Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
25.08.2007. In der FAZ singt Werner Spies eine Hymne auf Gerhard Richters Farbexplosion im Kölner Dom. In der NZZ feiert Cees Nooteboom den Maler Joachim Patinir, dem in Prado eine große Ausstellung gewidmet ist. In der Welt hält Daniel Kehlmann mit Martin Amis fassungslos Rückschau auf den dunklen Wahn des Stalinismus und der von ihm verzückten Intellektuellen. In der taz schimpft der amerikanische Soziologe Todd Gitlin ebenfalls auf Intellektuellenkollegen: zu liberal, zu schüchtern, zu verkrampft. Die SZ und die FAZ lesen Yasmina Rezas Buch über Nicolas Sarkozys Wahlkampf.

Welt, 25.08.2007

Voller Bewunderung schreibt Daniel Kehlmann in der Literarischen Welt über "Koba der Schreckliche", Martin Amis' Auseinandersetzung mit der sowjetischen Diktatur und ihren Bewunderern im Westen. "Ja, dies ist ein kämpferisches Buch, es ist aber kein Kampfbuch, und nichts wäre falscher, als Amis nun, post festum und lange nach dem zumindest vorläufigen Ende dieses Konfliktes, die wohlfeile Zuschreibung des 'Kalten Kriegers' anzuhängen. Ganz im Gegenteil, 'Koba der Schreckliche' ist eine fassungslose Rückschau auf den dunklen Wahn des zwanzigsten Jahrhunderts, durchpulst von der Verblüffung darüber, wie das Lagerdenken selbst die intelligentesten Menschen davon abhalten konnten, die simple Wahrheit des Massenmordes zu sehen. Es ist ein im besten Sinn anti-ideologisches Buch über die Komik des Schreckens und den Schrecken des Lachens."

Weiteres: Katharina Rutschky findet Ursula von der Leyens Familienpolitik kein bisschen radikal, sondern erzkonservativ. Tobias Gohlis verteidigt Andrea Maria Schenkels Krimi "Tannöd" gegen Plagiatsvorwürfe. Der Literaturwissenschaftler Hermann Kurzke nimmt heute in seinen Kanon Flauberts "Madame Bovary" auf. Und Tilman Krause hat die Schau mit den schönsten Franzosen aus New York besucht.

Besprochen werden unter anderem Michael Kleebergs "grandioser" Roman "Karlmann" über die achtziger Jahre, Michael Ondaatjes "pangäisches" Romanrätsel "Divisadero", Helmut Kaelbles "Sozialgeschichte Europas" (ein großer Wurf, findet Thomas Speckmann) und "Pazifik Exil", ein Roman von Michael Lentz über emigrierte deutsche Schriftsteller wie Brecht, die Manns und die Werfels, der laut Hendrik Werner "historische Akribie und schriftstellerische Einbildungskraft zwar weniger launig, dafür aber ungleich schlüssiger paart als beispielsweise Daniel Kehlmanns 'Die Vermessung der Welt'".

Im Feuilleton erklärt der Kunsthistoriker Klaus Honnef, warum Gerhard Richters Fenster für den Kölner Dom so gut passt. Mark Lederer berichtet von der Leipziger Games Convention. Laut Dankwart Guratzsch könnte die Dresdner Waldschlösschenbrücke doch noch verhindert werden - die Gefährdung der vom Aussterben bedrohten, absolut niedlichen Fledermausart Kleine Hufeisennase war im Planfeststellungsverfahren nicht ausreichend berücksichtigt worden! Der Kameramann Lutz Reitemeier erzählt im Interview von seiner Zusammenarbeit mit chinesischen Filmregisseuren. Matthias Heine erinnert an den Sex-Komödianten Rinaldo Talamonti ("Lass jucken, Kumpel"). Julika Pohle freut sich über die Rekonstruktion des Barockgartens von Herzog Friedrich III. in Schleswig. Besprochen wird die Uraufführung einer Moshammer-Oper in Berlin und Udo Scheers Biografie über Jürgen Fuchs.

Schließlich wird im Magazin die Serie im Jahr der Geisteswissenschaften fortgesetzt: Es unterhalten sich der Torhüter Jens Lehmann und die ehemalige Leistungsschwimmerin und heutige Historikerin Christiane Eisenberg.

