümerfamilie Murdoch ihren Medienkonzern durch die Teilung in zwei Klassen von Stimmrechten und hält mit einem geringen Kapitalanteil den mehrheitlichen Teil der Stimmen."

Im Feuilleton plädiert der Philosoph Georg Kohler für ein starkes Mitspracherecht der Professorenschaft bei der Wahl eines Rektors und verweist auf die erfolgreiche Reform Universität Zürich. "Keine wirklich schlimmen Enttäuschungen" hat Alexandra Stäheli beim morgen zu Ende gehenden Filmfestival von Locarno erlebt. Hanspeter Künzler sucht nach Erklärungen dafür, dass es auch im Zeitalter der globalisierten Popwelt erfolgreiche amerikanische Bands gibt, die in Europa nicht ankommen und umgekehrt.

Besprochen werden eine Fotoausstellung, die 38. Rencontres de la Photographie in Arles, eine Ausstellung zur kroatischen Architektur im Ringturm in Wien und Bücher, nämlich die Tagebücher der Courtney Love, ein Buch über das Rolling-Stones-Album "Exile on Main St." und die Autobiografie von Motörhead Lemmy Kilmister (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Welt, 10.08.2007

Auf der Meinungsseite analysiert Adam Krzeminski die derzeitige Lage in Polen, wo die nationalkonservative Koalition ihrem Ende entgegen eiert und torkelt: "Die Opposition sitzt auch in einer Zwickmühle: Was liegt in ihrem Interesse? Warten, bis der Traum von einer autoritären, auf die persönliche Macht der Zwillingsbrüder zugeschnittenen Vierten Republik sich endgültig selbst diskreditiert und unwiederbringlich verweht? Oder doch dezidiert Neuwahlen anstreben, um die PiS entweder in die Opposition zu verdrängen oder in eine große Koalition mit der PO einzubinden und wieder zu besseren demokratischen und zivilgesellschaftlichen Gepflogenheiten zurückzuführen? Beide Varianten haben etwas für und einiges gegen sich. Die Kaczynski-Partei noch zwei Jahre lang im eigenen Saft schmoren zu lassen mag verlockend sein. Aber: 2008 werden routinemäßig drei Verfassungsrichter ausgetauscht."

Weiteres: Eckhard Fuhr widmet sich im Aufmacher des Feuilletons der neuen Familienliteratur, zu deren Vorreiter er unter anderem den FAZ-Redakteur Eberhard Rathgeb zählt. "Wenn Kinder geboren, wenn Eltern pflegebedürftig werden und sterben, ist der athletische Individualismus der Selbstverwirklichung am Ende. Er ist auch völlig uninteressant. Erst wer die vertikale Dimension der Generationenfolge spürt, erfasst das Leben in seiner ganzen Pracht, in seinem ganzen Elend. Menschen eines bestimmten Alters, sagen wir zwischen vierzig und fünfzig, bekommen heute die Vertikale besonders heftig zu spüren. Sie haben lange Zeit in ihren horizontalen Netzwerken gelebt, bekamen spät Kinder und müssen, während der Nachwuchs eigentlich die gesamte Aufmerksamkeit fordert, sich um ihre hoch betagten Eltern kümmern. Aus gelernten Individualisten müssen opferbereite Familientiere werden."

Jacques Schuster fragt, wie eigentlich jüdische Musik klingen soll, von der jetzt allenthalben zu hören sei, nachdem ebensolche in Hitlers Plattenkiste entdeckt worden sein soll. Berndt Volkert berichtet von dem in den USA sehr erfolgreichen Dokumentarfilm "No End in Sight" über den Irakkrieg, in dem frühere Verantwortliche wie Jay Garner, Richard Armitage oder Barbara Bodin zu Wort kommen." Manuel Brug unterhält sich mit Barbara Sukowa über Schubert und Schumann und ihre Liebe zum deutschen Lied. Uwe Wittstock schreibt zum Tod des Schriftstellers Ulrich Plenzdorf. Und der Kunsthistoriker Guido Hinterkreuser fordert, beim Wiederaufbau des Schlosses das Interieur zu rekonstruieren.

