Heute in den Feuilletons

"Die große Penetrationsschlacht"

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
11.10.2007. Die FR feiert Suhrkamps neue Bibliothek der Weltreligionen als Dokument der Entweihung. Die taz freut sich über die Romantik des Weitermachens bei kleinen Verlage. Warum Europa die Türkei braucht, erklärt in der SZ die Schriftstellerin Elif Shafak. In der FAZ sind die Komponisten Walter Zimmermann und Dieter Schnebel geteilter Meinung über Pfitzners Kantate "Von deutscher Seele". In der Zeit rekapituliert Jane Fonda ihre große Penetrationsschlacht.

FR, 11.10.2007

Nein, Suhrkamps neuer Verlag der Weltreligionen ist keine Kampfansage gegen Aufklärung, gegen den aufrechten Gang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit, befindet Arno Widmann nach Inaugenscheinnahme des ersten ausgelieferten Verlagsprogramms: "Der Verlag der Weltreligionen macht alle Religionen gleich zugänglich. Das mindert sicher die Bedeutung einer jeden einzelnen. Wer die Bände liest, wenn sie denn jemand liest - das freilich wäre sehr zu wünschen -, wird auf Ähnlichkeiten, Bezüge, ja Entleihungen stoßen. Die Vorstellung, irgendeiner dieser Texte sei wirklich heiliger Text, Gottes Wort, verliert so sehr schnell jeden Schein von Plausibilität. Die hier bereit gestellte Bibliothek ist ein Dokument der Säkularisierung, der Entweihung. Sie ist ein Werk der Kritik."

Weitere Artikel: Hermannus Pfeiffer macht sich Gedanken, warum die Financial Times Deutschland zum Ladenhüter wurde, den niemand kaufen will. Georg Rudiger hörte Wagners "Tristan und Isolde" bei der Eröffnung der Herbstfestspiele in Baden-Baden. Theaterglobetrotterin Renate Klett berichtet vom Ulster Bank Dublin Theatre Festival, einem der größten europäischen Theaterfestivals. In der Kolumne Times Mager geht Julia von Sternburg heute zum Friseur.

Besprochen werden die Eröffnungspremiere der neuen Augsburger Theaterleiterin Juliane Votteler, die zum Einstand "eine Rarität, ja Abseitigkeit" erkor, nämlich Jaromir Weinbergers achtzig Jahre alte Volksoper "Schwanda, der Dudelsackpfeifer", Jens Friebes drittes Album "Das mit dem Auto ist egal. Hauptsache Dir ist nichts passiert", Michael Moores Film "Sicko", Angela Schanelecs filmische Tschechow-Variation "Nachmittag" und Peter Bergs Post-9/11-Unterhaltungsmärchen "Operation Kingdom" (für Rüdiger Suchsland dankenswerterweise "einer der wenigen US-Filme, die am 'american way of life' zweifeln").

Welt, 11.10.2007

"Es gehört schon eine gewisse Hartleibigkeit dazu, ein Weltereignis so unter Wert zu verkaufen", stöhnt Eckhard Fuhr über die "erhabene Sterilität und Langweiligkeit" der Buchmessen-Eröffnung. Dankwart Guratzsch greift die Debatte um das historisierende Bauen auf, die sich vor allem am Dresdner Neumarkt entzündet, wo "zu Füßen der Frauenkirche der größte zusammenhängende Bereich von Wohnhäusern der Vorkriegszeit, der je in einer deutschen Stadt aus dem Nichts neu erschaffen worden ist", entstehen soll. Uwe Wittstock meldet, dass das gute Geschäft der Verlage mit Hörbüchern ins Stocken geraten ist. Michael Pilz berichtet, dass Radiohead ihr neues Album "In Rainbows" als Download-Album veröffentlichen. Wieviel man dafür zahlen möchte, kann man selbst entscheiden. Sven Felix Kellerhoff besucht die neue DDR-Dauerausstellung des Zeitgeschichtlichen Forums in Leipzig.

