Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
28.09.2007. In der FAZ fragt der Romanist Jürgen Trabant, warum die Deutschen lieber Englisch sprechen, statt Deutsch zu bellen. Und Andrzej Wajda erinnert an das unrühmliche Verhalten des Westens nach dem Massaker von Katyn. Im Tagesspiegel kritisiert Seymour Hersh die heutige Journalistenschaft, die zugleich smarter und dümmer geworden sei. In der NZZ erinnert Stefan Weidner an den heute wieder stark gelesenen mystischen Dichter Maulana Dschelaleddin Rumi.

NZZ, 28.09.2007

Der Islamwissenschaftler Stefan Weidner erinnert zum 800. Geburtstag an den heute wieder stark gelesenen mystischen Dichter Maulana Dschelaleddin Rumi. "Als Begründer des Mevlevi-Ordens im türkischen Konya, dem die berühmten tanzenden Derwische entstammen, wird er in seiner Heimat bis heute wie ein Heiliger verehrt. Schon in schmucklosen Interlinearübersetzungen betört die bildkräftige Sprache seiner Gedichte; die persischen Originale sind reine Musik." Allerdings, so die Mahnung Weidners an die auf deutsche Klassiker fixierten deutschen Klassikerverlage, fehlt bis heute eine anständige deutsche Ausgabe des Dichters.

Weitere Artikel: Joachim Güntner stellt Romuald Karmakars Film "Hamburger Lektionen" vor. Franz Haas meldet, dass ein unbekanntes Dokument von Primo Levi in Yad Vashem gefunden wurde. Besprochen werden eine Ausstellung über Gärten der Antike in Florenz und eine Inszenierung von Beckett-Fragmenten durch Peter Brook in London.

Auf der Pop und Jazzseite geht's unter anderem um ein neues Album des Gitarristen Vinicius Cantuaria, um Bruce Springsteens Album "Magic" und um Simon Reynolds' Buch "Rip It Up and Start Again" über "Postpunk 1978-1984" (mehr hier).

Auf der freitäglichen Medienseite schreiben die Medienwissenschaftler Patrick Donges, Otfried Jarren und Martina Vogel über das immer innigere Verhältnis von Politik und Medien, auch in der Schweiz. Bruno Giussani berichtet über eine neue Art der Wahlkampfberichterstattung im "welschen" Magazin L'Hebdo: Man quartiert sich bei Politikern zuhause ein und schreibt darüber ein Blog. Sabine Pamperrien sieht die These, dass das Internet die politische Partizipation der Bürger fördere, durch die Realität nicht bestätigt. Und S.B. stellt eine Studie des Pew Research Center über die Themen von "Citizen Journalists" in den USA vor ("Hauptthema war das Apple-iPhone").

TAZ, 28.09.2007

Barbara Oertel unterhält sich vor den Wahlen in der Ukraine mit dem Autor Andrej Kurkow, der die Politiker der "Orangenen Revolution" scharf kritisiert und die Ukraine noch nicht reif findet für einen EU-Beitritt. "Europa hat genug eigene Probleme. Wichtig ist, dass Polen und Litauen weiterhin als Anwalt der Ukraine auftreten. Das reicht, um die europäische Idee in der Ukraine am Leben zu erhalten. In den nächsten 15 Jahren wird die Ukraine sowieso nicht so weit sein, um EU-Mitglied zu werden. Wir müssen Geduld haben und abwarten, wie die EU in fünfzehn Jahren aussehen wird. Dann wird sich zeigen, ob ein EU-Beitritt für die Ukraine erstrebenswert ist."

Im Kulturteil blättert Detlef Kuhlbrodt in einem Band, in dem "60 Sechziger über die 60er Jahre und was aus ihnen wurde" erzählen. In der zweiten taz verabschiedet Michael Stiller den geliebten Edmund Stoiber. Gemeldet wird, dass der Mordprozess gegen den Musikproduzenten Phil Specter vorerst aufgehoben wurde. Die Jury konnte sich partout nicht einigen. Besprochen werden das Album "Songs for Joy", auf dem Laien zu professioneller Begleitung selbstgeschriebene Lieder singen und Neil Jordans Film "Die Fremde in Dir" mit Jodie Foster.