TAZ, 25.08.2007

Der Soziologe Todd Gitlin geht im tazmag mit den liberalen Intellektuellen Amerikas hart ins Gericht. "Sie sind Stolz auf ihre Distanz zur Macht, wodurch ihre Kritik zu einer Art abstrakten Theologie wird. Man ist nicht politisch, und daher sind die Auftritte im öffentlichen intellektuellen Leben im Allgemeinen schüchtern und verkrampft. So ist es teilweise die Schuld der Intellektuellen selber, dass der bereits enge intellektuelle Raum im amerikanischen öffentlichen Leben wesentlich von anderen übernommen wird - von den Vertretern der so genannten Think-Tanks, die eher Propagandainstitute heißen sollten, von prominenten Sprücheklopfern und von Spezialisten, die faulen oder überarbeiteten Journalisten als professionelle Quelle dienen."

Außerdem findet sich im tazmag eine Fotoreportage von Bärbel Högner über das ehemalige architektonische Modellprojekt Chandigarh in Indien. Im Feuilleton dokumentiert Ulrich Gutmair eine Diskussion auf der Mailinglist nettime über die Banalität der anderen Blogs. Esther Slevogt schreibt den Nachruf auf den Schauspieler, Regisseur und Intendant Kurt Hübner.

Auf der Medienseite monieren Anett Keller und Juliane Schumacher die Unterdrückung von chinesischen Journalisten und Bloggern ein Jahr vor Olympia.

Besprochen werden das "großartig verwirrte" Album von Maya Arulpragasam aka M.I.A., die Aufführung von Karin Neuhäusers monumentaler Fünf-Stunden-Version von Aischylos' "Orestie" beim Hellenic Festival im Amphitheater von Epidauros, Carsten Fiebelers und Michael Boehlkes Filmdokumentation "Too much future" über Punks in der DDR, und Bücher, darunter eine vollständige Ausgabe der "Federalist Paper" von Alexander Hamilton, James Madison und John Jay sowie der von einem anonym bleibenden Autor verfasste Bericht "Wohin mit Vater? Ein Sohn verzweifelt am Pflegesystem" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

NZZ, 25.08.2007

Cees Nooeteboom legt in Literatur und Kunst einen Essay über den Maler Joachim Patinir vor, dem im Prado eine große Ausstellung gewidmet ist: "Riesengroß ist die Reklametafel, die vor dem Prado aufgestellt ist, um für die erste große Patinir-Ausstellung zu werben, die es je gab. Ich weiß, dass die Abbildung lediglich ein Teil des tatsächlichen Gemäldes ist. Charon fährt über den Styx, an Bord eine Seele, die er in die Unterwelt bringt. Auf dem Plakat ist das Tor zur Unterwelt nicht zu sehen, das düstere halbrunde Tor, durch das sie hineinfahren werden, auch nicht der dreiköpfige Höllenhund, der den Eingang bewachen muss, darüber die Flammen des Fegefeuers. Später werde ich im Museum vor dem Gemälde selbst stehen, einer jener Darstellungen, die sich ein für alle Mal einen Platz in der Bildergeschichte des Abendlandes erobert haben, wer es je gesehen hat, behält es für immer auf seiner Netzhaut."

Weitere Artikel in der Samstagsbeilage: Karin Schulze beschreitet das in Deutschland zur Zeit reich bestellte "Feld zwischen bildender Kunst und Bühnenkunst. Die wesentlichen Protagonisten dieses Genres sind Jonathan Meese, John Bock und Christoph Schlingensief." Karl-Markus Gauß erinnert an den Erzähler Gregor von Rezzori. Der Germanist Günther Stocker untersucht Lektüreszenen in der neueren Literatur. Und Markus Jakob liest einen nur auf französisch erschienenen Briefwechsel zwischen Catherine Pozzi und Paul Valery in Jahren 1920 bis 1928.

Im Feuilleton verspricht Paul Jandl einen rasanten österreichischen Literaturherbst mit neuen Büchern von Thomas Glavinic, Robert Menasse, Michael Köhlmeier, Peter Henisch, Sabine Gruber, Peter Truschner und vielen anderen. Marc Zitzmann unternimmt einen Streifzug durch das sommerliche Paris.

Besprochen werden eine Ausstellung des Fotografen Hiroshi Sugimoto in Düsseldorf, die neueste Nummer des stets noch existierenden Kursbuchs und Christoph Marthalers "Sauser aus Italien" und andere dem Komponisten Giacinto Scelsi gewidmete Ereignisse in Salzburg.