Besprochen werden die Hamburger Ausstellung "Malerei für die Ewigkeit" im Bucerius Kunst Forum, auf der Kinoseite Peter Bergs Terror-Film "Operation: Kingdom", Jan Bonnys Debüt "Gegenüber" und Marc Rothemunds offenbar etwas unverständlicher Film "Pornorama".

Zeit, 11.10.2007

Im Dezember wird Jane Fonda siebzig, nächste Woche ist sie Ehrengast beim Wiener Filmfest. Katja Nicodemus besucht die Schauspielerin und Polit-Ikone in Atlanta und unterhält sich mit ihr auf ganzen zwei Seiten. Zum Beispiel über Fondas Versuch, den Vietnam-Film "Coming Home" feministisch zu unterwandern: "Ich wollte meine kleine Botschaft gegen den Phallozentrismus aussenden. Zwischen dem gelähmten Veteranen, der von Jon Voight gespielt wird, und meiner Figur sollte es Sex geben, aber ohne Penetration. Ich wollte zeigen, dass ein Mann, der wegen einer Verwundung keine Erektion bekommen kann, immer noch ein besserer Liebhaber sein kann als der Schnellficker, mit dem ich damals verheiratet war. Deshalb hatte ich ewige Kämpfe mit dem Regisseur Hal Ashby auszutragen. Ich nannte es die 'große Penetrationsschlacht'. Eines Tages hatten wir viele Veteranen auf dem Set, die mit ihren Rollstühlen als Statisten mitmachten. Einer hatte seine Freundin dabei. Ich sprach ihn auf sein Sexleben an, und er sagte, dass er manchmal Erektionen habe, die vier Stunden dauerten. Hal Ashby hörte das, und ich dachte: 'Scheiße, das war's mit meinem Anti-Penetrations-Plan.'"

Weiteres: Ulrich Greiner vermisst angesichts der vielen Handwerkerinnen in der deutschen Literatur, zu denen er auch die frisch gekürte Bücherpreis-Trägerin Julia Franck zählt, das Maßlose: "Die deutsche Literatur (und nicht nur sie) sprengte, wenn sie gelang, das Maß. Sie brachte das Unerhörte zu Gehör, sie suchte die blaue Blume, sie fand das Zauberwort. Und die Welt hob an zu singen." Im Aufmacher fragt Thomas Assheuer, woher die Freude über Meldungen aus der Hirnforschung rührt, dass es keine persönliche Freiheit gibt ("Nicht das Ich hat entschieden, sondern das limbische System"). Evelyn Finger empfiehlt Daniel Kunles Film "Neuland" als einen der ehrlichsten, der bisher zur Nachwendezeit gedreht wurde (und der heute im RBB gezeigt wird). Michael Wildt würdigt den Historiker Saul Friedländer, der in diesem Jahr den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhält.

Besprochen werden Heiner Goebbels Klanginstallation beim Berliner Festival Spielzeit Europa sowie neue CDs von Jack Penate und Bill Frisell.

Im Aufmacher des Literaturteils gratuliert Fritz J. Raddatz Günter Grass zum Achtzigsten. Im Politikteil möchte der Historiker Fritz Stern keine voreiligen Parallelen ziehen, empfiehlt George Bush aber doch, sich einmal genauer das Schicksal Kaiser Wilhelms anzusehen. Das Dossier untersucht den dörflichen Bürgersinn in Mali. Und im magazin unterhalten sich Christoph Amend und Georg Diez mit Schriftsteller Don DeLillo über seinen 9/11-Roman "Falling Man".

NZZ, 11.10.2007

Online lesen dürfen wir heute morgen nur die Besprechungen: über eine Retrospektive des Malers Karl Stauffer-Bern im Kunstmuseum Bern, Christian Petzolds "außergewöhnlichen" Film "Yella", Michael Moores Film "Sicko", Gottfried Boehms in der gerade gegründeten Berlin University Press erschienenes Buch "Wie Bilder Sinn erzeugen" und Alex Capus' Afrikaroman "Eine Frage der Zeit" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Weiteres: Joachim Güntner hat die Rede des katalanischen Schriftstellers Quim Monzo zur Eröffnung der Frankfurter Buchmesse prächtig amüsiert. Matthias Messmer meldet die bevorstehenden Eröffnung eines Zentrums für "Lifestyle, Design and Learning" in Schanghai. Eine Meldung informiert uns, dass der Schweizer Dirigent Philippe Jordan musikalischer Direktor der Opera national in Paris wird.