Schließlich Tom.

nachtkritik, 28.09.2007

Sichtlich aufgekratzt ist Nikolaus Merck aus Robert Wilsons Inszenierung der Dreigroschenoper am Berliner Ensemble gekommen. "Abwärts allenfalls bis zum Knie beleuchtet, brillieren noch die abgefeimtesten Chargenspieler damit, sich Fuß einwärts, Fuß auswärts über die Bühne zu schieben, als seien sie jahrzehntelang in der Music Hall in die Bewegungslehre gegangen. Wie er die oft grau und ununterscheidbar wirkende Männerriege des Ensembles von der Finger- bis zur Fußspitze mobilisiert, ist vielleicht Wilsons größte Merite an diesem Abend."

FR, 28.09.2007

Christian Thomas nimmt Richard Meier in Schutz. Meiers Neubau für das Hans-Arp-Museum am Bahnhof Rolandseck sei alles andere als selbstbezüglich. "Auch dieser Meier-Bau ist eine metaphernfreie Zone, die als Hülle die Kunst inszeniert - es sei denn, man sieht in der Art, wie schmale Fenster einen Passepartout für den Steilhang bilden oder die monumentalen Fensterfronten ein gewaltiges Rheinpanorama aufreißen, die Methode vorsätzlicher Ablenkung. Hier, ein Austritt, dort ein liegestuhlschmaler Balkon. Auf einer Terrasse, wie in ein Panoramafenster gestellt, eine exponierte Arp-Skulptur, auf grauen Basaltsteinen, zum schweifendem Blick aufs Siebengebirge." Thomas fasst außerdem noch einmal die Querelen um den Hans-Arp-Verein und seine Nachgusspraxis zusammen.

Weiteres: Sacha Verna stattet dem amerikanischen Schriftsteller E.L. Doctorow, dessen neuer Roman "Der Marsch" jetzt auf Deutsch erscheint, einen Besuch in New York ab und weiß auch, warum Doctorow trotz seines stetigen Erfolgs eher mäßig bekannt ist. "Doctorows Werke sind wie Dresdner Weihnachtsstollen: etwas glanzlos vielleicht, aber lange haltbar und die besten unter ihnen sogar nach dem Ablaufdatum noch überraschend saftig." Nora Binder berichtet vom Frankfurter Lucas-Kinderfilmfestival. Hans-Jürgen Linke singt in einer Times mager ein Lob aufs Gewichtheben.

Besprochen werden Tatjana Gürbacas Inszenierung von György Ligetis Weltuntergangs-Oper "Le Grand Macabre" in Bremen und der Fotozyklus "An American Index of the Hidden and Unfamiliar" der Amerikanerin Taryn Simon im Museum für Moderne Kunst in Frankfurt.

Welt, 28.09.2007

Nur drei Artikel aus dem Welt-Feuilleton sind heute morgen online: Wieland Freund liest den letzten Band der "Tintenwelt"-Trilogie von Cornelia Funke. Hannes Stein zeigt sich beeindruckt von den ersten Teilen der monumentalen Ken-Burns-Doku über die Amerikaner im Zweiten Weltkrieg. Marion Leske begeht noch einmal das von Richard Meier entworfene Hans-Arp-Museum in Rolandeck.

Außerdem: Der bayerische Schriftsteller Georg M. Oswald kommentiert Edmund Stoibers Abgang. Veronica Ferres brilliert heute Abend in einem ARD-Film, in dem sie eine Mutter spielt, die als politische Gefangene von der Bundesrepublik freigekauft wird, während die DDR ihre Kinder zurückhält. Der Film basiert auf einem realen Fall, der in Realität allerdings schlimmer war als im Fernsehen, meint Peter Zander. Matthias Heine berichtet über den Streit um ein Theaterplakat in Köln. Thomas Lindemann stellt das neue Videospiel "Halo 3" vor, in dem man Außerirdische abknallen muss, und fürchtet zudem, dass es verfilmt wird. Alexander Cammann berichtet von der Verleihung des von den Blättern für deutsche und internationale Politik (könnte sich diese Zeitschrift nicht mal einen anderen Titel zulegen?) an Seymour Hersh vergebenen Demokratiepreises (alle Reden hier).

Besprochen wird ein Bildband, der die Möbel des Gartenreichs Wörlitz katalogisiert.