FAZ, 25.08.2007

Heute erscheint in Frankreich Yasmina Rezas Reportagebuch über Nicolas Sarkozys Wahlkampf. Jürg Altwegg hat es schon gelesen: "In ihren Aufzeichnungen finden sich kaum Werturteile, Kommentare, Kritiken. Sie bestehen aus spitz und knapp formulierten Beobachtungen, aus kleinen Szenen. Doch auch der Informationswert ihres Berichts ist beträchtlich. Denn in diesem Buch steht, was Sarkozy im engsten Kreis sagt und auch vor Journalisten 'off' von sich gibt. Die Schriftstellerin darf es als Einzige sagen. Weil der Literatur ohnehin niemand glaubt? Yasmina Reza betreibt mit ihrer Informationsfreiheit einen äußerst subtilen Umgang. Sie gewinnt das Vertrauen des Lesers, ohne jenes von Sarkozy zu verraten."

Werner Spies schreibt einen sehr persönlichen Essay über Gerhard Richters "Südquerhausfenster" (Bilder) für den Kölner Dom, eine abstrakte Farbkomposition, die jede fromme Aussage verweigert und heute mit einem Gottesdienst eingeweiht wird: "Er liefert ein gewaltiges Kaleidoskop, das alle nur denkbaren Stimmungen anbietet. Die Farbmaschine funktioniert mit einer solchen Heftigkeit, dass das Auge die Wirkung nicht zu stabilisieren vermag. Das Sehen wird völlig dem funkelnden Fenster ausgeliefert, es findet keine Möglichkeit zur Rettung aus dem irritierenden Spiel, Rettung, die üblicherweise das Gestaltsehen anbietet, das unbestimmte, redundante Strukturen zu domestizieren vermag. Etwas Unentrinnbares tut sich vor dem Auge auf, so als sei das Labyrinth, das wir von den steinernen Fließen auf dem Boden von sakralen Räumen kennen, hochgehoben und in die Wand eingelassen worden."

Weitere Artikel in einer reichhaltigen Samstagsausgabe: Gerhard Rohde hörte in Salzburg zum ersten Mal das Artemis Quartett in neuer Besetzung. "thom" stellt in der Leitglosse nach der Lektüre einer Nummer der Zeitschrift Kultur und Gespenster Sinnfragen. Jürgen Dollase besucht für seine Gastrokolumne das Fischereihafen-Restaurant in Hamburg. Gerhard R. Koch schreibt zum Tod der Mezzosopranistin Rosa Bampton. Jürgen Richter fragt nach der Zukunft eines verfallenden Industriebaus von Peter Behrens in Frankfurt. Wolfgang Zwickel schreibt zum Tod des Archäologen Volkmar Fritz.

Besprochen werden eine Ausstellung über die Flugpionierin Amelia Earhart in New York und Ereignisse des Helsinki Festivals.

Auf der Schallplatten-und-Phono-Seite geht's um eine Neueinspielung von Bachs Partiten durch den Geiger Christian Tetzlaff, um eine CD der Sängerin M.I.A. (laut Daniel Haaksmann ein "Meisterwerk politisch aggressiver Tanzmusik"), um eine Einspielung von Werken des Komponisten Nikolaus Brass, um den südafrikanischen Sänger Chris Letcher und um eine CD der norwegischen Folksängerin Sinikka Langeland.

Auf der Medienseite schreibt Sandra Kegel um eine neue Flut von Lady-Di-Fernsehdokus zum 10. Todestag. Maria Holzmüller schildert den Fall der Internetportals Akademie.de, das von der GEZ wegen des Gebrauchs des missliebigen Begriffs "GEZ-Gebühren" juristisch belangt wird. Für die letzte Seite besuchte Karen Krüger ein Festival mit wilder balkanischer und Roma-Blasmusik im serbischen Dorf Guca.

Bilder und Zeiten bringt neben Werner Spies' Essay über Gerhard Richter Nina Rehfelds Porträt des Autisten Kim Peek, der das Vorbild für den von Dustin Hoffman gespielten Autisten in "Rain Man" war. Jordan Mejias besucht Robert Wilsons Waldbühne in Long Island. Und Lorenz Jäger unterhält sich mit dem Autor Jürgen Schreiber, der eine Joschka-Fischer-Biografie vorlegt. Auf der Literaturseite werden Monika Marons Roman "Ach Glück" und ein Briefband von Nicolas Born besprochen (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

In der Frankfurter Anthologie stellt Walter Hinck ein Eginald Schlattner gewidmetes Gedicht von Matthias Buth vor - "Gemeinde:

In vollem Ornat geht er
Zu seiner Kirche in Rothberg..."

