Heute in den Feuilletons

"Deutschland entwestlicht sich"

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
01.10.2007. Der indische Autor Amitav Ghosh erklärt in der Sonntags-FAZ, warum ihm die Unruhen in Burma Hoffnung machen. Die Welt stellt eine beunruhigende Diagnose: Deutschland entwestlicht sich. Die FR findet: Auf dem Art Forum Berlin gibt's Qualität zu sehen. In der SZ beschreibt der amerikanische Religionshistoriker Philip Jenkins den zunehmenden Einfluss evangelikaler Kirchen in Europa. In der NZZ gratuliert Luc Bondy seinem Kollegen Peter Stein zum Siebzigsten.

NZZ, 01.10.2007

Luc Bondy höchstpersönlich gratuliert Peter Stein zum Siebzigsten und kritisiert nebenbei die undankbaren Deutschen: "Die deutsche Presse also ging ab einem bestimmten Punkt auf Stein los. Vielleicht provozierte seine Persönlichkeit, welche Unabhängigkeit ausstrahlt. Das mag man nicht."

Der in Schanghai lebende Staatswissenschaftler Matthias Messmer schickt einen Reisebericht aus Burma, der noch vor den Unruhen geschrieben wurde. Den Schrecken der Diktatur verschweigt er nicht, findet aber, dass sie zumindest für Außenstehende auch ihre lauschigen Seiten hat: "Das buddhistische Land ist eine Kur für solche, die Sehnsucht nach einem anderen Takt verspüren, die aus der Welt des Konsums und des Zeitdrucks auszubrechen wünschen. Burma gestattet wenn nicht einen völligen Ausstieg, dann zumindest die Illusion, dass ein solcher in der globalisierten Gesellschaft von heute doch noch möglich ist."

Weiteres: Markus Jakob porträtiert in der Reihe "Kulturszene Katalonien" den Kabarettisten Angel Pavlovsky. Axel Christoph Gampp erinnert an den Architekten und Theoretiker Architekten Iacomo Barozzi da Vignola, der in diesen Tagen 500 Jahre alt würde. Marta Kijowska berichtet über Vorbereitungen zur Feier des achtzigsten Geburtstags von Günter Grass in Danzig und schildert gleichzeitig die Faszination der Polen für sein Werk. Besprochen werden der Ballettabend "Italian Touch" in Basel und Werner Düggelins Inszenierung von Molieres "Don Juan" in Zürich.

Welt, 01.10.2007

"Deutschland entwestlicht sich, schleichend zwar und auf leisen Sohlen, dafür aber beständig", beklagt Jacques Schuster auf der Meinungsseite und erklärt sich den wachsenden Antiamerikanismus in Deutschland auch mit einem Unbehagen an der Freiheit und dem Liberalismus: "Seit Beginn der Neunzigerjahre verliert die Freiheit zugunsten der Gleichheit und sozialen Sicherheit in den Umfragen beständig an Boden. Gaben 1976 noch fast zwei Drittel der Westdeutschen der Freiheit den Vorrang vor der Gleichheit, waren es 1997 nur noch 45 Prozent. Sechs Jahre später stimmten auf die Allensbach-Frage, was wichtiger sei - Freiheit oder soziale Sicherheit, nur noch 36 Prozent der Westdeutschen und 24 Prozent der Ostdeutschen für die Freiheit."

Weitere Artikel: Stefan Grund blickt erschüttert auf die "dramatische Kluft", die sich in Hamburg zwischen dem erfolgreichen Thalia Theater und dem Deutschen Schauspielhaus auftut. Manuel Brug kann die Entscheidung nicht ganz nachvollziehen, Berlins Komische Oper zum Opernhaus des Jahres zu küren. Sven Felix Kellerhoff erinnert an Freiherr von und zum Stein, der vor zweihundert Jahren die Regierung von Preußen übernahm und Reformen einleitete. Wieland Freund unterhält sich mit der Bestseller-Autorin Cornelia Funke über den Abschluss ihrer Tintenherz-Trilogie. Thomas Lindemann erklärt, was das Science-Fiction-Computerspiel "Halo3" so erfolgreich macht: "Im Missverhältnis zur Komplexität der Story steht das Spielprinzip: Vorwärts und Schießen."

Besprochen werden Falk Richters und Jörn Arneckes Uraufführung der Oper "Unter Eis" bei der Ruhrtriennale und das neue Album "Shotter's Nation" der Babyshambles.