FR, 10.08.2007

Abgedruckt ist ein Auszug aus einer Weihnachtserzählung des nigerianischen Jesuiten und Autors Uwem Akpan. Hier der Anfang: "Es war Heiligabend nach Sonnenuntergang. Ein Donnerschlag weckte Mama auf. Sie erhob sich schwerfällig und ließ Maishas Truhe los, die sie im Schlaf festgehalten hatte. Es war ein marineblauer Schrankkoffer mit Messing verstärkt und auf Rollen. Mama tastete sich in einem Anfall von Panik von Wand zu Wand und fingerte zwischen dem zweijährigen gemischten Zwillingspaar, Otieno und Atieno, und Baba suchend herum. Alle drei schliefen, ineinander verknäult wie Hundewelpen. Mama wühlte in unserem Familienkarton, nahm Kleider und Schuhe heraus und auch meine neue Schuluniform, eingeschlagen in nutzlose Papiere, die Baba den Leuten aus der Tasche geklaut hatte. Sie förderte eine Dose New Suntan Schuh-Kleber zutage. Mama lächelte den Kleber an und zwinkerte mir zu, während ihre Zunge sich durch die Zahnlücken drückte..."

Weitere Artikel: Daniel Kothenschulte preist die Unberechenbarkeit des Filmfestivals von Locarno. Gemeldet wird, dass die Dresdener Waldschlösschenbrücke wegen eines Fledermausvorkommens vorerst nicht gebaut wird. Eva Schweizer schildert die Reaktionen auf den Mord an dem schwarzen Journalisten Chauncey Bailey in Kalifornien. Harry Nutt verabschiedet den Schriftsteller und Drehbuchautor Ulrich Plenzdorf. In einer Times mager kommentiert Hans-Jürgen Linke den Fund von Hitlers Schallplattensammlung.

Besprochen werden eine Frankfurter Ausstellung des Fotografen Jürgen Wiesner, der seit 25 Jahren in der Schwanheimer Düne fotografiert, und Ruth Klügers Lyrikinterpretationen "Gemalte Fensterscheiben" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

TAZ, 10.08.2007

In einem großen Essay in der New York Times hat Michael Ignatieff seine Unterstützung des Irak-Kriegs bereut, Robert Misik kann allerdings nicht nachvollziehen, warum Ignatieff zwischen denkenden Intellektuellen und handelnden Politikern unterscheidet. "Der neue politisch intervenierende Intellektuelle ist freilich eher ein intellektueller Politiker. Er weiß, im besten Falle, mehr als der normale Politiker über die Kompliziertheit der Welt und die Aporien sozialer Systeme, aber anders als der 'bloße' Intellektuelle trifft er am Ende des Tages auch seine Entscheidung: als Kommentator, als Ratgeber. Er ist gewiss anderen Anreizsystemen und völlig anderem Druck ausgesetzt als ein Politiker, aber 'at the end of the day' sind die Rollen so verschieden nicht."

Weitere Artikel: Im Interview mit Andreas Hartmann weist Tilo Wolff, Sänger der selbsterklärten Post-Gothic-Band "Lacrimosa", jede Deutschtümelei weit von sich. Dazu gibt es ein kleines Porträt der Gruppe, die als Protagonist der "Neuen Deutschen Todeskunst" gilt. In der zweiten taz erfährt Anke Lübbert von den Zuständen in der Ausländerbehörde in Malchin in Mecklenburg-Vorpommern, wo Antragssteller eingeschüchtert werden und Sachbearbeiter mit Pistolen zum Dienst erscheinen sollen.

Besprechungen widmen sich Rolf de Heers Film "10 Kanus, 150 Speere und 3 Frauen" und neuen Pop-CDs.

Schließlich Tom.

SZ, 10.08.2007

Im Interview mit Jonathan Fischer wirbt der ehemalige Senator und gegenwärtige Buchautor Tom Hayden für eine Lösung des Gangproblems. Seit 1980 hat es bei Auseinandersetzungen zwischen Jugendbanden 25.000 Tote gegeben, meint Hayden. "Dem Staat erscheint es billiger, die Ladenbesitzer zu versichern und mehr Polizei anzustellen, neue Gefängnisse zu bauen und auf die Gangmitglieder zu warten, wie Fische, die in das Netz schwimmen. Ein paar Jahre später werden sie entlassen und das Ganze fängt von Neuem an. An jedem beliebigen Tag sitzen allein in Kalifornien 200 000 Menschen hinter Gittern, die meisten davon jugendliche Gang-Mitglieder, die in diesem Käfig aufwachsen und alt werden."