SZ, 28.09.2007

Cornelia Funkes mit einer halben Million Exemplaren startender finaler Band der Tintenwelt-Trilogie "Tintentod" enttäuscht Alex Rühle gewaltig. "'Tintenherz' und 'Tintenblut' unterschieden sich insofern kategorisch von 'Herr der Ringe' oder 'Harry Potter', als es eben keine externe Parallelwelt gab, irgendwo weit hinter dem Horizont des Realitätsprinzips, sondern eine 'literarische' Welt. Man musste nur emphatisch genug lesen, dann konnte man aus dem Hier und Jetzt in die grenzenlosen Räume hinter den Buchstaben und Wörtern gelangen. Dauernd kippte die Handlung von der Wirklichkeit in die Welt der Bücher und zurück. Jetzt aber, in 'Tintentod', wo sich alle 'eingelesen' haben in die Tintenwelt, fällt dieser flirrende Sprung zwischen Text und Wirklichkeit weg, nahezu alles findet nur noch 'drüben' statt. Die Tintenwelt selbst aber ist konventionellstes Fantasy-Setting: blutrünstiges Mittelalter, Ritter, bemooste Bäume, viele Tiere, übersinnliche Schwebeteilchen wie Elfen oder Todesengel."

Weiteres: Gustav Seibt schwärmt vom "großen" Essay Perry Andersons in der London Book Review of Books, in dem sich Anderson fulminant die Selbstgerechtigkeit der Europäischen Union vorknöpfe (siehe unsere Magazinrundschau vom 18. September). Dass Ralph Giordano den Heinrich-Heine-Preis für Zivilcourage erhält, stößt Dirk Gralmann, der Giordano beim Thema Islam eher dem "Brandstiftertum" nahe sieht, sauer auf. "Virtuos" und höchst originell, aber für ein Museum vielleicht ein wenig zu dominant, so kommt Gottfried Knapp Richard Meiers Arp-Museum am Bahnhof Rolandseck vor. Der russische Milliardär Alisher Usmanov hat mit der erzwungenen Schließung des kritischen Blogs von Craig Murray, dem ehemaligen britischen Botschafter in Usbekistan, den Zorn der Netzwelt auf sich gezogen, meldet Johannes Boie (mehr zur Vorgeschichte hier). Rainer Gansera resümiert das 55. Internationale Filmfestival im spanischen San Sebastian. Für ihr neues Ego-Shooter-Spiel "Halo3" (Trailer) hat Microsoft einen nie dagewesenen Marketing-Aufwand betrieben, stellt Christoph Koch fest. Arnd Wesemann berichtet vom Theaterfestival Steirischer Herbst in Graz, wo Kinder Eltern anklagen dürfen und ganze Theater als Skulpturen in der Stadt herumstehen. Die Erben der niederländischen Kunsthändler Nathan und Benjamin Katz fordern etliche Bilder zurück, notiert Siggi Weidemann. Johan Schloemann wohnt dem "Philosophicum" in Lech am Arlberg bei, das sich in diesem Jahr mit der Religion befasste. Auf der Literaturseite berichtet Florian Kessler vom Germanistentag in Marburg.

Besprochen werden Lars-Ole Walburgs "verschärfte" Inszenierung von Feridun Zaimoglus "Schwarzen Jungfrauen" am Wiener Burgtheater und Bücher, darunter Neil Beltons Roman "Ein Spiel mit geschliffenen Klingen" sowie eine "fesche" Geschichte der Musik von Christiane Tewinkel (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Berliner Zeitung, 28.09.2007

Matthias Kolb schickt eine Reportage aus Estland, das nach den Krawallen der Russen wegen der Verlegung eines sowjetischen Denkmals im April nach wie vor traumatisiert ist: "Noch fünf Monate später ist eine Mischung aus Wut, Trauer und Misstrauen zu spüren - sowohl unter den Esten als auch unter den Russen, die 30 Prozent der 1,3 Millionen Einwohner ausmachen. Schwelende Konflikte sind zu Tage getreten. Estland sucht nach Antworten, wieso es zur Eskalation kam - und wie es weitergehen kann."
Stichwörter: Estland

Tagesspiegel, 28.09.2007

Im Interview mit Rüdiger Schaper und Jacalyn Carley findet der investigative Reporter Seymour Hersh einige (auf auf die deutsche Lage zu übertragende?) kritische Worte über den Zustand der eigenen Branche: "Internet und Blogs verändern viel. Und den Zeitungen in Amerika geht es nicht gut. Das Internet zieht Werbung ab, was machen die Verlage? Sie schließen Auslandsbüros, entlassen Journalisten und schränken die Berichterstattung ein. Anstatt ihr Produkt attraktiver zu machen, ruinieren sie es. Die Journalisten tragen auch selbst Schuld. Wir sind reich und bequem geworden. Als ich in den sechziger Jahren anfing, hatte ich es mit hart arbeitenden Redakteuren zu tun, die nicht vom College kamen. Das waren schlaue Typen Heute sind die Journalisten zugleich smarter und dümmer."