TAZ, 11.10.2007

Dirk Knipphals schickt einen gutgelaunten Bericht von der Frankfurter Buchmesse, den nur die offizielle Eröffnunsfeier mit der verpatzten Rede des Bundesfinanzministers etwas trübte: "'Man stagniert so vor sich hin'", sagte ein Kleinverleger lachend. Was sagen sollte: Ach, lass uns zum wirklich Wichtigen kommen - zu den neuen Büchern. Eine Romantik des Weitermachens kann man der Szene gut unterstellen."

Weitere Artikel: Ines Kappert war auf einer gemeinsam von der Deutschen Kinemathek und der Bundeszentrale für politische Bildung in Berlin veranstalteten Tagung, die sich erkenntnisreich mit dem Komplex "Hitler darstellen" auseinandergesetzt hat (zu dem Thema gibt es einen wunderbaren Artikel von Rich Cohen in der amerikanischen Vanity Fair: "My name is Rich Cohen, and I wear a Hitler mustache."). Julian Weber hat einem Gespräch zugehört, das der Journalist und Drehbuchautor Moritz von Uslar im Hamburger Fleetstreettheater mit dem Filmemacher Christian Petzold führte.

Weiteres: Ekkehard Knörer stellt in seiner Dvdesk-Kolumne heute drei Filme der feministischen Filmpionierin Germaine Dulac vor. Besprochen werden Michael Moores neuer Dokumentarfilm "Sicko" und Angela Schanelecs filmische Transposition von Anton Tschechows Stück "Die Möwe" in deutsche Gegenwartsseelenzustände "Nachmittag".

Schließlich Tom.

SZ, 11.10.2007

"Nicht nur die Türkei braucht Europa - Europa braucht die Türkei", sagt die in den USA und der Türkei lebende Schriftstellerin Elif Shafak im Gespräch mit Kai Strittmatter. "Wenn die EU es schaffen würde, mit der Türkei zusammenzuleben, dann hätte das unglaublich positive Konsequenzen. Wir müssen kapieren: Ja, Islam und Demokratie können koexistieren. Das ist das große Thema des Zeitalters, in dem wir leben. Leute wie wir, die Pendler zwischen den Welten, spielen da eine große Rolle. Heute haben die Menschen doch keine Ahnung von der anderen Seite - gleichzeitig aber haben sie gewaltige Meinungen übereinander."

Weitere Artikel: Sonja Zekri berichtet über die Reaktionen von Anne Applebaum, von Christopher Hitchens und von Salman Rushdie und Sam Harris auf die Weigerung des niederländischen Staates, für den Personenschutz der Islamkritikerin Ayaan Hirsi Ali in den USA aufzukommen. Thomas Steinfeld orakelt in Sachen Literaturnobelpreis, der am heutigen Donnerstag vergeben wird. Andrian Kreye stimmt auf das World Question Center Event am kommenden Wochenende im Londoner Serpentine Gallery Pavillon ein. Johannes Willms berichtet über die Eröffnung der Gedenkstätte Cite nationale de l'histoire de l'immigration in Paris, deren Ausstellung einen umfassenden Überblick über die sozial, wirtschaftlich oder politisch motivierten Einwanderungswellen der letzten zweihundert Jahre in Frankreich gibt. Eva Karcher bescheinigt der Biennale in Lyon ein gutes Niveau, sieht dort aber auch die Zwänge des Markts unbarmherzig deutlich werden.

