Heute in den Feuilletons

"als hätte man sich an mir satt gesehen"

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
05.11.2007. In der SZ sieht der britische Publizist Tariq Ali die Amerikaner hinter Musharrafs Coup d'Etat in Pakistan. In der Welt erklärt Maria Schrader, warum sie so lange nicht mehr auf der Leinwand zu sehen war. Die NZZ befasst sich mit Bernard-Henri Levys Kritik an der französischen Linken. Und Kirsten Harms' Inszenierung von Strauss' "Elektra" an der krisengeschüttelten Deutschen Oper Berlin stößt auf freundliche Resonanz.

FR, 05.11.2007

Einhelliger Jubel in der Deutschen Oper, und das bei einer Inszenierung von Kirsten Harms! Vielleicht haben die Berliner die Intendantin endlich angenommen, spekuliert Jürgen Otten. "Cassandra" und "Elektra" im Doppelpack sei aber auch eine hervorragende Idee. "Warum das bislang noch keinem aufgefallen ist, wissen alleine die Götter. Tatsache ist, dass Vittorio Gnecchis Tragödie in einem Akt 'Cassandra' aus dem Jahre 1905 gleichsam als Introduktion hervorragend zu Richard Strauss' Tragödie in einem Aufzug 'Elektra' aus dem Jahre 1909 passt; nicht zuletzt deshalb, weil die symphonische Konzeption der filmmusikalisch angehauchten 'Cassandra' wirkungsvoll vorbereitet auf die rhetorisch fulminanten Gefechte der reiferen 'Elektra'."

Weitere Artikel: Daniel Kothenschulte erklärt, warum die amerikanischen Drehbuchschreiber ab heute womöglich in Streik treten. Das IWF-Institut, dem Schüler viele unterhaltsame Unterrichtsstunden verdanken, steht kurz vor der Abwicklung, berichtet Ulrich Kurzer. Judith von Sternburg schreibt zum 200. Todestag der Malerin Angelika Kauffmann. In einer Times mager bringt Sternburg zudem die Nachfolgefrage in Bayreuth mit der Kölner Wahl zum Hausmann des Jahres zusammen.

Eine Besprechung beschäftigt sich mit Corinna von Rads Inszenierung von Shakespeares "Was ihr wollt" am Schauspiel Frankfurt.

Welt, 05.11.2007

Peter Zander unterhält sich mit der Schauspielerin Maria Schrader, die gerade mit der Verfilmung des Shalev-Romans "Liebesleben" ihr Regiedebüt in die Kinos bringt. Auf die Frage, warum man sie so lange nicht auf der Leinwand gesehen hat, antwortet sie bemerkenswert offen: "Es ist aber auch nicht so, dass ich mit Angeboten überschüttet worden wäre, die ich schnöde in den Wind geschossen hätte (lacht). Das teile ich, fürchte ich, mit vielen anderen, Martina Gedeck und Franka Potente klagen ja auch darüber. 'Aimee & Jaguar' - danach kam fast drei Jahre lang nichts aus diesem Land. Es war so, als hätte man sich an mir satt gesehen. Dass man gezielt Projekte auf Schauspieler zuschneidet, das passiert hier so gut wie gar nicht."

Weitere Artikel:Berthold Seewald erinnert an die Schlacht von Roßbach im Siebenjährigen Krieg, mit der Friedrich II. vor 250 Jahren seinen Ruf als Feldherr begründete. Hendrik Werner mokiert sich in der Leitglosse über Hochkulturangebote bei Aldi. Thomas Kielinger besucht die Ausstellung der Kandidaten für den Turner-Preis in Liverpool. Stefan Keim begutachtet die ersten Produktionen des Schauspiels Köln unter der Intendantin Karin Beier und ist insgesamt recht zufrieden. Sven Felix Kellerhoff zitiert neue Forschungen der Gedenkstätte Berliner Mauer, die die genaue Zahl der Toten an der deutsch-deutschen Grenze ermitteln will, und auf insgesamt 600 bis 800 Tote kommt.

