10.09.2007. Mit verhaltener Begeisterung nehmen die Feuilletons den Goldenen Löwen für Ang Lees "Lust, Caution" auf und sorgen sich ein wenig um die Zukunft der Biennale von Venedig. Die SZ verabschiedet sich von der Privatsphäre und schlägt das offene Existenzbuch des PC-Inhabers auf. Die NZZ durchquert mit dem Rad die Alpen. In der Berliner Zeitung beschreibt der zum Islam konvertierte Christian Hoffmann, wie er sich aus der Mehrheitsgesellschaft herauskatapultiert hat.Und in Spiegel Online rätselt Thea Dorn, welche Teufel in schwache Frauenleiber und Intendantenköpfe gefahren sein können.
FR, 10.09.2007
Der Goldene Löwe an
Ang Lee ist gut und billig,
meint Daniel Kothenschulte, der aber auch den Spezialpreis für
Nikita Michalkows "12" beklatscht, eine Neuauflage von Sidney Lumets Gerichtsfilm "Die zwölf Geschworenen" auf Russisch. "Kriminologisch folgt Michalkow dem Originalfilm von 1957 erstaunlich genau. Doch der junge Angeklagte, dessen Schicksal schon besiegelt scheint, als die Beratungen beginnen, ist ein
Tschetschene. Jedes Jurymitglied ist Repräsentant einer Schicht oder Volksgruppe: Neben dem aggressiven Taxifahrer sitzt ein Großindustrieller, der
georgische Arzt trifft auf den jüdischen Gelehrten. Was es hier nicht gibt sind Frauen, die allerdings schon Tarkowskij kaum tieferer Empfindungen für fähig hielt. Das letzte Bild zeigt einen Vogel, der es sich im warmen Sitzungszimmer bei reichlich Essensresten gemütlich gemacht hat. Draußen in der Freiheit tobt das Schneegestöber, und doch fliegt das
tapfere Vögelchen hinaus, sobald sich ihm ein Fenster öffnet. Es sind die deutlichsten Worte zur verhinderten russischen Demokratisierung, die man von Nikita Michalkow je wird hören können."
Weiteres: In ihrem Porträt des jungen
Chansoneurs Benjamin Biolay bemerkt Elke Buhr, dass der Nouvelle Chanson mittlerweile nur noch ein Vermarktungsargument ist. Christian Schlüter
mokiert sich in einer Times mager über ein Strategiepapier der CDU, in dem es unter anderem um die Kruzifixe in Klassenzimmern geht. Im
Deutschen Architekturmuseum sind nun Preisträger und Finalisten des europäischen
Mies van der Rohe Award 2007 zu sehen,
informiert Daniel Bartetzko.
Besprochen wird
Dimiter Gotscheffs Aufführung von
Heiner Müllers "Hamletmaschine" am Deutschen Theater in Berlin.
TAZ, 10.09.2007
Den
Goldenen Löwen für
Ang Lees "Lust, Caution"
unterstützt Cristina Nord vorbehaltlos (
hier die anderen Preisträger), und trotzdem kam sie in Venedig diesmal nicht auf ihre Kosten. "Im vergangenen Jahr hatten Marco Müller, der Direktor des Festivals, und sein Team eine glückliche Hand bei der Filmauswahl; in diesem war ihnen weniger Fortune beschieden. 23 Filme und einige viel versprechende Namen umfasste der Wettbewerb, viele Beiträge boten die Attraktionen gut gemachten
Hollywood-Kinos (etwa Paul Haggis 'In the Valley of Elah' und Tony Gilroys 'Michael Clayton'), einige stammten von Autorenfilmern, die auf viele Arbeitsjahre und ein großes Oeuvre zurückblicken, von Eric Rohmer, Ken Loach oder Youssef Chahine zum Beispiel. Das spricht nicht zwangsläufig gegen die einzelnen Filme, ergibt aber in der Summe einen gewissen
Mangel an Abwechslung."
Weitere Artikel: Ines Kappert
fasst eine Tagung zur "Politik der Angst" im Kalten Krieg am Hamburger Institut für Sozialforschung zusammen. Christian Rösinger
meldet sich von der langsam dem Ende entgegen gehenden
documenta. In der zweiten taz
beschreibt Jan Feddersen, wie der Philosoph
Erich Fromm die RAF taktvoll abblitzen ließ, als diese ihn für sich vereinnahmen wollte.