Eine Meldung informiert uns, dass Österreich ab dem nächsten Jahr mit gleich zwei neuen Buchmessen sowohl Frankfurt als auch Leipzig Konkurrenz machen will. Am Mittwoch seien die Pläne dafür auf der Frankfurter Buchmesse vorgestellt worden: für die viertägige "Buch Wien" vom 20. bis 23. November mit Mittel- und Südosteuropa-Schwerpunkt sowie für die fünftägige "Litera" vom 23. bis 27. April in Linz.
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Besprochen werden Rod Hardys Film "December Boys" mit Harry-Potter-Star Daniel Radcliffe, der US-Debütfilm des deutsch-türkischen Regisseurs Mennan Yapo "Die Vorahnung", Dennis Dugans schräger New Yorker Feuerwehrfilm "Chuck und Larry" (für Hans Schifferle eine durchgeknallte Groteske, in deren Hintergrund er aber die Erfahrungen des 11. September seltsam spürbar fand), Jens Liens Film "Anderland"(der für den Geschmack von Rainer Gansera "seine konsumgesellschaftskritische Bedeutsamkeit" ein wenig zu demonstrativ vor sich her trägt), Jaromir Weinbergers selten gespielte Oper "Schwanda, der Dudelsackpfeifer" im Theater Augsburg und Bücher, darunter Kwame Anthony Appiahs Philosophie des Weltbürgertums im Zeitalter der Globalisierung (hier eine Leseprobe) "Der Kosmopolit" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FAZ, 11.10.2007

Die Komponisten Walter Zimmermann und Dieter Schnebel äußern sich zur Aufführung der Kantate "Von deutscher Seele" des Antisemiten Hans Pfitzner durch Ingo Metzmacher am Nationalfeiertag: Schnebel war angetan: "eine sehr eigene, poetische Musik, überwiegend melancholisch". Zimmermann fand es dagegen schrecklich: "Jetzt erst in diesem pointierten Zusammenhang als Festveranstaltung wurde die ganze spießbürgerliche Biederkeit dieses Werks deutlich. Ich verstehe nicht, warum sich ein der Moderne bisher zugewandter Dirigent auf so platte Weise Aufmerksamkeit verschaffen möchte."

Weitere Artikel: "Das Land staunt über seine Genies" - Manfred Lindinger, Joachim Müller-Jung und Christian Schwägerl können es gar nicht fassen, dass jetzt auch noch der Chemie-Nobelpreis nach Deutschland, nämlich an Gerhard Ertl geht. In der Leitglosse verfolgt Hubert Spiegel in der Sprache des Sports das Rennen der Literaturnobelpreiskandidaten beim Wettbüro Ladbrokes. In Buchmessen-Skizzen geht es unter anderem um schwer erträglichen katalanischen Kulturpatriotismus und die endgültige Durchsetzung des Rauchverbots. Mark Siemons erklärt, welch große Anstrengungen die chinesische Führung für Olympia auf sich nimmt: "Für dieses Gesamtkunstwerk ohnegleichen werden die gesamte Gesellschaft und insbesondere deren kulturell artikulationsfähige Teile in die Pflicht genommen." Andreas Rossmann stellt fest, dass Leverkusen ohne das Bayer-Kreuz, das 2009 abgebaut werden soll, nicht mehr Leverkusen sein wird. Martin Otto erinnert an Gustav Ritter von Kahr, den ersten evangelischen Franken an der Spitze des Freistaats Bayern - allerdings in den zwanziger Jahren. Henning Ritter gratuliert dem Kunsthistoriker Martin Warnke zum Siebzigsten, Gerhard Rohde dem Züricher Opernintendanten Alexander Pereira zum Sechzigsten.

Auf der Kinoseite schreibt Rüdiger Suchsland über das sehr präsente katalanische Kino. Paul Ingendaay stellt Carlos Sauras neuen Musikfilm "Fados" vor.

Besprochen werden die New Yorker Uraufführung der englischen Übersetzung von Roland Schimmelpfennigs neuem Stück "Start Up", ein Kölner Konzert der Popsängerin Robyn, Srdan Golubovics Film "Klopka - Die Falle" und Bücher, darunter Juan Marses Roman "Liebesweisen in Lolitas Club" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).