Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
21.08.2007. Die SZ lauscht der Poesie der Heuschrecken. Die taz zeichnet nach, wie aus Türken Moslems wurden. Die FR annonciert eine Rückkehr der Helden. Die Welt möchte nicht an eine fortschreitende Entwicklung der Sprache glauben. Die FAZ staunt über das effiziente Qualitäts- und Kostenmanagement der RAF. Und die NZZ fragt, was uns an den Nordpol treibt.

TAZ, 21.08.2007

"Nicht die Moschee, der Islam ist das Problem", hat Ralph Giordano kürzlich zur Debatte um die Kölner Moschee geschrieben. Sanem Kleff und Eberhard Seidel wundern sich auf der Meinungsseite, wie die Debatte seit dem 11. September peu a peu zu einer Islam-Debatte geworden ist. "Nicht der Islamismus, der Islam ist das Problem, lautet von nun an die Botschaft. Europäische Intellektuelle wie Pascal Bruckner, Ayaan Hirsi Ali und hunderte Journalisten in ihrem Schlepptau konstruierten in einer gemeinsamen Kraftanstrengung einen einheitlichen, homogenen, weltumspannenden und gewalttätigen Islam. Auf Deutschland konnte dieser neue, aus den Niederlanden herüberklingende Sound erst dann erfolgreich übertragen werden, nachdem aus Türken Muslime gemacht wurden und die Religion zu ihrem primären Identitätsmerkmal." (Ein Großteil der Debatte ist hier nachzulesen.)

Auf dem "Tanz im August" entwickelt Katrin Bettina Müller während des neuen Steve-Reich-Abends der Brüsseler Choreografin Anne Teresa de Keersmaeker eine Tanzsoziologie. "Je mehr Tänzerinnen und Tänzer auf die Bühnen kommen, desto komplexer wird das Muster aus Spiralen, die sie ineinanderschreiben, aus vorwärts und rückwärts gelesenen Bewegungsfolgen, aus ineinandergeschobenen Kreisen, Dreiecken und Sternen. Während der Aufbau der Musik und auch der Musiker und ihrer Instrumente immer auf Spiegelungen und Symmetrien hin orientiert ist, tendiert das Bewegungsbild zunehmend zu Schwarmqualitäten. In die Gruppe hineinlaufen und wieder hinaus-, sich mitziehen lassen oder der Gestalt des Ganzen eine neue Richtung geben: Dass von jedem Punkt in diesem Netz Entscheidungen ausgehen können, lässt die Tanzfiguren auch so hoffnungsvoll als soziale Modelle betrachten."

Weiteres: Helmut Höge findet in den Texten der Berliner Rapper recht wenig von der Berliner Realität wieder. Cord Riechelmann schreibt eine Hommage an den Zufall.

Besprochen werden eine Ausstellung über die Zusammenarbeit von Modemacher Jean Paul Gaultier und der Choreografin Regine Chopinot im Pariser Modemuseum sowie die Sommerausstellung "Brühlette Royale" des Vereins Freunde Aktueller Kunst in Zwickau,

Und Tom.

Welt, 21.08.2007

Die Welt bleibt unverlinkt, da sich im Internet noch keine Spur der heutigen Ausgabe findet.

Dankwart Guratzsch nimmt das Treffen von Sprachpflegern aus ganz Deutschland zum Anlass, die deutsche Sprachvergessenheit zu beklagen: "Während etwa die Franzosen das Französisch Molieres als unverändert gültige Hochsprache in Ehren halten, deren fließende Beherrschung ein Gebot der Vervollkommnung der Bildung ist, wird in Deutschland der Mythos einer fortschreitenden 'Entwicklung' der Sprache gepflegt, in deren Licht das verballhornende Werbedeutsch und die vermeintliche 'Jugendsprache' oder aber das Kreuzberger 'Missingsch' von deutschen und türkischen Brocken als 'Neudeutsch' einer multikulturellen Zukunftsgesellschaft erscheinen."

Weitere Artikel: Rüdiger Sturm porträtiert den Regisseur und Produzenten Bob Shaye, der das amerikanische Filmstudio New Line leitet. Hanns-Georg Rodek denkt am Beispiel des Films "Lady Chatterley" über Vorrechte von Kino und DVD gegenüber dem Fernsehen nach. Volker Tarnow berichtet vom 8. Jugendorchesterfestival "young.euro.classic".

Auf den Forum-Seiten fordern Rafael Seligmann und Detlef Prinz, dass der Holocaust "nicht alleiniger Bezugspunkt im deutsch-jüdischen Verhältnis bleiben" dürfe. Für die Gegenwart heißt das: "Zu einer lebendigen Beziehung, zumal einer derartig traumatisierten, gehört die belebende, permanente Auseinandersetzung. Israeliten und Nichtjuden sollten sich mitunter streiten wie in der Judenschul'."