Naomi Klein hat neben ihrem neuen Buch über den Katastrophenkapitalismus in Toronto auch einen Kurzfilm vorgestellt,
notiert Felix Lee. Für ihre Wertschätzung der "Wertschätzung der Mutter" im Dritten Reich muss
Eva Herman nun den NDR verlassen,
berichtet Susanne Lang. Klaus Raab
stellt im Medienteil die
Jugendzeitschrift Spiesser vor, die nun bundesweit an Schulen ausliegt.
Die einzige Besprechung
widmet sich
Dimiter Gotscheffs Aufführung von
Heiner Müllers "Hamletmaschine" am Deutschen Theater Berlin.
Und
Tom.
NZZ, 10.09.2007
Die
Autorin Angelika Overath und ihr
Kollege Joachim Zelter sind mit dem Rad über die Alpen gefahren - und
berichten nun in einem gemeinsamen Text wechselweise von ihren Erfahrungen: "Ein Anstieg ist eine Frage von mentaler Balance und Rhythmus, ein Rhythmus von
Pedalumdrehungen und Atem. Es ist die Kunst der richtigen Gangwahl, das Herstellen von Leichtigkeit bei aller Steilheit. Eine Form von Meditation."
Weiteres: Marta Kijowska
gibt eine um Ausgewogenheit bemühte Einführung in Geschichte und Gegenwart des deutsch-polnischen "Beutekunst"-Streits um in Krakau befindliche ehemals deutsche Bibliotheksbestände. Als "überaus umstrittene" Entscheidung wird der Goldene Löwe in Venedig für
Ang Lees Film "Lust, Caution"
kommentiert. In der Serie zur "Kulturszene Kataloniens"
porträtiert Markus Jakob den
Netzkünstler Antoni Abad.
Gemeldet wird, dass der ägyptische Schauspieler
Amr Waked (
Foto) in seiner Heimat Ärger bekommt, weil er gemeinsam mit einem Israeli in einem Film auftritt.
Besprochen wird die
Uraufführung von
Peter Eötvös' Violinkonzert unter Pierre Boulez beim
Lucerne Festival.
SZ, 10.09.2007
In seinem Abgesang auf die
Privatsphäre kann Gustav Seibt eine gewisse Faszination für die neue Öffentlichkeit des Eigenen nicht verbergen. "Was liest ein Fahnder, der eine Online-Untersuchung vornimmt? Er blättert im
Existenzbuch des PC-Inhabers, verglichen mit dem sich ein Roman wie der 'Ulysses' von James Joyce wie eine leichte Novelle ausnimmt. Ein solches Konvolut von Textsorten, Bildern, fremden und eigenen Verlautbarungen hat noch kein avantgardistischer Roman riskiert. Dabei wäre die Konstruktion eines fiktiven PC-Inhalts für eine bestimmte erfundene Person an einem präzisen Datum ohne weiteres denkbar, ja man könnte ein solches Werk als CD-Rom wie ein Kunstwerk verbreiten, und diese Scheibe müsste noch mehr als der '
Ulysses' zum Spiegel unseres 'Weltalltags' geraten; es wäre ein Gesamtkunstwerk irgendwo zwischen Literatur, Medien-, Konzept- und Installationskunst."
Dimiter Gotscheffs Wiederauflage von
Heiner Müllers destruktiver "
Hamletmaschine" am Deutschen Theater in Berlin mit sich selbst in der Hauptrolle ist für Peter Laudenbach ein furioses Austreiben alter Geister. "Dass Gotscheff kein ausgebildeter Schauspieler ist, dass die Künste der feinen Nuancierung ihm so fremd sind wie Hamlet Hekuba, schadet diesem
unerschrockenen Selbstversuch seltsamerweise nicht. Ebenso wenig die Tatsache, dass man Gotscheffs Deutsch mit dem schwer rollenden Akzent seine bulgarische Herkunft mehr als deutlich anhört. Ein Nicht-Schauspieler spielt ein Nicht-Theaterstück, eine Text-Geröllhalde, in der Hamlet und Ophelia,
Charles Manson, Ulrike Meinhof und Inge Müller, die Ehefrau des Dichters, die sich umgebracht hat, umgehen wie Gespenster, ebenso, hinter vielen Masken, der Autor selbst."
Weiteres: Susan Vahabzadeh bedauert in ihrem Resümee von
Venedig, dass der Goldene Löwe schon wieder an
Ang Lee ging und nicht etwa an
Abdellatif Kechiches Familiengeschichte "La graine et le mulet", wo alleine eine halbe Stunde lang Mittag gegessen wird. Ab heute sind die gesammelten Ablehnungen des Verlegers
Alfred A. Knopf an Orwell und andere in
Austin einzusehen, meldet Volker Breidecker. Die Berliner Staatsoper unter den Linden hat für Reinhard J. Brembeck noch lange nicht das Zeug zur Nationaloper, der Bund lehne eine Übernahme deshalb mit Recht ab. Henning Klüver beschreibt die Beerdigung
Luciano Pavarottis. Willi Winkler hat sich auf einer Tagung im Hamburger Institut für Sozialforschung über die "Politics of Fear" des
Kalten Kriegs informiert.