FAZ, 28.09.2007

Och, die Deutschen! Nie machen sie halbe Sachen. Wenn sie Englisch lernen, darf es keine Zweitsprache sein, nein, es soll das Deutsche gleich ganz ersetzen. Das behauptet jedenfalls der Romanist Jürgen Trabant, der den Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg beim Wort nimmt. Günther Oettinger hatte 2005 in einem Interview seinen Schwaben das Englische als künftige Arbeitssprache prophezeit. Der Grund dafür ist nicht die Globalisierung, glaubt Trabant, sondern die deutsche "Sprachscham". Wenn wir alle Englisch reden, braucht sich kein Deutscher "mehr zu schämen, die Sprache Hitlers, diese gebellte Sprache, (leise) weiter sprechen zu müssen. Es entsteht dann schnell - das zeichnet sich ja ohnehin schon beim bildungsbeflissenen, ehrgeizigen deutschen Teil der Bevölkerung dieses Landes ab - eine neue, postnationale Sprachgemeinschaft auf dem Territorium des ehemaligen Deutschland, die wie die herrschende Klasse in Indien ein Teil der großen englischen Sprachgemeinschaft wäre. Damit wäre die historische Erinnerung, die an der (Nazi-)Sprache hängt, weitgehend getilgt." (Ach so. Aber sollten die Deutschen wirklich unfähig sein, Deutsch UND Englisch zu sprechen? Ist das vielleicht eine Besonderheit der "deutschen Seele", die Ingo Metzmacher gestern in der Zeit nicht so recht festzunageln wusste?)

Ob sein Film über das sowjetische Massaker an polnischen Offizieren in Katyn auch nichtpolnische Zuschauer interessieren wird? Das sollte er, meint der Filmregisseur Andrzej Wajda im Interview, da "Katyn auch eine Sünde des Westens war. Was hat Churchill damals zu General Sikorski gesagt? 'Wenn Sie diese Offiziere nicht ins Leben zurückrufen können, wovon sprechen wir dann?' Für ihn war dieser Mord nur eine Episode. Es war auch eines der vielen Zugeständnisse, die England und Amerika an Stalin machten, um mit seiner Hilfe den Krieg zu gewinnen."

Weitere Artikel: Michael Hanfeld empfiehlt die Erinnerungen von Pascal Khoo Thwe, "From the Land of Green Ghosts", der 1991 von einem englischen Professor aus Burma geschmuggelt wurde, nachdem er zwei Jahre gegen die burmesische Armee gekämpft hatte. Die Tatsache, dass eine Figur in Cornelia Funkes heute erscheinendem Roman "Tintentod" ein Buch umschreibt, bringt Tilman Spreckelsen ins Grübeln. Thomas Thiel zeigt ein gewisses Verständnis für die Dickfelligkeit, mit der Radprofi Andreas Klöden Doping-Vorwürfe abwehrt: Medikamentenmissbrauch zum Zwecke der "Selbstoptimierung" gebe es schließlich auch in Kunst, Wirtschaft und Gesellschaft. Joachim Müller-Jung berichtet von einem Treffen deutscher Wissenschaftsfunktionäre und -politiker mit ausgewanderten deutschen Akademikern in San Francisco, denen Jobs in Hülle und Fülle versprochen wurden. Andreas Rossmann begutachtet das neue Hans-Arp-Museum in Rolandseck und bezeichnet Architekt Richard Meier als "gehobenen Konfektionär". Oliver Jungen berichtet vom Abschluss des Germanistentags in Marburg. Gerhard R. Koch sucht das "Norwegische" an Edvard Grieg, der vor 100 Jahren gestorben ist. Rose-Maria Gropp und Brita Sachs melden, dass die Herzog von Sachsen-Coburg und Gotha'sche Stiftung für Kunst und Wissenschaft in London 5 Bände der Ottheinrich-Bibel versteigern lassen will.

Besprochen werden Neil Jordans Film "Die Fremde in Dir" (Jodie Foster spielt hier einen weiblichen Travis Bickle, meint Verena Lueken) und Bücher, darunter ein bisher nur auf Englisch erschienener Band über die Associated Press.