Besprochen wird Kirsten Harms' Inszenierung der "Elektra" von Strauss an der Deutschen Oper in Berlin.

Auf der DVD-Seite geht's unter anderem um neue Editionen des Beatles-Films "Help" und um Klassiker der frühen sowjetischen Filmkunst. Und Hellmuth Karasek sieht sich noch einmal die Filme Bunuels aus seiner mexikanischen Zeit an.

NZZ, 05.11.2007

Jürgen Ritte hat Bernard-Henri Levys neues Buch "Ce grand cadavre a la renverse" gelesen, in dem sich der Philosoph an einer "Wiederbelebung" der Linken versucht, zu der sich Levy "trotz allem" zugehörig fühlt. "Den stärksten Eindruck hinterlässt Levys Streitschrift allerdings da, wo ihr Autor vor der eigenen Tür, der Tür der Linken, kehrt... Für das Siechtum der Linken macht er die jakobinisch-nationalistischen Kleinparteien an ihren Rändern verantwortlich und Teile der Sozialisten selbst. Hinter deren Antiamerikanismus und antieuropäischem Affekt wittert Levy die übelsten Dünste der französischen Geschichte, die noch aus der Zeit der Dreyfus-Affäre heranwehen. Hinter deren militantem Antikapitalismus entdeckt er eine ideologische Verbohrtheit aus anderen Zeiten, da in jedem Sozialdemokraten der 'Sozialverräter' denunziert wurde."

Hans Ulrich Gumbrecht evaluiert die bisherigen Ergebnisse der Exzellenz-Initiative, möchte aber auch einmal in eine ganz andere Richtung gedacht wissen: "Vielleicht würde ja alles - noch - besser, wenn sich die Hochschullehrer in Deutschland (und in den meisten anderen europäischen Ländern) entschließen könnten, ihren Arbeitstag studierend und forschend, lesend und schreibend auf dem Campus, in den Gebäuden der Universität also, zuzubringen, statt sie bloß einmal pro Woche, und dies allein in der Semesterzeit, zu besuchen - wie früher ein Kolonial-König seine Inseln im Pazifik heimgesucht hatte."

Weiteres: Joachim Güntner besucht die "Bibliothek des Jahres 2007" - die Gefängnisbücherei von Münster: "Achtzig Prozent der Häftlinge der JVA gelten als regelmäßige Nutzer der Bibliothek. Von einer solchen Auslastung können Stadtbüchereien nur träumen." Jeannette Villachica porträtiert den deutsch-irischen Schriftsteller Hugo Hamilton. Besprochen wird Hans Neuenfels' Inszenierung der "Penthesilea" von Othmar Schoeck im Theater Basel.

TAZ, 05.11.2007

Eigentlich kann man in Berlin auch ohne Kunsthalle jede Menge Gegenwartskunst sehen, meint Henrike Thomsen. Wozu braucht man dann die neue Kunsthalle White Cube? Thomsen blickt zum Vergleich auf die Kunsthalle Bern und die Whitechapel Gallery: "Londons Kunstszene mache pro Jahr hunderte Millionen Pfund Umsatz und Whitechapel stimuliere diesen Markt, ziehe Sammler und Touristen an, verkündet die Gallery. Die Kunsthalle Bern weist Sponsoren auf den Gewinn durch Imagetransfer hin: 'Ausstellungen der Kunsthalle wandern oft von Bern nach London, New York oder Eindhoven und so ist es möglich, diese Werte, die durch ein durchmischtes Publikum und ausgiebige Medienkommentare vermittelt werden, auch auf Ihre Firma und Ihren Kundenkreis zu übertragen.' Das Bedauern des Regierenden Bürgermeisters und Kultursenators Klaus Wowereit (SPD), der heute sagt, die Schließung der alten Kunsthalle sei ein Fehler gewesen, ist am besten aus dem Wunsch heraus zu verstehen, eine ähnlich potente Institution in die Hand zu bekommen."

Weiteres: Detlef Kuhlbrodt meldet sich vom diskursfreudigen Dokumentarfilmfest Leipzig. Besprochen wird die Ausstellung von Norbert Bisky im Berliner Haus am Waldsee.

