Heute in den Feuilletons

"erprobte imperialistische Kunst"

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
20.10.2007. Die taz spürt dem Verhältnis Heiner Müllers zu seinem Vater nach. Die NZZ fragt sich, ob David Litchfield seine Geschichte über das Massaker in Rechnitz ein bisschen aufgemotzt hat, um es in Independent und FAZ zu schaffen. Die FR bewundert die Vervollkommnung imperialistischer Kunst durch die russische Künstlergruppe AES+F. Im Tagesspiegel denkt Fritz Stern über den Widerstand der Deutschen gegen ihre Widerständler nach. Georg Klein feiert in der SZ Harald Bergmanns monumentale Dokumentation über Rolf-Dieter Brinkmann. In der FAZ erklärt der Skyrunner Christian Stangl, wie er sich für einen Dauerlauf auf den Mount Everest motiviert.

TAZ, 20.10.2007

Im taz mag porträtiert Kurt Oesterle den 1951 in den Westen geflohenen Vater von Heiner Müller und spürt den Hintergründen eines schwierigen Vater-Sohn-Verhältnisses nach. "Die Flucht des Vaters scheint den Sohn endgültig ins Recht gesetzt zu haben. Der 'Riss', der nach Heiner Müllers Empfinden während der Nazi-Zeit zwischen ihm und seinem Vater Kurt entstanden war, dehnte sich zum Abgrund, zumindest politisch. In der schärfsten Abrechnung, der Erzählung 'Der Vater', geschrieben 1958, ediert jedoch erst 1977, im Todesjahr des Vaters, heißt es in eisiger Lakonie: 'Er fand seinen Frieden in einer badischen Kleinstadt, Renten auszahlend an Arbeitermörder und die Witwen von Arbeitermördern.' Diese Behauptung vom gefundenen Frieden ist reine Abwehr und gleicht einem ideologisch instrumentierten Verdrängungsversuch."

Im Kulturteil-Interview erklärt der österreichische Regisseur Ulrich Seidl anlässlich seines jüngsten Film "Import/Export", weshalb immer auch "Schönheit in der Grässlichkeit" liege. Tobi Müller kommentiert den harten Wahlkampf in der Schweiz, in dem Intellektuelle und Feuilletons seltsam still blieben. Anke Leweke stellt das Spielfilmdebüt "Jagdhunde" der jungen Regisseurin Ann-Kristin Reyel vor. Und in der Kolumne "24 Stunden Spreebogen" träumt Dirk Knipphals angesichts der Krähen im Regierungsvierteln vom Erkennen größerer Zusammenhänge. Das taz-Mag bringt außerdem einen aus der Zeitschrift polar übernommenen Essay des Soziologen und Bourdieu-Schülers Luc Boltanski, der fürchtet, dass der Kapitalismus nicht glücklich macht.

Außerdem Buchbesprechungen, darunter von Nicki Pawlows Roman "Die Frau in der Streichholzschachtel", David Mitchells Adoleszenzroman "Der dreizehnte Monat" und eine Studie zum "Ende der Massenarbeitslosigkeit". (mehr dazu in unserer Bücherschau des Tages ab 14Uhr)

Schließlich Tom.

NZZ, 20.10.2007

Das Massaker an 200 Juden in Rechnitz hat es gegeben, schreibt Joachim Güntner mit Blick auf den Artikel von David Litchfield, den die FAZ am Donnnerstag abdruckte (mehr hier). Ob Margit von Batthyany, geborene Thyssen-Bornemisza dafür verantwortlich war, scheint ihm dagegen nicht so sicher. In Litchfields vor einem dreiviertel Jahr erschienenen Buch "The Thyssen Art Macabre" sei die "Verantwortung des Ehepaars Batthyany für das Massaker unter den Juden noch halbwegs zurückhaltend behandelt (worden) - sie hätten, kann der Leser verstehen, die übliche Menschenschinderei der SS gegenüber den rund 600 Zwangsarbeitern, die zum Bau eines 'Südostwalls' nach Schloss Rechnitz beordert waren, wissentlich ignoriert. Im Independent verschärft Litchfield nun seine Gangart und sagt der Gräfin nach, sie sei oft und mit sadistischem Vergnügen Zuschauerin gewesen." Anders, meint Güntner, hätte Litchfield den "Sprung in den Independent und die FAZ" auch nicht geschafft.