Besprochen werden Karin Neuhäusers beim "Hellenic Festival" im Amphiteater von Epidauros aufgeführte Frankfurter "Orestie"-Inszenierung, Christoph Marthalers Inszenierung von Giacinto Scelsis "Sauser aus Italien", eine Platte mit virtuellen Duetten von Dean Martin und Popstars von heute, CDs mit von Gustavo Dudamel dirigierter Musik und ein Buch, nämlich Roberto Savianos Camorra-Recherche "Gomorrha".

SZ, 21.08.2007

"Im Bereich der quantitativen Hedgefonds wurden wir zu Gefangenen einer großen Welle des Hinunterhebelns", zitiert Thomas Steinfeld den Gründer des Fonds Renaissance Technologies, James Simons, im Aufmacher über die immer blumiger werdende "Poesie der Heuschrecken": "Der französische Romancier Stendhal soll im frühen neunzehnten Jahrhundert von einem Bankier gefordert haben: 'Il faut être sec, clair, sans illusion' - 'man muss trocken sein, klar, illusionslos'... Die Formel gilt für den modernen Bankier offenbar nicht mehr. Viele der Güter, mit denen er handelt, existieren, wenn überhaupt, erst in der Zukunft. Sie scheinen, wenn es darauf ankommt, keine härtere Deckung zu besitzen als die Psychologie von Hysterikern oder die Erfindungen von Poeten."

Weiteres: Vor dem Start der Messe Games Convention in Leipzig heißt Dirk von Gehlen Konsolen und Computerspiele in der Mitte der Gesellschaft willkommen. Beim Wettbewerb um die zu digitalisierenden "Hidden Treasures" aus britischen Bibliotheken stehen die Finalisten fest, meldet Alexander Menden. Wolfgang Schreiber gratuliert dem Komponisten Wilhelm Killmayer zum achtzigsten Geburtstag. "midt" schreibt den Nachruf auf den Münchner Schauspieler Richard Beek. Till Briegleb besucht das Rio-Reiser Haus in Berlin-Friedrichshagen, das als Kulturzentrum den alternativen Geist der "Ton, Steine, Scherben"-Kommune zu bewahren sucht.

Besprochen werden die Hunnen-Ausstellung im Historischen Museum der Pfalz in Speyer, die Konzertperformance "Sauser aus Italien. Eine Urheberei" bei den Salzburger Festspielen mit Musik von Giacinto Scelsi und szenischen Illustrationen von Christoph Marthaler, der Auftritt der belgischen Choreografin Anne Teresa De Keersmaeker beim Berliner "Tanz im August". Und Bücher, darunter Robert Blys Gedichte "Snowbanks North of the House - Schneewehen nördlich vom Haus" sowie Daniel Morats Untersuchung des konservativen Denkens bei Martin Heidegger, Ernst Jünger und Friedrich Georg Jünger "Von der Tat zur Gelassenheit" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

NZZ, 21.08.2007

Aus aktuellem Anlass zeichnet der Kulturhistoriker Thomas Macho die Geschichte der Polarexpeditionen nach und stellt fest, dass der Nordpol bereits im 19. Jahrhundert Schauplatz geo- und machtpolitischer Auseinandersetzungen gewesen sei. "Gute Gründe motivierten den Aufbruch zum Pol: die Demonstration von Macht und Prestige, die Suche nach neuen Seewegen, Ressourcen und Bodenschätzen, das militärische Interesse am Training der Truppen, das wissenschaftliche Bedürfnis nach einer Komplettierung der Weltkarten ohne weiße Flecken, ganz abgesehen von den inspirierenden Fragen meteorologischer, ethnologischer, psychologischer oder medizinischer Forschung. Alle diese konkreten Motive wurden jedoch stets überlagert von den Imaginationen der Literatur, von kollektiven Phantasien, Ängsten und Wünschen."

Weiteres: Christoph Fellmann besuchte das Festival Alpentöne in Altendorf, bei dem Volkskultur und Kunst aufeinander treffen. Beatrice von Matt sah die Ausstellung "Martin Walser und die Kunst" in der Städtischen Galerie "Fauler Pelz" in Überlingen. Georges Waser macht sich Gedanken über das Verhältnis von Gegenwartsliteratur und Kommerz, erinnert wird außerdem an den russischen Philosophen Iwan Iljin, der für Felix Philipp Ingold ein wohl "nicht ganz lupenreiner Demokrat" bleiben wird.

Besprochen wird ein ein neuer Aufsatz des Kulturphilosophen Konrad Paul Liessmann, der darin unsere Gegenwart in der Zukunft verortet sowie ein neuer Fotoband, der noch "unbekannte Seiten" von Marilyn Monroe zeigen soll.

