Heute in den Feuilletons

"besonderer Zugang zum göttlichen Willen"

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
12.11.2007. Berserker, Kraftlackel, Schwergewichtsschreibmonster: Alle Zeitungen nehmen Abschied von Norman Mailer. Die taz besucht die Stadt Sarajewo, die entlang ethnischer und religiöser Narben auseinanderzubrechen droht. In der SZ ermahnt Norbert Bolz die Architekten: Die Welt des Konsums zu verachten, reicht nicht, es kömmt darauf an, sie zu verändern. In der Welt warnt Udo di Fabio vor einer Selbstabschaffung des Westens aus Angst vorm Terrorismus.

Welt, 12.11.2007

Der Verfassungsrichter Udo di Fabio richtet in einer von der Welt nachgedruckten Rede mahnende Worte an die Politik, die dem Terrorismus mit immer größeren Rechtsbrüchen und Freiheitsbeschneidungen begegnet: "Die intellektuelle Lust am antizipierten Ausnahmezustand ist kein guter Ratgeber. Sie verfehlt auch ihr erklärtes Ziel, durch harte Maßnahmen mehr Sicherheit für die Freiheit zu schaffen. Der amerikanische 'Krieg gegen den Terror' wird durch die Schaffung von Sonderrecht auf Guantanamo oder durch eigenwillige Interpretationen des Völkerrechts nicht effektiver gemacht, sondern a la longue geschwächt: So kann der Westen von vornherein nicht gewinnen, er verliert in dem Maße, in dem er nicht Westen bleibt."

Weitere Artikel: Im Feuilleton schreibt Wieland Freund den Nachruf auf Norman Mailer. Hannes Stein sammelt amerikanische Stimmen zum Tod des Autors. Peter Dittmar kommentiert die Umbenennung der Hannoveraner Kestner-Museums in "Museum August Kestner", abgekürzt MAK. Berthold Seewald wendet sich gegen die Änderung des Erbrechts, welches dem Bürgertum durch Besteuerung hinterlassenen selbstbewohnten Hausbesitzes den Boden unter den Füßen wegziehe. Thomas Hahn stellt den Regisseur Olivier Py vor, der die Leitung des Pariser Theatre de l'Odeon übernimmt. Herbert Kremp erinnert an die Passchendaele-Schlacht vor 90 Jahren im Ersten Weltkrieg, die letzte der Vernichtungsschlachten dieses Krieges.

Besprochen werden ein Auftritt der Band Arcade Fire in Berlin, ein Beethoven-Tanzabend des Choreografen Jörg Mannes in Hannover, Alvis Hermanis Spektakel "The Sound of Silence", das auf den Liedern Simon & Garfunkels aufbaut, in Berlin und Robert Zemeckis "Beowulf"-Verfilmung.

Auf der letzten Seite porträtiert Uwe Schmitt den Obdachlosen Tom Murphy, der nebenbei einer der besten Schachspieler der USA ist - eine große Reportage in der Washington Post hatte zuerst auf seine Geschichte aufmerksam gemacht.

FR, 12.11.2007

Sebastian Moll reiht den verstorbenen Norman Mailer in die amerikanische Literaturtradition ein: "Seit Ralph Waldo Emerson und Henry David Thoreau ist laut dieser Theorie der amerikanische Intellektuelle eine Figur, die einen besonderen Zugang zum göttlichen Willen verspürt."

Weiteres: Peter Michalzik schreibt zum Tod des Schauspielers Romuald Pekny. K. Erik Franzen wird auf dem Obersalzberg bei den ganzen Hakenkreuz-Graffiti ganz mulmig zumute. Christian Schlüter kommentiert Andrea Ypsilantis Auftritt mit Peter Sloterdijk in einer Times mager. Jutta Rippegather fasst den Frankfurter Landesmedientag der Deutschen Journalisten-Union zusammen.

Besprochen werden George Benjamins deutsche Erstaufführung von Martin Crimps Rattenfänger-Variation "Into the Little Hill" in der Oper Frankfurt.