Weiteres: Roman Hollenstein hat das neue BMW-Zentrum in München besucht. Paul Jandl berichtet über den Fall eines 15-jährigen Flüchtlings aus dem Kosovo, dessen drohende Abschiebung die Österreicher aufwühlt. Die einzige Besprechung ist Sebastian Nüblings Inszenierung von "Next Level Parzival" am Theater Basel gewidmet.

In der Beilage Literatur und Kunst blickt der Schriftsteller Bora Cosic zurück auf die phantasiebegabte jugoslawische Moderne 1945 bis 1992: "Das erste Zeichen der neuen Kunst, an das ich mich erinnere, war ein Abdruck, den russische Soldaten 1945 im befreiten Belgrad an den Häusern anbrachten, 'Min njet'. Diese Buchstaben, die bedeuteten, dass es in diesem Gebiet keine Minen gab, reaktualisierten eigentlich die Designerhandschrift Majakowskis aus der Zeit des Futurismus, drei Jahrzehnte zuvor. Ich war dreizehn Jahre alt, leerte eine Seifenkiste und rückte in ihr ein paar Bleisoldaten zurecht, zwei Kosmetikfläschchen von Mama, einen Stern aus rotem Papier, Schnee aus Watte, der auf dieses Arrangement fiel. Ich hatte keine Ahnung, dass ein Mann namens Joseph Cornell zur gleichen Zeit in New York seine wundersamen Kästen mit entzückenden Sächelchen füllte."

Weitere Artikel: Marc Zitzmann erinnert an den vor 50 Jahren verstorbenen Couturier Christian Dior. Daneben werden neue Bücher über Dior vorgestellt. Der Kulturwissenschafter Sören Urbansky nimmt uns mit auf eine Stadtführung durch Peking. Dirk Pilz stellt die serbische Dramatikerin Biljana Srbljanovic vor. Der Schriftsteller Michel Mettler schickt eine "Bildansicht" von Edward Hoppers "People in the Sun".

FR, 20.10.2007

Arno Widmann sieht den russischen Willen zur Weltmacht auch ästhetisch bestätigt: im Beitrag der russischen Künstlergruppe AES+F (Bilder), der Filminstallation "Last Riot" auf der Biennale in Venedig. "Diese Farben hat es im nordischen Impressionismus vor dem Ersten Weltkrieg schon einmal gegeben. Auch diesen päderastischen Blick auf den Menschen gab es damals schon. AES+F sind ein Restaurationsbüro, ein Recycling-Unternehmen für erprobte imperialistische Kunst."

In einem langen Interview erklärt der Zeichner Tomi Ungerer unter anderem, was die Guten von den Bösen lernen können: "Ein bisschen cleverer zu werden, gerissener zu sein. Das nennt man Pragmatismus. Das Leben wäre langweilig ohne das Böse. Mich hat schon immer dieses Niemandsland zwischen dem Guten und dem Bösen interessiert."

Christian Thomas berichtet von einem Besuch in Athen bei Mikis Theodorakis, dessen Oratorium "Axion Esti" als Gastspiel des Orchesters für zeitgenössische Musik des Griechischen Rundfunks den Auftakt zu den Griechischen Kulturtagen in Frankfurt bilden wird. Marcia Pally erzählt, dass sie Schießen gelernt hat - als "Berechtigungsnachweis", eine richtige Amerikanerin zu sein. In Times mager räsoniert Judith von Sternburg anlässlich des Jahrs der Kartoffel 2008 über deren Namen und Verwendungszwecke. Daniel Kothenschulte würdigt im Nachruf die verstorbene Schauspielerin Deborah Kerr.

Und im Magazin erklärt die Sängerin Stevie Nicks von Fleetwood Mac, warum sie nie eine gute Hit-Schreiberin war.

Besprochen wird die Ausstellung "True Romance" in der Kunsthalle Wien.

Tagesspiegel, 20.10.2007

Im Interview mit einigen Tagesspiegel-Redakteuren spricht der Historiker Fritz Stern auch über das Verhältnis der Deutschen zu ihren Widerständlern: "Die Westdeutschen haben immer noch nicht genügend begriffen, dass die Bevölkerung der DDR die erste und einzige erfolgreiche friedliche Revolution gemacht hat, die Deutschland je erlebt hat. Wieso kann man das nicht richtig würdigen und die Bürgerbewegung anerkennen? Ich erkläre mir das so: Die Deutschen haben sich auch zunächst mit dem 20. Juli 1944 sehr schwer getan. Anscheinend sehen sie Widerstand grundsätzlich mit Unbehagen. In meinem Buch habe ich geschrieben, Zivilcourage ist ein schönes deutsches Wort, aber keine deutsche Praxis. Es gibt ein Unbehagen und ein Zögern, sich an Widerstand zu beteiligen."