FR, 25.08.2007

Christian Schlüter stellt das neue Merkur Heft vor, in dem es um die Dekadenz des Westens geht. Marcia Pally schreibt kurz aber bitterböse über Anklage und Verurteilung von Jose Padilla, der wegen eines angeblich von ihm ausgefüllten Antragsformulars für ein Al-Qaeda-Ausbildungslager jetzt lebenslang hinter Gitter muss. In einer Times mager gibt Peter Michalzik das jetzt im Weltall entdeckte Loch zu denken.

Besprochen werden die Uraufführung von Bruno Nelissens (Musik) und Ralph Hammerthalers (Libretto) "Moshammeroper" in der Oper Neukölln, die Ausstellung "New York - States of Mind" im wiedereröffneten Haus der Kulturen der Welt in Berlin, Variationen über Waslaw Nijinskys Choreografie "Das Frühlingsopfer" beim Berliner Festival Tanz im August und Thomas Glavinics Roman "Das bin doch ich" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

SZ, 25.08.2007

Jörg Häntzschel streift durch das auch zwei Jahre nach der Überschwemmung deprimierend zerstörte New Orleans, lässt aber am Schluss immerhin einen kleinen Lichtblick zu. "Was bleiben wird, ist immerhin eine Möglichkeit von Zukunft, die schon vor Katrina völlig fehlte: Es gibt nun etliche Non-Profit-Initiativen in New Orleans. Das Musicians' Village, im Lower Ninth Ward etwa, ein von 'Habitat for Humanity' angestoßenes Selbsthilfeprojekt, das obdachlosen Familien hilft, zumindest einfache Häuser zu bauen. Doch Global Green, Architekturbüros wie Futureproof und das Massachusetts Institute of Technology haben ehrgeizigere Pläne. Sie verstehen den Wiederaufbau von New Orleans als rare Chance für einen Neuanfang. Als Gelegenheit, in einem Land, in dem seit der Hypothekenkrise Millionen neugebaute Villen im mediterranen Stil leerstehen, Niedrigenergietechniken, Solardächer und Brauchwasserrecycling einzuführen."

Weiteres: Christopher Schmidt erzählt anlässlich des deutschen Mangels an Ingenieuren eine Kulturgeschichte der Schraube. Sonja Zekri schildert die Querelen um das Deutsche Orient-Institut, das nach dem Willen der Stadt Hamburg in das German Institute of Global and Area Studies eingegliedert werden soll. In ihrem Buch über den Weg von Nicolas Sarkozy in den Elysee-Palast hebt die Schriftstellerin Yasmina Reza die "entwaffnende Vulgarität" des jetzigen Präsidenten hervor, notiert Rudolph Chimelli. Der Verein "Freunde der Großen Pyramide" will nahe Dessau-Roßlau eine bis zu 500 Meter hohe Pyramide aus Urnen bauen, meldet "schub". Fritz Göttler gratuliert Schauspieler und Regisseur Mel Ferrer zum Neunzigsten. Günter Kowa empfiehlt die Domschätze von Naumburg, Zeitz und Merseburg zur Besichtigung.

Im Medienteil proträtiert Juan Moreno Katrin Bauernfeind, die von Ehrensenf nun als Vertretung bei "Polylux" in der ARD ins Fernsehfach wechselt.

Besprochen werden die Uraufführung von Ralph Hammerthalers "Moshammeroper" in der Neuköllner Oper in Berlin und Bücher, Thomas Karlaufs Biografie Stefan Georges sowie Jens Sparschuhs Roman "Schwarze Dame" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

In der SZ am Wochenende stellt Alex Bohn den Parfümeur Serge Lutens vor. Außerdem besucht Harald Hordych Christian Schuller in seiner Kölner Oper für Kinder, die vielleicht bewirkt hat, dass die Zahl der Schülerabos für die große Kölner Oper seit Bestehen der Kinderoper um 1000 Prozent gestiegen ist. Abgedruckt wird eine Erzählung von Marica Bodrozic.