Im Medienteil berichtet Thomas Urban, dass die polnischen Bischöfe sich jetzt öffentlich über den umstrittenen Sender
Radio Maryja in den Haaren liegen.
Besprochen werden Auftritte von
Edita Gruberova und
Mario Adorf bei der Ruhr-Triennale, Neuerscheinungen auf DVD wie Allen Coulters "Die Hollywoodverschwörung" mit Ben Affleck, und Bücher, darunter
Naomi Kleins neues weltweit heute erscheinendes Buch "Die Schock-Strategie - Der Aufstieg des Katastrophen-Kapitalismus" (für Robert Jacobi ein astreines Beispiel des "
doppelt verschanzten Dogmatismus"), Ross Kings Studie über den Ursprung der modernen Malerei im Paris des zweiten Kaiserreichs, sowie
Heike Geißlers "Nichts, was tragisch wäre" (mehr ab 14 Uhr in der
Bücherschau des Tages).
Berliner Zeitung, 10.09.2007
Im
Interview erklärt der
zum Islam konvertierte Berliner
Christian H. Hoffmann die Beweggründe für seine Entscheidung: "Aber im Protestantismus, in dem meine Familie tief verwurzelt ist, hat es für mich tatsächlich etwas gegeben, womit ich haderte. Es ist die
Vorstellung der Erbsünde gewesen, dass Gottes Sohn sündig auf die Welt kommt, das hat mich sehr belastet... Der Islam kennt keine Erbsünde, und irgendwann verstand ich, dass diese Religion das Kleid ist, das mir passt." Und er macht klar, dass seine Konversion von der Gesellschaft keineswegs akzeptiert wird: "Man meint sein Leben lang ganz selbstverständlich, sich in einer Gesellschaft der Menschenrechte, der freien Rede und der Toleranz zu befinden - und dann ist man
auf einmal auf der Seite der Minderheit und muss lernen, dass die Gesellschaft gegenüber Minderheiten gar nicht so ist, wie sie es immer von sich behauptet - und wie man es selbst geglaubt hat. Man wird wirklich
aus etwas herauskatapultiert, das war schon eine interessante Erkenntnis."
Welt, 10.09.2007
Uwe Schmitt
verdeutlicht am Beispiel der Kongress-Bibliothek Washington, dass bei der Aufbewahrung von Schriftstücken digital nicht immer besser ist: "Mit dem Paradoxon, die
Gutenberg-Galaxie verlassen zu müssen, ohne der Haltbarkeit digitaler Formate und Hardware trauen, also auf das Papier verzichten zu können, schlägt sich seit Jahren jede Staats- und Nationalbibliothek herum. Allen geht es zudem um Kriterien für elektronische Authentizitätssiegel und die Auswahl verwahrungswürdiger, zumal '
digital geborener'
Daten im Zeitalter ihrer
sintfluthaften Vermehrung durch das Internet. Was soll für die Nachwelt bewahrt, wie soll es verifiziert, wie vor Missbrauch geschützt werden?" Keine '
digitale Zauberei', so der Bibliotheksmanager William Le Furgy, könne sich bisher mit "der Haltbarkeit von Papierquellen messen, von
Steintafeln ganz zu schweigen."
Weiteres: Peter Zander
zieht die Bilanz eines "lauen" Jahrs beim
Filmfestival in
Venedig. Sven F. Kellerhof
äußert sich skeptisch zur Titelgeschichte des aktuellen
Spiegel, der zufolge die RAF-Spitze während ihrer Gefangenschaft von den deutschen Geheimdiensten
abgehört wurde, was den
Selbstmord von Baader, Ensslin und Raspe hätte verhindern können. "Überzeugende neue Belege" enthalte der Artikel nicht. Stefan Keim
war bei der Premiere der frisch renovierten
Rheinoper in Düsseldorf, die
Christof Nel mit Debussys "
Pelleas et Melisande" bespielt. Heike Kühn
sah "inspirierende Debütfilme" beim 31.