In der zweiten taz wundert sich Wolf Schmidt über die alberne Anti-Islamismus-Jugendarbeit des nordrhein-westfälischen Verfassungsschutzes: "Spiel nicht im Team der Mudschaheddin". Auf der Medienseite weisen Boris Hellmers und Jan-Philipp Hein auf die Auslagerung von Tageszeitungs-Redaktionen hin.

Und Tom.

SZ, 05.11.2007

Robert Redford schildert Anke Sterneborg die Situation in den USA, von der auch sein Film "Von Löwen und Lämmern" erzählt. "Die Wahlbeteiligung in Amerika ist lächerlich, heute geben hier mehr Leute ihre Stimme bei 'American Idol' im Fernsehen ab als bei der Präsidentenwahl. Natürlich können ein Professor und ein Student nichts ändern, aber sie stehen symbolisch für die Situation. Woran liegt es, dass die Jungen mit der Politik nichts zu tun haben wollen? Sie sehen die Leute, die an der Macht sind, und betrachten das als Beleidigung für ihre Intelligenz!"

Der Ausnahmezustand ist in Pakistan ein probates Mittel, um zu regieren, meint der britische Publizist Tariq Ali nach den Ereignissen am Wochenende. "Die zwei Institutionen, die der Ausnahmezustand nun ins Visier nimmt, sind die Justiz und das umtriebige Netz unabhängiger Fernsehsender, in denen Korrespondenten all jene Informationen liefern, die man von Politikern nie bekommen würde. Der größte dieser Sender Geo TV sendet aus dem Ausland weiter. Und einer seiner klügsten Journalisten, Hamid Amir, berichtete am Freitag, dass die amerikanische Botschaft laut seinen Informanten dem Putsch grünes Licht gegeben hatte, weil sie den obersten Verfassungsrichter als Ärgernis und als Taliban-Sympathisanten betrachtete."

Weitere Artikel: Jörg Häntzschel informiert, dass zwei weitere der Kataloge gefunden wurden, mit denen die Nationalsozialisten im Zweiten Weltkrieg die von ihnen geraubte Kunst dokumentierten. Andreas Schubert fährt mit zwei Location-Scouts der Berliner Babelsberg-Studios durch die Stadt und lässt sich erklären, wie leicht es ist, dem Zuschauer vorzugaukeln, man sei in Moskau oder New York. Jens Bisky ist dabei, als Klaus Staeck in der Akademie der Künste auf die erste Hälfte seiner Amtszeit als Präsident zurückschaut.

Besprechungen widmen sich Tina Laniks "großartiger" Inszenierung von Bertolt Brechts "Im Dickicht der Städte" am Münchner Residenz Theater, Hans Neuenfels' mit "kühler Eleganz" besorgte Version von Othmar Schoecks Kleist-Oper "Penthesilea" in Basel, eine Schau mit Zeichnungen des Bildhauers Fritz Wotruba in der Pinakothek der Moderne, Matias Bizes Film "En la cama - Im Bett", DVD-Neuveröffentlichungen wie Claude Lanzmanns "Shoa", und Bücher, darunter Tilman Spreckelsens Rittergeschichten "Gralswunder und Drachentraum" sowie Willy Puruckers Hörspiel "Die Grandauers und ihre Zeit" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FAZ, 05.11.2007

In seiner Dankesrede zur Verleihung des Prinz-Asturien-Preises plädiert der israelische Schriftsteller Amos Oz an die Europäer, den arabisch-israelischen Konflikt differenziert zu betrachten: "Während die Araber in den Israelis moderne Kreuzritter sehen, in Israel den Vorposten eines europäischen Kolonialismus, betrachten viele Israelis die Araber als neue Verkörperung der alten Unterdrücker, Pogromhetzer und Nazis. Aus dieser Situation erwächst den Europäern eine besondere Verantwortung für die Lösung des Nahost-Konflikts. Statt der einen oder anderen Seite Schuld zuzuweisen, sollten die Europäer beiden Seiten mit Einfühlung und Verständnis begegnen und Hilfe anbieten. Ihr müsst euch nicht mehr zwischen proisraelisch und propalästinensisch entscheiden. Ihr müsst euch für den Frieden entscheiden."