FR, 21.08.2007

Die Berliner Kulturwissenschaftlerin Ulrike Brunotte indiziert eine gefährliche Renaissance des Helden. "Nicht allein die Religionen kehren auf die politische Bühne zurück, sondern auch die Heroen. Dabei scheint sich das Bedrohungsszenario, wie es Jünger mit dem Fall Langemarck entworfen hatte, ins Gegenteil zu verkehren: Waren damals die schlecht ausgerüsteten jungen Freiwilligen trotz gesteigerten Opfermuts und Kampfeswillen der maschinellen Übermacht von Kanonen und Maschinengewehren hilflos ausgeliefert, so vermögen heute bis zum Äußersten entschlossene Selbstmordattentäter allein mit ihren zu Waffen aufgerüsteten Körpern die kriegstechnisch hoch überlegenen westlichen Gesellschaften zu erschüttern. Aber in welchem Zusammenhang stehen neofundamentalistische Varianten von Religion und neuer Heroismus? Und wie, wenn überhaupt, hängen damit die Amok laufenden jungen Männer in den USA zusammen, die sich religiöser Rhetorik und gewalttätiger Actionfilm-Scripte bedienen, um ihre Männlichkeits-Krise tödlich zu agieren?"

Weitere Artikel: Gemeldet wird, dass die Zeitschrift ballet-tanz Sasha Waltz zur "Choreografin des Jahres" gekürt hat. Hans-Jürgen Linke kommentiert in einer Times-mager den Unfall bei den Dreharbeiten zum Stauffenberg-Film in Berlin.

Besprochen werden Christian Weises zur "Spaßparade" geratene Inszenierung von Shakespeares "Sommernachtstraum" bei den Salzburger Festspielen, eine Ausstellung "Luxus und Dekadenz" bei den Römern in Haltern am See, sowie Susanne Heinrichs Roman "Die Andere".

FAZ, 21.08.2007

Andreas Platthaus hat die nun anfragenden Medienvertretern zugänglich gemachten Urteile über die RAF gelesen. Nicht dass da ein mögliches Attentat auf Willy Brandt erwähnt wird ("nichts anderes als Protzerei"), findet er interessant. Erstaunlich wäre eher die innere Organisationsstruktur der Terrorgruppe - wenn sie war, wie das Urteil behauptet. Darin erscheine die RAF nämlich als "Organisation, die von ihren Angehörigen größte Flexibilität erwartete, die Gründung zahlreicher Niederlassungen im Ausland betrieb und dort reglmäßig ihre Gremien tagen ließ sowie ein effizientes Qualitäts- und Kostenmanagement etablierte". Kurzum: "Die RAF hatte zur Zeit des 'Deutschen Herbstes' 1977 die Strukturen multinationaler Konzerne unserer Tage bereits umgesetzt, und sie traf ihre Entscheidungen konsequent basisdemokratisch. Zusammengenommen ergäbe das die größte Überraschung: Zwei bislang für unvereinbar eingeschätzte Organisationsmodelle sollen auf jeweils mustergültige Weise von einer Terrorgruppe verkörpert worden sein."

Weitere Artikel: Volker Weiss berichtet, dass Rechtsextremisten über ein "taktisches Bündnis" mit den Islamisten nachdenken. In der Leitglosse erklärt Patrick Bahners anlässlich der Wehrpflichtdiskussion, dass man sich im 19. Jahrhundert auch eine Pflicht ohne Zwang vorstellen konnte. Kilian Trotier informiert über den "Gebühren-Rabatt nach IQ-Test" an den Unis in Freiburg und Konstanz, Gerd Roellecke über das "Studieren unter Exzellenzbedingungen" in Karlsruhe. Eleonore Büning gratuliert dem Komponisten Wilhelm Killmayer zum Achtzigsten. Erik Wegerhoff stellt das neue Museo d'Arte Contemporanea Donna Regina in Neapel vor. Kilian Trotier hat das ehemalige Stasi-Gefängnis in Magdeburg besucht, dessen Geschichte von ehemaligen Häftlingen aufgearbeitet wird. Catrin Lorch porträtiert die Kunstwissenschaftlerin Melanie Ohnemus, die nun gemeinsam mit Daniel Birnbaum das Programm des Portikus in Frankfurt leitet. Paul Ingendaay berichtet über einen Bob-Dylan-Coversong-Wettbewerb in Spanien.

Auf der DVD-Seite werden unter anderem Manfred Noas Stummfilm "Nathan der Weise" von 1922 und Claude Lelouchs "Der Gute und die Bösen" empfohlen (Regisseur Dominik Graf findet es angenehm, dass sich Lelouchs Filme nach Verzehr "in Luft auflösen").

Besprochen werden die große Balthus-Ausstellung im Kölner Museum Ludwig, Christoph Marthalers Salzburger Inszenierung von Giacinto Scelsis "Sauser aus Italien. Eine Urheberei", die ebenfalls in Salzburg aufgeführten Stücke "Wie ein herrenloser Hund" von Motus aus Rimini und "Lager" von Hotel Modern aus Rotterdam, eine Platte von Pablo Marquez mit Musik von Luys de Narvaez, Anna Mitgutschs Roman "Zwei Leben und ein Tag" und Politische Bücher (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).