FR, 01.10.2007

Auf das Motto "About Beauty" kann Elke Buhr zwar verzichten, das Art Forum in Berlin überzeugt sie aber durch preußische Solidität. "Qualität, lautet nach dem Kunstmarathon dieses Jahres die allgemeine Forderung, und auch wenn dieser Begriff nur unter großen Verrenkungen inhaltlich zu definieren ist, kann man ihn zumindest auf einer Messe wie dem Art Forum schnell nachvollziehen: Er bedeutet hier die angenehme Abwesenheit von effekthascherischem Trash. Aus über 400 Bewerbern konnte die Messejury zu ihrer zwölften Ausgabe die 136 teilnehmenden Galerien auswählen, und das Ergebnis ist eine solide Präsentation der neuen und neuesten Kunst. So hip wie die Londoner Frieze oder so hochpreisig und seriös wie die Art Basel wird das Art Forum niemals werden, aber unter den deutschen Messen ist sie im mittleren Preissegment der aktuellen Kunst die überzeugendste."

In einer Times mager hofft Christian Thomas, dass sich Rheinland-Pfalz endlich zu einer kritischen Durchleuchtung der Bestände des Arp-Vereins durchringt.

Besprechungen widmen sich einer Ausstellung über den Zeitgenossen Joseph Beuys im Düsseldorfer Stadtmuseum, Johan Simons' Inszenierung von Tankred Dorsts "Merlin" für die Ruhrtriennale in Gladbeck, Niklaus Helblings "plausible" Version von Lessings "Emilia Galotti" im Frankfurter Schauspiel sowie Michael Köhlmeiers Roman "Abendland" (mehr in unserer Bücherschau des Tages heute ab 14 Uhr).

TAZ, 01.10.2007

Andreas Hartmann spricht mit dem in Paris lebenden Gitarristen Stephen O'Malley über Black Metal, eine Form der skandinavischen "Volksmusik", und den Rassismus, der damit häufig einhergeht. So verstehe sich Black Metal oft "als Antiblues, was hauptsächlich rassistisch begründet wird und deswegen albern ist. Vark Vikernes arbeitet nur noch mit Synthies, weil er sagt, Gitarren seien afrikanische Instrumente. Vikernes hat vor zehn Jahren aber auch ein Buch geschrieben, in dem er unter anderem den Schwachsinn behauptet, dass Arier derart starke und funktionstüchtige Körper haben, dass sie nicht einmal ihre Zähne zu putzen brauchen."

Besprochen werden eine Schau mit Foto- und Videoarbeiten der indonesischen Künstlerin Fiano Tan in der Münchner Pinakothek der Moderne sowie die von Amelie Deuflhard organisierte "Besetzungsorgie" zum Auftakt ihrer Intendanz in den Hamburger Kampnagel-Hallen.

Und Tom.

SZ, 01.10.2007

Weder wird der Islam Europa überschwemmen noch das Christentum aussterben, prophezeit der amerikanische Religionshistoriker Philip Jenkins. Muslime haben derzeit in Westeuropa gerade mal einen Populationsanteil von ungefähr 4,3 Prozent. "Außerdem hat die Einwanderung neben dem Wachstum der moslemischen Bevölkerung auch zu einem Wachstum der christlichen Bevölkerung beigetragen. In ganz Europa, Afrika und Asien haben Christen lebendige neue Kirchengemeinden und Gemeinschaften gegründet: Nigerianische Pastoren und Evangelikale sind da nur ein Beispiel. An einem typischen Tag in London ist die Hälfte der Kirchgänger entweder afrikanischer oder karibischer Herkunft. Vier von Großbritanniens zehn größten Megakirchen werden von Afrikanern geleitet. Andere Einwanderungs-Nationen schreiben ebenfalls neue christliche Erfolgsgeschichten. So haben zum Beispiel afrikanische Christen die Präsenz der Protestanten in Frankreich enorm gestärkt. Eine besondere Rolle spielten dabei Kongolesen. Im Großraum Paris gibt es beispielsweise über 250 protestantische Kirchen mit schwarzafrikanischem Einschlag."

Christian Dior dominierte nach dem Krieg die Mode, wie keiner nach ihm. Aber nicht nur seine Kleider beeindruckten die Menschen, sondern auch sein Gemüse, erfährt Alexander Menden in der großen, Dior gewidmeten Schau im Londoner Victoria & Albert Museum in London . Das Kostüm "Bar" kostete damals "59.000 Franc, was drei Jahreslöhnen eines französischen Fabrikarbeiters entsprach. Dieser in jeder Hinsicht verschwenderische Umgang mit Materialien schockierte und begeisterte eine Öffentlichkeit, deren Versorgung mit dem Lebensnotwendigen in den vierziger Jahren noch immer streng rationiert war. Cecil Beaton erlebte zu jener Zeit ein Vogue-Foto-Shooting bei Balenciaga, bei dem 'das Gemüse, um das ich als Requisiten für diese Bilder gebeten hatte, bei jenen im Studio auf großes Interesse stieß, die noch immer hungerten'."