Weitere Artikel: Grundsätzlichen Einspruch erhebt Patrick Bahners gegen Peer Steinbrücks Weigerung, einem allgemeinen Betreuungsgeld zuzustimmen: Dahinter stecke nichts als die Vermutung, den Empfängern sei der vernünftige Umgang mit dem Geld nicht zuzutrauen. Anlässlich der Verleihung des Leo-Baeck-Preises an Angela Merkel erinnert Arno Lustiger an den Namensgeber des Preises. In der Glosse freut sich Andreas Kilb, dass die Akademie der Künste ein Podiumsgespräch mit dem Schriftsteller Martin Mosebach über Saint Just und Himmler plant. Selbes Thema (und kurz Luft geholt): Lorenz Jäger mokiert sich darüber, dass in der Welt online Clemens Heni die Brecht- bzw. eventuell auch Klemperer-Prägung "Kaderwelsch" für antisemitisch hält, mit der Jäger den Ex-Maoisten und taz-Kommentator Christian Semler bedachte, der Martin Mosebach aufgrund seines Saint-Just-und-Himmler-Vergleichs in der Büchnerpreisrede des Revisionismus' bezichtigte, jener Rede also, die dagegen - Sie merken: hier schließt sich der Kreis - Lorenz Jäger ganz großartig gefunden hatte. Die Aufhebung der Buchpreisbindung in der Schweiz hat, so Jürg Altwegg, bewirkt, was zu befürchten war: Die Bestseller werden billiger, der Rest aber teurer. Jordan Mejias hat die aktuelle Ausgabe des US-Magazins The Atlantic (früher: "Atlantic Monthly") gelesen, die sich zur Feier ihres 150. Gründungsjahrs mit Amerika und sich selbst beschäftigt.

Martin Schumacher erinnert an den ehemaligen kommunistischen Reichstagsabgeordneten Robert Stamm, den die Nazis vor siebzig Jahren in Plötzensee hinrichten ließen. Klaus Ungerer war wieder im Amtsgericht Moabit, wo diesmal ein Mann verurteilt wurde, der eine Frau, die im Weg stand und stehen blieb, auf die Motorhaube nahm. Paul Ingendaay informiert über spanische Reaktionen auf die Übersetzung von Jonathan Littells Roman "Les Bienveillantes", der als "Die Wohlgesinnten" in Deutschland erst noch erscheinen wird. Gina Thomas informiert uns, dass ein britischer Dermatologe glaubt, Karl Marx' Entfremdungs-Theorem verdanke sich seinen schmerzhaften Furunkeln. Außerdem porträtiert sie die Premierministergattin Clarissa Eden, die jede Menge britischer Polit- und Geistesgrößen kannte und unter dem Titel "Von Churchill bis Eden" nun ihre Memoiren veröffentlicht hat. Gemeldet wird, dass Günter Grass die Behauptung seines Biografen Michael Jürgs, er habe sich freiwillig zur Waffen-SS gemeldet, offenbar nicht länger untersagen lassen will.

Besprochen werden die große Eugene-Atget-Retrospektive im Berliner Martin-Gropius-Bau, die Bielefelder Ausstellung "1937 - Perfektion und Zerstörung", eine Begegnung von Richard Strauss' "Elektra" mit Vittorio Gnecchis "Cassandra" an der Deutschen Oper Berlin, ein Frankfurter "Was ihr wollt" (Gerhard Stadelmaier macht kurzen Prozess und nennt - die Höchststrafe - den Namen der Regisseurin Corrina von Rad erst gar nicht) sowie Bücher, darunter György Konrads Fortsetzung seiner Anti-Memoiren "Das Buch Kalligaro" und auf der Sachbuchseite Anton Holzers "standardsetzende" Studie über Bildpropaganda im Ersten Weltkrieg (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Das Interveiw mit Jonathan Littell vom Samstag ist jetzt online freigeschaltet.