Festival du Films de Monde in Montreal. Matthias Heine
hat neue Erkenntnisse zum Tod von
Mark Weil, nach denen der Theaterregisseur von Islamisten ermordet wurde. Heine
porträtiert außerdem den Schauspieler
Dimiter Gotscheff, der in die Fußstapfen Ulrich Mühes treten soll. Regine Penitsch
berichtet im "Jahr der Geisteswissenschaften" über
Feldforschung im Sudan, Wieland Freund und Jeanette Neustadt
waren auf dem
Literaturfestival in Berlin, bei dem bisher vor allem
Robert Gray mit seinem Gedichtband "Schwindendes Licht" überzeugen konnte.
Besprochen werden außerdem DVDs, darunter eine
Box, die alle Regiearbeiten des amerikanischen Autors
Norman Mailer enthält, die
Dokumentation "
Frei: Gespielt" über die Karriere
Mehmet Scholls sowie der
Film "Feltrinelli" über Rätsel und Tod eines kommunistischen Milliardärs.
Spiegel Online, 10.09.2007
"Diejenigen, die schon immer den Verdacht hatten, der Teufel suche sich bevorzugt
schwache Frauenleiber und -hirne aus, um in diese hinein zu fahren, dürften sich dieser Tage bestätigt fühlen",
kommentiert die
Autorin Thea Dorn den neuesten Einfall
Eva Hermans, von der Familienpolitik der Nazis zu schwärmen: "Viel interessanter erscheint mir die Frage, welcher Teufel die Verantwortlichen beim NDR geritten hat, die publizistisch-rhetorischen Umtriebe ihrer Talk- und Quizshow-Moderatorin so geduldig mitanzuschauen. Denn bereits Eva Hermans medial hochgejazzter Bestseller vom letzten Herbst, 'Das Eva-Prinzip', hätte genug Anlass geboten, daran zu zweifeln, dass sich seine Autorin noch im ideellen Raum einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung bewegt."
FAZ, 10.09.2007
Michael Althen resümiert das
Festival von Venedig,
konstatiert, dass mit dem Goldenen Löwen für
Ang Lees "Lust, Caution" niemand richtig glücklich oder unglücklich ist, sieht aber
dunkle Wolken über dem Festival insgesamt heraufziehen: "Ob dem verschlafenen Charme der Badeinsel mit einem neuen Festivalpalast beizukommen ist, dessen Zukunft auch in den Sternen steht, ist fraglich. Andererseits liegt der Reiz des Festivals im Vergleich zum kreuzhässlichen Cannes und dem winterlichen Berlin halt genau in der
Nachbarschaft zur Melancholie, im wunderlichen Kontrast zwischen dem Kino auf dem Lido und der Kulisse jenseits der Lagune. Und wenn in Venedig schon alle Künste unter dem Dach der Biennale vereint sind, fragt man sich, warum das Filmfestival nicht mehr aus dem Dialog mit den jeweils gleichzeitig stattfindenden
Kunst- und Architektur-Biennalen macht. Darin läge nun wirklich eine Zukunft des Kinos."
Weitere Artikel: Hannes Hintermeier beklagt, dass die Umstellung auf die
achtjährige Gymnasialzeit in Wahrheit die "Einführung der Ganztagsschule über die Hintertür" bedeute. Arnold Bartetzky kommentiert den Umstand, dass die Leipziger
Nationalbibliothek angesichts des
gewaltigen Bücherausstoßes in Deutschland anbauen muss. Von
Ingo Metzmachers Saisoneröffnung mit dem
Deutschen Symphonieorchester Berlin berichtet Martin Wilkening. Jürgen Kaube sieht das derzeit führungslose Frankfurter
Max-Planck-Institut für Rechtsgeschichte in seiner
Existenz bedroht. Eine dem Werk von
Günter Grass gewidmete literaturwissenschaftliche Tagung in Liverpool hat Gina Thomas besucht. Jordan Mejias hat in amerikanischen Zeitschriften Diskussionen über die angeblich zu einflussreiche "
Israel-Lobby" in den USA gelesen. Eleonore Büning war auf dem
Kunstfest Weimar. Paul Ingendaay hat das
Stiertreiben von San Sebastian de los Reyes erlebt. Wiebke Hüster porträtiert die New Yorker Choreografin
Sarah Michelson.
Besprochen werden der
Norbert-Blüm- und
Peter-Sodann "Heimatabend" ("ein grenzenloser Witz über die zwei Kleindarsteller in ihrer
unverfrorenen Selbstgerechtigkeit" schimpft Irene Bazinger), und Bücher, darunter Petri Tamminens Roman "Mein Onkel und ich". Auf der
Sachbuchseite gibt es Rezensionen unter anderem zu
Richard Dawkins' Atheismus-Plädoyer "Der Gotteswahn" und zu Sharon Begleys Studie über die Neuroplastizität (mehr in unserer
Bücherschau des Tages ab 14 Uhr)