Weitere Artikel: Alex Rühle macht eine Führung durch den einst weltgrößten Atommeiler Isar II (hier kann man Führungen durch das AKW in seiner Nähe buchen), und fühlt sich in der cremeweißen Beton-Optik an Tati-Filme erinnert. Jens Bisky schreibt den Nachruf auf den Schriftsteller und Drehbuchautor Ulrich Plenzdorf. Gottfried Knapp weiß nicht, ob er es für ein Wunder oder einen Witz halten soll, dass die Kleine Hufeisennase nun erstmal den Bau der Dresdener Waldschlösschenbrücke verhindert hat. Dirk von Gehlen sinniert über die permanente Kommunikation durch Handy und Internet, und verweist auf den vorläufigen Höhepunkt Twitter, wo Leute mehrmals am Tag melden, was sie gerade tun.

Besprochen werden eine Ausstellung mit Gemälden aus der Moskauer Tretjakow-Galerie in der Bonner Bundeskunsthalle, Giancarlo Del Monacos Inszenierung von Rossinis "Otello" auf den Opernfestspielen im italienischen Pesaro, Rolf de Heers "faszinierender" Film "Zehn Kanus, 150 Speere und 3 Frauen", und Bücher, darunter das von Studenten des Creative-Writing-Kurses in Hildesheim herausgegebene "Kulturtagebuch" mit Selbstbeobachtungen der Erstsemester, und John Haskells Roman "Amerikanisches Fegefeuer".

Im Medienteil fragt sich Caspar Busse, warum Springer-Chef Mathias Döpfner mit dem Kauf des Briefzustellers Pin der Post Konkurrenz machen will und meldet zudem, dass die Post nun an die Gründung einer Gratiszeitung nachdenkt.

FAZ, 10.08.2007

Kerstin Holm schildert den Fall der russischen Journalistin Larissa Arap, die nach Recherchen über die Zwangspsychiatrisierung von Jugendlichen selbst in einer psychiatrischen Klinik festgehalten wird, und sie spricht mit dem unabhängigen Psychiater Juri Savenko: "Vor Gericht dürfen heute nur verbeamtete Psychiater über die Zurechnungsfähigkeit von Angeklagten befinden, sagt Savenko. Unabhängige Psychiater wie er selbst werden zur Gerichtsmedizin nicht vorgelassen. Die 'Therapeuten' von Larissa Arap erklärten deren Tochter Taissia, die Patientin bedürfe einer langfristigen Behandlung und werde die Klinik vielleicht nie wieder verlassen."

Weitere Artikel: Patrick Bahners untersucht im Aufmacher die Frage, ob Scientology verboten gehört. Regina Mönch resümiert Diskussionen in den Bundesländern über ein "zentrales Zentralabitur". Sabine Brandt schreibt den Nachruf auf Ulrich Plenzdorf. Andreas Obst gratuliert dem Jethro-Tull-Flötisten Ian Anderson zum Sechzigsten. Lorenz Jäger verfolgt Debatten zum sexualkundlichen Unterricht in den USA und Deutschland. Latife Summerer und Alexander von Kienlin berichten über Münchner Wissenschaftler, die eine farbig bemalte Holzgrabkammer der Perserzeit wieder herstellen. Ernst Haiger liest in einem Briefwechsel zwischen Arnold Gehlen und Meta Hecht. Lorenz Jäger gratuliert dem Rechtshistoriker Klaus von See zum Achtzigsten.

Auf der Medienseite greifen Redakteure der FAZ Heinos Ankündigung, nach der Einstellung der "Lustigen Volksmusikanten" im ZDF einen Euro seiner Gebühren einbehalten zu wollen, in satirischer Weise auf.

Für die letzte Seite unterhält sich Angela Sandweger mit Meg und Jack White von den White Stripes. Und Dieter Bartetzko porträtiert die irgendwie schielende "Kleine Hufeisennase", die möglicherweise den Vorwand bietet, um die Dresdner Waldschlösschenbrücke nun doch nicht zu bauen.

Besprochen werden der Film "Dixie Chicks - Shut Up and Sing" und neue Sachbücher, darunter Neuerscheinungen zu Wittgenstein.