Welt, 20.10.2007

In der Literarischen Welt bespricht Thomas Kielinger zwei neue Biografien über Ernst Jünger. Tilman Krause spricht Klartext über Walsers Äußerungen zur Verfilmung des "Fliehenden Pferds", aber gleich auch über Walser selbst ("noch hat Martin Walser schließlich das eine Werk, das jeder kennen muss, der in kulturellen Dingen mitreden will, nicht geschrieben"). Krause vergleicht auch die achtzigsten Geburtstage von Goethe, Thomas Mann und Grass, der ebenfalls schlecht abschneidet, und verzählt sich dabei ein bisschen: "Im Vollbesitz ihrer geistigen und gesundheitlichen Kraft haben nicht viele deutsche Schriftsteller den Eintritt in ihr achtes Lebensjahrzehnt erlebt." Besprochen werden unter anderen Walsers Tagebücher von 1963 bis 73 und Heinz Schlaffers Nietzsche-Buch (mehr hier).

Im Feuilleton informiert die Bibliothekswissenschaftlerin Katja Stopka anlässlich der Wiedereröffnung des Anna-Amalia-Bibliothek über das Wesen barocker Bibliotheken. In der Leitglosse lobt Eckhard Fuhr den Kulturstaatsminister Neumann, der immer wieder Gelder für Weimarer Klassik-Stiftung und andere notliedende Institute locker macht. Rüdiger Sturm annonciert einen möglichen großen Streik von Regisseuren, Autoren und Schauspielern in Hollywood im nächsten Jahr. Matthias Heine unterhält sich mit Filmregisseur Ulrich Seidl über dessen neuen Film "Import Export". Manfred Flügge gratuliert Stephane Hessel zum Neunzigsten. Besprochen wird Robert Carsens Inszenierung von Mozarts früher Oper "Mitridate" in Brüssel.

Auf der Mode-Seite schreibt Manuel Brug über sechzig Jahre Dior. Im Magazin interviewt Johannes Nebel den Papst, der über seinen Freund Kardinal Leo Scheffczyk spricht. Auf Seite 3 erinnert Thomas Schmid an Hanns-Martin Schleyer, der vor dreißig Jahren ermordet wurde.

FAZ, 20.10.2007

Wissen Sie, was ein Skyrunner ist? Das ist einer, der an einem Tag auf den Mount Everest rennt - ohne jede Ausrüstung, versteht sich - und wieder runter. Christian Stangl, der schnellste Bergsteiger der Welt, erzählt im Interview mit Bilder und Zeiten, wie er sich für solche Extremtouren motiviert: "Wenn ich stark sein will, spreche ich Russisch mit mir. Dann fühle ich mich wie ein Kapitän auf einem russischen Atomeisbrecher. Ich stehe auf dem Schiff, es geht voran, und vor mir bricht das Eis. Die russische Phonetik gibt mir das Gefühl, dass ich stark bin. Wenn ich Angst bekomme, fange ich dagegen an, Englisch zu sprechen. 'Hey man, take care' und solche Sachen. Das ist alles total seltsam."

Weiteres: Dirk Schümer erklärt auf zwei Seiten, warum er wandert und nicht joggt. Erwin Seitz meldet die Rückkehr des Landgasthofs. Und Marco Schmidt begegnet dem Schauspieler Casey Affleck, der gerade in dem Film "Die Ermordung des Jesse James durch den Feigling Robert Ford" Brad Pitt erschießen darf.

Im Feuilleton berichtet Renate Klett vom polnischen Theaterfestival "Dialog". Jordan Mejias hat in Houston eine Ausstellung mit den Knochen unserer Ahnin Lucy gesehen. Michael Althen schreibt zum Tod der Filmschauspielerin Deborah Kerr. Jürg Altwegg berichtet vom Wahlkampf in der Schweiz. Werner Jacob feiert Münchens schöne neue BMW-Welt. Heinrich Wefing darf sich auf einer mit Fotos gespickten Doppelseite über die renovierte Anna-Amalia-Bibliothek freuen. Auf der letzten Seite erklärt Werner Spies, wie die Fotografien von Thomas Demand zustande kommen.