NZZ, 12.11.2007

Irene Binal erinnert an den am Samstag verstorbenen Schriftsteller Norman Mailer, der nichts ausließ, um "sich selbst in Szene zu setzen, ob mit Alkohol- und Drogenexzessen, blutigen Schlägereien, insgesamt fünf Scheidungen, einer Messerattacke auf seine zweite Frau, Adele, oder mit wilden Polemiken gegen seine Kritiker... Selbstverliebte Egozentrik wurde Mailer ebenso vorgeworfen wie reine Publizitätssucht. Und doch war Mailers scheinbar unerschöpfliche Vitalität zuallererst nichts anderes als die notwendige Bedingung für seine Schaffenskraft."

Weiteres: Aldo Keel kommentiert das Schulmassaker im finnischen Jokela. Zwei Artikel widmen sich der Bibliotheca Hertziana des MPI für Kunstgeschichte in Rom, wo der auf Stelzen gebaute Neubau des spanischen Architekten Juan Navarro Baldeweg nicht nur Bibliothekaren neuen Platz schafft, sondern auch Archäologen Grabungen in der einstigen Villa des Lucius Licinius Lucullus ermöglicht.

Besprochen werden die Tagung "Gebaute Ideologie" im Münchner Haus der Kunst und die Ausstellung über Camillo Procaccini in der Pinakothek Züst in Rancate.

TAZ, 12.11.2007

Uwe Rada schildert, wie Sarajevo entlang ethnischer und religiöser Narben auseinanderzubrechen droht: "Gleich hinterm östlichen Rand der Stadt entsteht derzeit ein neues, ein serbisches Sarajevo. Am Busbahnhof von Istocno-Sarajevo (Ostsarajevo) dominiert das Kyrillische. Hier kommen die Busse aus Belgrad an, aus Banja Luka, der Hauptstadt der bosnischen Serbenrepublik, oder aus Pale, der zehn Kilometer nordöstlich von Sarajevo gelegenen Hochburg des ehemaligen bosnischen Serbenführers Radovan Karadzic. Ostsarajevo befindet sich auf dem Territorium der Republika Srpska, die Grenze zur bosnisch-kroatischen Föderation verläuft nicht weit vom Busbahnhof."

Die taz verabschiedet Normal Mailer auf der Seite eins als "Ego, Macho und Rebell", Alexander Cammann schreibt den Nachruf: "irrlichternd, aufbrausend und niemals leise verkörpert er Amerikas Fähigkeit zur Selbstkritik". (Hier eine Auswahl seiner wichtigsten Bücher)

Weiteres: Ekkehard Knörer resümiert eine Berliner Konferenz zur Kulturwirtschaft. Eine Besprechung nimmt sich Jörg Buttgereits "sehr comichafter" Inszenierung seines eigenen Hörspiels "Captain Berlin vs. Hitler" am Berliner HAU-Theater an.

Und Tom.

FAZ, 12.11.2007

Jordan Mejias verabschiedet das amerikanische Original Norman Mailer: "Sein Leben lang hat Norman Mailer das Leben zum Kampf herausgefordert. 'Existentiell', sagte er mir mit einem Augenzwinkern, 'ist mein Lieblingswort.' So reihen sich auch seine beiden letzten Werke nahtlos in ein überbordendes Oeuvre von zweieinhalb Dutzend Bänden, die sich an den Fundamenten Amerikas und des amerikanischen Bewusstseins zu schaffen machen."

Weitere Artikel: In der Glosse erfahren wir, dass Richard Kämmerlings am 9. November in einer Art Zug der deutschen Einheit festsaß. Gina Thomas erzählt, dass ein eigentlich ganz unschuldiges Restaurant im Volksmund "The Adolf" heißt, weil auf dem Wirtshausschild der Dichter John Masefield (Bilder) dem Falschen ähnlich sieht. Joseph Hanimann war dabei, als im Park des Dichters Chateaubriand Diplomatenbäumchen gepflanzt wurden. Von einer Münchner Tagung, auf der es um heilige und möchtegernheilige Kriege ging, berichtet Florentine Fritzen. Dieter Bartetzko porträtiert den Architekten Christian de Portzamparc (Bilder von Bauten hier oder hier), der in Los Angeles ein gewaltiges Filmmuseum bauen soll. Heike Hupertz stellt das Frankfurter "Science Lab" und andere naturwissenschaftliche Experimentierkurse für Kinder vor.

