Heute in den Feuilletons

"Weil ich ein Künstler bin"

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
26.11.2007. Im Tagesspiegel gewinnt Kerstin Decker aus den Erinnerungen Florian Havemanns ein recht unvorteilhaftes Bild der Dissidenz. In der FR dagegen betrachtet Yaak Karsunke diese Erinnerungen als "monströs aufgeschwemmte Klatschkolumne". Für die taz besucht Gabriele Goettle eine Märchenerzählerin. In seinem Blog beschreibt Rainald Goetz die Schwierigkeit des Schreibens über Journalismus.

Tagesspiegel, 26.11.2007

Die Autorin Kerstin Decker liest für den Tagesspiegel am Sonntag die vielerwarteten Erinnerungen von Florian Havemann, in denen sich herausstellt, dass selbst Dissidenten keine Engel sind. Vor allem Biermann missfällt ihr: "Biermann. Es gibt Menschen, auf die man sich im Notfall verlassen kann - und die anderen. Biermann gehört ziemlich eindeutig zur zweiten Gruppe, das haben viele in Ost - und später in West! - bezeugt. Und die Unterzeichner des Protests gegen die Ausbürgerung Biermanns wurden nie müde zu betonen, dass es nicht um Biermann ging, nicht um die Person, nur um den Fall. Ein Prahler, ein Geck, ein Aufreißer, der selbst vor Margot Honecker nicht haltmachte? Biermann selbst schreibt, M. H. habe bei ihm zu Hause 'mit zusammengeklemmten, ideologisch weggeknickten Knien' hochoffiziös in dem Sessel gesessen, der sonst Robert Havemann vorbehalten war. Ja, mein Gott, der Mann ist Künstler."
Stichwörter: Dissidenten, Havemann, Robert

FR, 26.11.2007

Florian Havemanns Autobiografie "Havemann" ist ein Produkt der "Tonnen-Ideologie" des Ostblocks, schimpft Yaak Karsunke. Je mehr Beleidigungen, desto besser. "Wolf Biermann und Robert Havemann sind nicht die einzigen Hassobjekte in dieser monströs aufgeschwemmten Klatschkolumne; wer immer ein bisschen erfolgreicher ist als der Verfasser, hat eine gute Chance, mit Verbalinjurien, Indiskretionen, Unterstellungen und Verdächtigungen an den Pranger gestellt zu werden. Am liebsten wäscht Florian Havemann anderer Leute schmutzige Wäsche - und anschließend die eigenen Hände in Unschuld. Er war es ja gar nicht, er konstatiert doch nur, gibt halt seine eigene Sicht wieder in endlosen Selbstbespiegelungen, die beweisen sollen, was er für ein sensibler, reflektierter und kreativer Kopf ist, 'weil ich ein Künstler bin', wie er mehrfach beteuert."

Weiteres: Harry Nutt fragt sich, ob es richtig ist, wie Kulturstaatsminister Bernd Neumann vor allem in das kulturelle Erbe zu investieren. Arno Widmann war in München, als dort der Deutsche Theaterpreis vergeben wurde. Stephan Hilpold glaubt nach dem Auftakt mit vier Erstaufführungen, dass Andreas Beck als neuer Intendant des Wiener Schauspielhauses zumindest schon mal das richtige Umfeld geschaffen hat. In der Times mager kommt Ina Hartwig auf Günter Grass' Klage gegen die SS-Passage in Michael Jürgs Biografie zurück.

TAZ, 26.11.2007

Gabriele Goettle besucht in diesem Monat eine Märchenerzählerin für Erwachsene. "Es gibt immer Tee. Der Samowar ist mein bester Mitarbeiter! Ich bin festlich gekleidet, es gibt einen Leuchter, vielleicht einen Teppich, meinen Stuhl aus Damaskus. Ich forme mit meiner Stimme, mit meinem ganzen Körper die Erzählung, ich gehe herum oder ich sitze. Manchmal sitze ich aber auch einfach nur mit den Leuten zusammen an einem Tisch und erzähle. Man braucht ja eigentlich nichts weiter. Das ist ja das Gute! Und ich praktiziere natürlich freies Erzählen, im Unterschied zur Europäischen Märchengesellschaft, die auswendig Gelerntes vortragen lässt. Aber da sitzt sie leider einem Irrtum auf. Wortgetreue Wiedergabe gab es bei Epen und auch Mythen, besonders auch bei schriftlosen Völkern. Aber die Märchen wurden traditionell immer variiert und verändert. Im Kleide der Märchen wurden ja auch politische Botschaften versteckt und weitergetragen."

In der zweiten taz resümiert Ronald Düker ein Europa-Gespräch von Frank-Walter Steinmeier und Jürgen Habermas im Berliner Willy-Brandt-Haus. Philipp Gessler gratuliert dem Filmregisseur Rosa von Praunheim zum 65. Geburtstag.

Und Tom.

