Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
03.09.2007. In der Gazeta Wyborcza analysiert Heinrich August Winkler die antideutschen Ressentiments in Polen und die Ich-Schwäche der Rechten. In der SZ beschreibt Sonja Margolina, wie Russlands orthodoxe Kirche auf Glauben, Moral und Vaterland statt individuelle Menschenrechte setzt. In der NZZ beobachtet Zafer Senocak den Aufbruch aus dem anatolischen Hinterland. Und in der Welt erklärt Gerhard Schulze rechts und links für überholt.

Weitere Medien, 03.09.2007

Der polnische Publizist Adam Krzeminski befragt in der Gazeta Wyborcza im Interview den deutschen Historiker Heinrich August Winkler zum verwickelten deutsch-polnischen Verhältnis. Während Krzeminski hinter den aktuellen Spannungen eine gewisse "Ich-Schwäche" bei der polnischen Rechten vermutet, meint Winkler: "Auf der polnischen Seite fällt es schwer, Gruppierungen zu ignorieren, die antideutsche Ressentiments schüren. Sie nutzen die Organisationen deutscher Vertriebener als ein Element im politischen Spiel... Wichtiger als nationalistische Ressentiments einiger polnischer Politiker scheint mir die Angst vor dem Verlust eines Teils der von Polen gerade wiedergewonnenen Souveränität zugunsten einer EU zu sein, die ein supranationaler Verbund von Staaten ist, die ihre Souveränität zum Teil gemeinsam, zum Teil sogar über supranationale Institutionen ausüben. Diese Ängste gibt es auch in anderen neuen Mitgliedstaaten der EU. Und die Altmitglieder sollten sehr behutsam mit diesen Ängsten umgehen. Deswegen finde ich auch, dass der Begriff 'europäische Verfassung' nicht wirklich durchdacht war. Er musste Widerstände nicht nur in Polen oder Großbritannien hervorrufen." (Das Interview ist bei der Gazeta Wyborcza komplett auf Deutsch zu lesen.)

NZZ, 03.09.2007

Der Schriftsteller Zafer Senocak hofft nach der Wahl Abdullah Güls zum türkischen Staatspräsidenten auf eine Europäisierung der Türkei. Ihr Weg zu einer offenen und demokratischen Gesellschaft sei allerdings nicht zuletzt aufgrund der nach wie vor rückständigen östlichen Regionen noch weit: "Die von oben autoritär angeordnete Moderne ist ein abgeschlossenes Kapitel. Die alte Elite, repräsentiert von Bürokraten und Militärs, hat abgewirtschaftet. Sie ist den Herausforderungen einer globalisierten Weltordnung nicht mehr gewachsen. Die Anatolier aber trauen sich etwas zu. Sie wollen einen höheren Lebensstandard, sie möchten ihre Städte verschönern. Sind sie aber auch bereit, ihre konservativen Traditionen zu verändern? Wahrscheinlich bleibt ihnen nichts anderes übrig. Dennoch haben sie eine lange Wegstrecke vor sich."

Weiteres: Martina Wohltat verbrachte einen Ballettabend am Opernhaus Zürich und wundert sich über Buhrufe aus dem Publikum. Peter Hagmann lauschte an zwei Abenden den Berliner Philharmonikern, die die zweite Halbzeit des Lucerne Festivals einläuteten und die "eindeutiger denn je auf dem Weg" seien, "ein Orchester unserer Zeit zu werden". Barbara Villiger Heilig besuchte die Schauspiel-Eröffnungs-Premiere des Luzerner Theaters, das Lars von Triers "Dogville" inszenierte. Christian Schlösser macht sich Gedanken über die niederländische Museumslandschaft. Die letzte Seite widmet sich ganz dem argentinischen Filmemacher Carlos Sorin, Geri Krebs befagt ihn im Interview und bespricht seinen neuen Film "El camino de San Diego".

SZ, 03.09.2007

In einem düsteren Bericht aus Russland beschreibt Sonja Margolina, wie sich die orthodoxe Kirche als Transmissionsriemen zwischen Regierung und Bevölkerung empfiehlt. "'Die orthodoxe 'Deklaration der Rechte und Würde des Menschen', die 2006 auf dem Weltkongress der russisch-orthodoxen Kirche in Moskau verabschiedet wurde, setzt den liberalen westlichen Menschenrechten 'höhere Werte' wie Glauben, Moral, Heiligtümer, Vaterland entgegen. Die individuelle Freiheit gilt nur in den Grenzen, die ihr von der traditionellen Moral und den historischen Religionen gesetzt sind. In der Öffentlichkeit wird nun diskutiert, ob die 'Sobornost' sich in Form eines Klerikalfaschismus durchsetzen wird, der sich bereits im Strafverfahren gegen die Ausstellung 'Vorsicht, Religion' zu Wort gemeldet hatte, oder als gemäßigtere Variante eines 'orthodoxen Kapitalismus'. Das hätte eine weitere Verstärkung der Xenophobie und blutige ethnische Konflikte zur Folge."