Auf der Schallplatten- und Phono-Seite geht's um eine CD mit einem Livekonzert von Caterina Valente 1964 in Las Vegas, Klavierstücke von Jehan Alain, die Clemens Rave eingespielt hat, Chopin-Preludes, eingespielt von Rafal Blechacz, und Soul von Sharon Jones. Besprochen werden Bücher, darunter Peter Demetz Erinnerung an "Mein Prag" und Ralph Dutlis Essays über Poesie "Nichts als Wunder" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

In der Frankfurter Anthologie stellt Rüdiger Görner ein Gedicht von Arno Schmidt vor:

"Trunkner im Dunkel

Da eine Geige flüstert um Mitternacht,
hat mich mein Rausch in mondhelle Gassen gebracht;
leicht tönt mein Schritt in der Nacht.
..."

SZ, 20.10.2007

Georg Klein schwärmt von Harald Bergmanns monumentalem Filmporträt des Schriftstellers Rolf-Dieter Brinkmann "Brinkmanns Zorn. Director's Cut", der heute auf der Kölner Kunstfilmbiennale zu sehen ist. "Nun hat ausgerechnet die Filmkunst für alle, denen die Literatur ihrer Zeit etwas bedeutet, an diesem Dichter etwas gutgemacht." Und mans sieht den Dichter auf Filmbildern seiner Super-8-Experimente wieder: "Nun muss es jeden, dem das Gelingen und Scheitern von Kunst etwas bedeutet, bis ins Mark rühren, diesen hochbegabten Kerl, dieses Monstrum von einem Schriftsteller, eine Zigarette der untergegangenen Marke 'Astor Filter' rauchen zu sehen. Sein Blick in die Kamera gilt zwingend uns, den Kommenden. Und wenn wir seine junge Frau Maleen betrachten, spüren wir jenen historischen Amputationsschmerz, den untergegangene körperliche Schönheit evoziert, so sie die Tücke der Technologie für uns dokumentiert hat."

Andreas Zielcke denkt nach dem "Esra"-Urteil über das Verhältnis von Kunstreligion und Persönlichkeitsrecht nach. Deren Kollision hätten die vehementen Kritiker des Urteils fatalerweise nicht wirklich ernst genommen: "Das ist zwar eine Konsequenz der Heiligsprechung der Kunst, verrät aber zugleich ein markantes Geringschätzen der Würde und der sozialen Selbstdefinition der realen Individuen."

Weitere Artikel: Jonathan Fischer informiert über selbstgemachte Tanzmoden aus dem Hip-Hop-Untergrund, die die Hitparaden erobern, etwa der von Harlemer Kindern ausgedachte Tanz "Chicken Noodle Soup". "Anlass zu den schönsten Hoffnungen" sieht Christine Dössel angesichts erster Eindrücke von der Arbeit der neue Intendantin des Schauspiels Köln Karin Beier. Joseph Haniman stellt mehrer aktuelle Publikationen zur gegenwärtigen Befindlichkeit Frankreichs vor, darunter "Qu?est-ce que la France?" von Alain Finkielkraut, dessen Maxime lautet: "Nie wieder Arroganz, nie wieder Selbstbehauptung, nie wieder klare Positionen." Franziska Augstein wohnte in München einem "Pfingstwunder" bei: einer Präsentation der Tagebücher von Ernst Schumacher durch Peter Gauweiler. Fritz Göttler würdigt die verstorbene Schauspielerin Deborah Kerr. Gemeldet wird der Tod des letzten Rat-Pack-Stars Joey Bishop.

In der Wochenendbeilage unterhält sich Willi Winkler mit Neil Young über dessen Projekt einer Filmdokumentation über Autos, die er mit seinem alten, ökologisch korrekt umgerüsteten 58er Lincoln als Roadmovie plant. "Das wird eine spirituelle Reise. Das Auto steht für etwas Altes und für etwas Neues. Am Ende werden wir es in die Fabrik zurückbringen, in der es einst hergestellt wurde."

Besprochen werden die exzellente Ausstellung "Der späte Tizian und die Sinnlichkeit der Malerei" im Kunsthistorischen Museum Wien, die Opernuraufführung "Ganna und die Wahnwelt" in Fürth und Bücher, darunter der neue Roman von Andrea Maria Schenkel "Kalteis" (siehe dazu unsere Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).