Besprochen werden die Berliner Uraufführung von Alvis Hermanis' "The Sound of Silence", die deutsche Erstaufführung von George Benjamins Kammeroper "Into the Little Hille" in Frankfurt, der Kurzopernabend an der Berliner Volksbühne, eine Ausstellung mit Fotografien von Roswitha Hecke im Berliner Gropius-Bau und Bücher, darunter Donald McCaigs Klassikerfortsetzung aus männlicher Perspektive "Rhett" und Michael Gieseckes Studie "Die Entdeckung der kommunikativen Welt" (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).

SZ, 12.11.2007

Monumentalität ist das neue alte Gebot im Städtebau, stellt der Medienwissenschaftler Norbert Bolz fest, und fordert Architekten auf, den Kommerz zu umarmen. "Der Markt ist der unsichtbare Architekt unserer Städte. Und wo sie hässlich sind, rächt es sich eben, dass die Architekten diese Welt des Konsums immer nur verachtet haben - es käme heute darauf an sie zu verändern. Kluge Köpfe wie Jon Jerde und Rem Koolhaas haben erkannt, dass die Wiederbelebung der Stadt von den konsumbasierten öffentlichen Räumen ausgehen muss."

Weitere Artikel: Norman Mailer - "Berserker, Kraftlackel, Schwergewichtsschreibmonster" - erhält einen Nachruf von Willi Winkler, in dem vor allem das Selbstvermarktungsgenie Mailer gewürdigt wird. Christian Kortmann würdigt YouTube nach tausend Tagen Existenz als zentralen Sammelpunkt der visuellen Kultur. Franziska Brüning porträtiert Francisco Graells alias Pancho, einen der vier Haus-Karikaturisten von Le Monde. Jörg Häntzschel notiert, dass neben den Drehbuchschreibern jetzt auch New Yorks Bühnenarbeiter streiken. Johan Schloemann war dabei, als das Historische Kolleg in München über "Heilige Kriege" diskutierte und dem Kollegen Gerhard A. Ritter den Historikerpreis vermachte. Joanne K. Rowling klagt gegen das geplante Harry-Potter-Lexikon eines amerikanischen Verlags, wie gemeldet wird.

Auf der Medienseite fragt sich Thomas Schuler, warum die Bancroft-Familie ausgerechnet eine 27-jährige Sängerin aus Genf in den Aufsichtsrat von Rupert Murdochs News Corporation schickt.

Im Literaturteil ist Martin Mosebachs Rede auf Robert Gernhardt zu lesen, gehalten anlässlich der Eröffnung einer Ausstellung mit Gernhardts Tagebüchern im Marbacher Literaturarchiv. "Der Dichter als Mineraloge: er schlägt mit seinem Hämmerchen auf nichtssagend graue Steine, die zerspringen und in ihrem Innern eine funkelnde Druse enthalten. In diesen Regionen des Dichtens ist die Form als strenge Zuchtmeisterin ganz zurückgetreten und beinahe unauffällig geworden. Herrin ist sie eben nur für den lyrisierenden Dilettanten; für Robert Gernhardt war sie eine gehorsame und ergebene Dienerin."

Besprochen werden Alvis Hermanis' Inszenierung der Auftragsarbeit "The Sound of Silence. Ein Konzert von Simon & Garfunkel 1968 in Riga, das nie stattgefunden hat" für das Festival "spielzeiteuropa" der Berliner Festspiele, ein Beethoven-Abend mit dem niederländischen Pianisten Ronald Brautigam am vergangenen Freitag im Herkulessaal, Anna Ditges' Film "Ich will Dich" über Hilde Domin, neue DVD-Veröffentlichungen wie Terry Gilliams "Tideland", sowie eine Hörvariante von Katherine Mansfields Sottise "Deutsche beim Fleisch".