Nur leicht animiert verlässt Christine Dössel die Uraufführung von Roland Schimmelpfennigs "Das Reich der Tiere", besorgt von Jürgen Gosch am Deutschen Theater Berlin. "Schimmelpfennigs Stück, zoologisch betrachtet ein Riesen-Tröter mit eher stumpfem Zahn, bildet den Mittelteil einer 'Trilogie der Tiere', in der der Mensch dem Menschen ein Wolf, in seinem Inneren aber nur eine kleine Maus ist... Den Mittelteil, mehr kesser Dribbler als großer Wurf, würden wohl die meisten Regisseure als schnelle, grelle Farce und Musical-Parodie inszenieren, steckt ja doch viel Disney drin. Nicht so Jürgen Gosch. Der denkt gar nicht daran, etwas anderes als einen kapitalen Gosch-Abend daraus zu machen, und sei das Stücklein noch so mau."

Weiteres: Der Historiker Norbert H. Ott betont im Streit um die aus Deutschland stammenden Bestände der Biblioteka Jagiellonska in Krakau, dass es egal sei, wo Kulturschätze der Menschheit aufbewahrt würden. In Venedig guckt Susan Vahabzadeh Kriegerisches von Brian de Palma und Paul Haggis sowie Kapitalistisches von Ken Loach. Heribert Prantl spürt im Aufmacher, wie angesichts der mangelhaften Versorgung der Alten sich "Lebensangst" breitmacht in Deutschland. Dass Damien Hirst seinen Diamantenschädel nun selbst kaufen musste, ist für Stefan Koldehoff der mögliche Anfang vom Ende des Kunstbooms. In Bad Kösen wird das Erbe des NS-Architekten Paul Schultze-Naumburg bestenfalls dilettantisch verwaltet, schimpft Günter Kowa. Andrian Kreye sitzt mit sechs Wissenschaftlern auf dem Landsitz des Sachbuchagenten John Brockman in Connecticut und lauscht deren Plauderei über die Gentechnik. Jonathan Fischer trifft den 65-jährigen Soulsänger Joe Bataan, der demnächst in Hamburg und Berlin auftritt. Ralf Dombrowski erlebt auf dem dritten Punkt-Festival im norwegischen Kristiansand, wie der Live Remix zur eigenen Gattung wird.

Für die Medienseite besucht Marcus Jauer die Moderatorin Anne Will, deren Polittalk am Sonntag in zwei Wochen startet.

Besprochen werden Kwen Kapis' Komödie "Lizenz zum Heiraten" mit Robin Williams, neue DVDs mit Western von Budd Boetticher und "Der Stern von Afrika" mit Hansjörg Felmy, und Bücher, darunter György Konrads "Das Buch Kalligaro", Don und Petie Kladstrups Kulturgeschichte des Champagners sowie Peter Henischs Roman "Eine sehr kleine Frau" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Welt, 03.09.2007

Auf der Forum-Seite fragt der Soziologe Gerhard Schulze, was heute links, was rechts ist, findet aber, dass in der Moderne dieser Unterscheidung längst überholt ist - und sieht nur noch vernünftige Ziele wie "Vertrauen in die Fähigkeit der Menschen, sich selbst zu helfen. Bejahen ihrer Verschiedenartigkeit. Aufbrechen der politischen Korrektheitszwänge in den Diskursen über Energiepolitik, Hochschulförderung, öffentliche Sicherheit. Bei jedem dieser Stichworte hört man förmlich die Rechts-links-Falle zuschnappen. Sobald es wehtut, flüchten sich die Akteure wie Schlafwandler in dieses längst von der Moderne überrollte politische Schema. Wann werden sie aufwachen?"

Weitere Artikel: Die Welt druckt das Gespräch nach, das Adam Krzeminski für die polnische Zeitung Polityka mit Richard von Weizsäcker geführt hat (s. "Heute in den Feuilletons" vom Freitag.) In Venedig hat Peter Zander mit Paul Haggis' "In the Valley of Elah" den ersten Löwen-Favoriten gesehen. Michael Pilz hat Jack Kerouacs vor fünfzig Jahren erschienen Roman "On the Road" wiedergelesen - und kann auch seine eigene frühere Begeisterung nicht mehr recht begreifen. Reinhard Wengierek war bei der Trauerfeier für Ulrich Mühe. Matthias Heine hält anlässlich der Abschaffung der Raucherabteile ein Plädoyer für gesellschaftliches Abstandhalten und die Ausgrenzung von Problemfällen. Tilman Krause erinnert an den vor 250 Jahren geborenen "Goethe-Herzog" Carl August von Sachsen-Weimar-Eisenach. Alexander Cammann berichtet von einer Veranstaltung in Marbach, bei der Thomas Karlauf seine Stefan-George-Biografie vorstellte.

Besprochen werden Jürgen Goschs Uraufführung von Roland Schimmelpfennigs neuem Stück "Im Reich der Tiere" und das Choreografen-Duett "Maybe Forever" von Meg Stuart und Philipp Gehmacher zum Abschluss des Festivals "Tanz im August".