Weitere Artikel: Der Fall der sechs angeklagten Teenager aus dem amerikanischen Jena ist erst durch die schwarzen Blogger der "Afrosphere" zum größten Bürgerrechtsfall der vergangenen Jahrzehnte geworden, meint Jonathan Fischer. In Berlin erfährt Barbara Kerbel von der Anwältin des Soziologen Andrej H. in der bis auf den letzten Platz besetzten Volksbühne, wie wenig das BKA gegen ihren Mandanten in der Hand hat. In Brasilien wird Jose Padilhas Film "Tropa de Elite" (Trailer) über die korrupte Elitetruppe der Polizei heiß diskutiert, berichtet Peter Burghardt. Lothar Müller gratuliert Regisseur Peter Stein zum Siebzigsten.

Auf der Medienseite ärgert sich Hans Hoff über den Deutschen Fernsehpreis und die vielen neuen Kategorien, die niemand mehr nachvollziehen könne. Stefan Fischer registriert, dass aufwendige Hörspiele wieder produziert und gekauft werden.

Besprochen werden Johan Simons "verkleckerte" Version von Tankred Dorsts "Merlin oder Das wüste Land" in Gladbeck, die Aufführung des von Jörn Arnecke vertonten Stücks "Unter Eis" von Falk Richter bei der Ruhrtriennale in Bochum, Bruce Springsteens neues Album "Magic", DVD-Neuauflagen wie Roger Cormans farbenfrohen Poe-Bearbeitungen aus den Sechzigern, sakrale Musik von Tüür, Ligeti und Durufle in der Münchner Herz-Jesu-Kirche und Bücher, darunter Tor Bomann-Larsens Biografie von Entdecker Roald Amundsen sowie Antonio Lobo Antunes' Roman "Einen Stein werd ich lieben" (mehr in unserer Bücherschau des Tages heute ab 14 Uhr).

FAZ, 01.10.2007

In der Leitglosse gratuliert Gerhard Stadelmaier dem "einen wahren Theaterrebell, der den Ehrentitel des Unkonventionellen wirklich verdient", Peter Stein zum Siebzigsten. Mark Siemons besucht das Kunstquartier "798" in Peking, das einst als Rüstungsfabrik von DDR-Ingenieuren erbaut wurde und nun ein Zentrum der neuesten Kunst ist - es feiert gerade unter großen Honoratiorenaufwand 50. Geburtstag. Thomas Wagner zeichnet die nicht enden wollenden Debatten um das neue Hans-Arp-Museum und die in ihm ausgestellten Werke nach. Bernard Andreae beschreibt einen in Pisa entwickelten "Roboterbildhauer", der nach Vorgaben von Computerscans Statuen kopieren kann. Jürg Altwegg zeichnet französische Debatten um den kürzlich verstorbenen Kardinal Jean-Marie Lustiger nach. Jürgen Kaube kommentiert Testergebnisse der Stiftung Warentest zu Schulbüchern.

Auf der Medienseite empfiehlt Michael Hanfeld eine ARD-Dokumentation über die Rolle der Familie Quandt, die ihren Reichtum auch mit Zwangsarbeit in der Nazizeit begründete. Für die letzte Seite ist Katja Gelinsky nach Little Rock, Arkansas, gereist, wo man der Bürgerrechtsbewegung vor fünfzig Jahren gedachte. Und Alexandra Kemmerer porträtiert den liberalen Rechtsprofessor Erwin Chemerinsky, der nach einigen Wirren Gründungsdekan an der Law School der University of California in Irvine wird.

Für die Sonntags-FAZ hat sich Nils Minkmar mit dem indischen Autor Amitav Ghosh unterhalten, dessen bekannter Roman "Der Glaspalast" in Burma spielt. Zu den Unruhen im Lande sagt er: "Dass es die Mönche waren, die die Proteste anführen, berechtigt zu den größten Hoffnungen. Wir wissen ja, dass auch eine Menge ausländischer Hilfe an die burmesische Opposition geht, aber ich hätte es mit Sorge gesehen, wenn eine dieser Gruppen den Protest angeführt hätte, wenn also das Geld dafür aus dem Westen gekommen wäre. Aber das Wichtige, das Einmalige an diesen Protesten ist, dass sie von der einzigen Institution ausgehen, die heute in Burma eine wirkliche Legitimation und Authentizität beanspruchen kann, und das sind die buddhistischen Klöster."