FR, 03.09.2007

Rolf-Bernhard Essig wird gleich im Eingang der Karl-May-Ausstellung im Deutschen Historischen Museum in Berlin in Stimmung gebracht. "Winnetou in vielfacher Gestalt empfängt den Besucher: eine arg stilisierte Bronzebüste von May-Freund Selmar Werner, ein lebensgroßer Pierre-Brice-Bravo-Starschnitt, das heroisch-historische Deckelbild für 'Winnetou I', Sascha Schneiders apotheotische Nacktversion und die nachdenkliche Michael Sowas. Dass es respektvoll, kritisch und augenzwinkernd zugehen wird, beweist ein Brief, in dem sich eine Gräfin bei May für Haare Winnetous bedankt. Der Autor beschwor zwar deren Echtheit, griff in seiner Not aber zu Pferdehaaren."

Weiteres: Johannes Wendland berichtet von der Wiedereröffnung der nun renovierten größten Synagoge Berlins und Deutschlands. Arno Widmann liest Yasmina Rezas Buch über Nicolas Sarkozy "L?aube le soir ou la nuit", in der sie den Politiker als Kunstfigur durch und durch beschreibt. In einer Times mager empfiehlt Christian Thomas den Schauerroman "Vathek" des Frühromantikers William Beckford als eines der fantastischsten Bücher der Weltliteratur.

Besprochen werden die "witzlose" Uraufführung von Roland Schimmelpfennigs "Reich der Tiere" im Deutschen Theater durch Jürgen Gosch sowie Urs Trollers Inszenierung von Euripides' "Medeia" als "erstaunliches Emanzipationsstück" im Kleinen Haus des Frankfurter Schauspiels.

TAZ, 03.09.2007

Cristina Nord sieht in Venedig lauter Western und redet mit Hartmut Bitomsky über seinen Dokumentarfilm zum "Staub", der morgen am Lido gezeigt wird. Am letzten Tag der Buchmesse in Peking erlebt Jörn Kabisch eine deutsche Delegation in gelöster Stimmung, die das Tsingtao-Bier auch mal aus der Flasche trinkt. Christine Rösinger fährt noch einmal zur documenta und bemerkt, dass der chinesische Künstler Ai Weiwei zum Liebling von Kunstmagazinen und Rentnern geworden ist. Detlef Kuhlbrodt verabschiedet sich vom Raucherabteil.

Und Tom.

FAZ, 03.09.2007

Gina Thomas stellt gleich drei neue britische Romane vor, die sich mit deutsch-englischen Geschichten im Zusammenhang mit dem Dritten Reich beschäftigen. Besonders problematisch ist Justin Cartwrights Roman "The Song Before It Is Sung", der das Verhältnis des deutschen Widerständlers Adam von Trott zu Solz und des britischen Philosophen Isaiah Berlin fiktionalisiert: "Ihm sei bewusst, wie sehr die Umstände ihn verpflichteten, zumindest dem Geist dessen treu zu bleiben, was er in London, Oxford und Berlin entdeckt habe, sagt Cartwright. Warum, fragt man sich dann, musste aus dem hessischen Sozialdemokraten Trott der mecklenburgische Junker Axel Graf von Gottberg werden, der, einem mystischen Deutschland-Bild verfallen, die britische Klischeevorstellung des adelig-preußisch-konservativen Widerstands verkörpert und noch dazu den Namen eines besonders üblen hinterpommerschen SS-Obergruppenführers trägt."

Weitere Artikel: In der Leitglosse denkt Paul Ingendaay aus aktuellem Anlass über den Umgang der Spanier mit ihren Toten nach. In Venedig hat Dirk Schümer neue Filme von Woody Allen und Claude Chabrol gesehen, die vor früheren Werken verblassen. Christian Schwägerl resümiert neue Diskussionen übers Stammzellgesetz. Angekündigt wird der auszugsweise Vorabdruck von Jürgen Schreibers Joschka-Fischer-Biografie, die Andreas Platthaus vorstellt. Irene Bazinger war, wie auch Tom Cruise, bei der Trauerfeier für Ulrich Mühe in der Berliner Schaubühne. Matthias Hannemann porträtiert die norwegische Sängerin Kristin Asbjornsen. Catrin Lorch war bei einer Kunstaktion Gustav Metzgers in Münster zugegen.

Auf der Sachbuchseite gibt es Rezensionen unter anderem zu Heinz Schlaffers Nietzsche-Studie "Das entfesselte Wort", zu Alan Weismans Gedankenspiel "Die Welt ohne uns", auf der zweiten Seite wird Carol Loeb Shloss' große Lucia-Joyce-Biografie rezensiert (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Besprochen werden die Hamburger Ausstellung "Haare" mit Fotografien von Herlinde Koelbl, die Karl-May-Ausstellung im Deutschen Historischen Museum in Berlin, Jürgen Goschs Berliner Uraufführung von Roland Schimmelpfennigs "Im Reich der Tiere", Urs Trollers Frankfurter Inszenierung von Euripides' "Medea" und ein Konzert des Gewandhausorchesters in Leipzig.