Welt, 26.11.2007

Wolf Lepenies schreibt zum 150. Todestag von Joseph von Eichendorff. Jeannette Neustadt berichtet von der Verleihung der "Faust"-Theaterpreise in München. Eckhard Fuhr glossiert die Diskussion zwischen Jürgen Habermas und Außenminister Frank-Walter Steinmeier über Europa in Berlin. Dankwart Guratzsch freut sich, dass jetzt auch Hannover ein Schloss wiederaufbauen darf: die Volkswagenstiftung spendiert 20 Millionen für Herrenhausen, die Sommerresidenz der Welfen. Hildegard Strauberg berichtet, dass Dresden die Gründung eines Welt-Kulturforums nach Davoser Vorbild plant. Ulrike Simon spricht mit Caren Miosga über ihre ersten Monate als Moderatorin der Tagesthemen.

Auf den Forumsseiten räumt Soziologe Gunnar Heinsohn zwar ein, dass es den genetischen Beweis für ethnische Intelligenzunterschiede nicht gibt, ist sich aber dennoch sicher, dass diese existieren. Schließlich gebe es auch keine Garantien, dass Umwelteinflüsse komplett ausgeglichen werden könnten.

Aus den Blogs, 26.11.2007

Rainald Goetz denkt in seinem Blog bei Vanity Fair über das Wesen des Online-Journalismus nach und kommt dann auch zu einigen deprimierenden Erwägungen über den Journalismus selbst, nämlich, dass es "absurderweise überhaupt nicht gegen die real praktizierte publizistische Berufsehre" verstoße, wenn "Bekannte sich gegenseitig öffentlich fördern, protegieren, besprechen, dass ein Lob ein Gegenlob oder ein Jobangebot hervorbringt, weil die nepotistische Verflechtung aller mit allen der von allen akzeptierte Normalfall ist. Positives kann man folglich nicht sagen, das Negative sowieso nicht, da droht Klage, Sanktion, Gegenrecherche und Exkommunikation des Sprechers, aber natürlich auch des verantwortlichen Chefs aus dem Kreis der anderen wichtigen Mitmacher."

Der Perlentaucher ist ja bisher zu faul dazu. Nun gibt es einen "Sonntagstaucher" (der auch noch so heißt) bei Medienlese: Sonntags in den Feuilletons.

NZZ, 26.11.2007

Der Sinologe Roland Altenburger erinnert an die Entdeckung des Handschriftenschatz von Dunhuang, den europäische Forscher 1907 zum nachhaltigen Ärger Chinas gehoben - geraubt oder gerettet haben: "Spätere Forschungen haben ergeben, dass die Höhle rund neun Jahrhunderte vor ihrer Entdeckung versiegelt und später offenbar vergessen worden war. Nach neuesten Erkenntnissen gilt es als am wahrscheinlichsten, dass die alarmierende Nachricht von der Eroberung und Zerstörung des mit Dunhuang eng verbundenen buddhistischen Reichs Khotan durch die islamischen Karakhaniden, im Jahr 1006, den unmittelbaren Anlass für die Füllung und Schließung der Höhle gab. Es wird zudem vermutet, dass es sich bei dem Manuskriptschatz ursprünglich um eine intakte buddhistische Klosterbibliothek gehandelt hatte und nicht etwa, wie Stein vermutete, um eine Altpapierhalde, denn viele Tausende von Schriftrollen wurden in Dutzendbündeln säuberlich verpackt und sogar etikettiert vorgefunden."

Weiteres: Roman Bucheli resümiert ein Symposion zum Stand der europäischen Literaturkritik in München. Besprochen werden die Ausstellung zu John Everett Millais in der Tate Britain, das Festival "Taktlos" in Bern und Christina Paulhofers Inszenierung von "Antonius und Cleopatra" am Theater Basel.
Stichwörter: Tate Britain, Theater Basel

SZ, 26.11.2007

Mit vier Erstaufführungen von jungen Autoren hat Andreas Beck seine Intendanz am Wiener Schauspielhaus begonnen. Till Briegleb unterstützt diese Risikofreude, auch wenn nicht alles gelingt: "Herrn Becks Gespür für Text beweist sich aber nur eine Stunde später mit der Uraufführung von 'hamlet ist tot. keine schwerkraft'. Denn den bisher unbekannten Autor dieses Stückes, Ewald Palmetshofer, hat Beck für das erste Jahr gleich zum Hausautor gemacht, und die realistische Studie über schwelende Verletzungen rechtfertigt diese Entscheidung mit knappen Dialogskalpellen. Der unter Nettigkeiten schwelende Hass zwischen alten Freundinnen, die sich wegen eines Mannes in die Verachtung begeben haben, wird ebenso gemein ausgekostet wie die Wundheit einer Mutter, die Oma nicht mehr im Haus erträgt."

Weitere Artikel: Ernüchtert berichtet Jens Bisky über eine Europa-Diskussion von Jürgen Habermas und Frank-Walter Steinmeier im Berliner Willy-Brandt-Haus, bei der sich zeigte, wie weit universalistische Aufklärung und Alltagspolitik voneinander entfernt sein können. Erzürnt attestiert Christiane Kohl Dresden, das jetzt alte Eichen gefällt hat, die der Waldschlösschenbrücke im Weg standen, eine grassierende "Kulturlosigkeit". In Oxford debattiert man über die Einladung David Irvings in einen studentischen Debattierclub, berichtet Alexander Menden. Thomas Steinfeld beweist dem Vatikan, dass die Wiedereinführung gregorianischer Kirchenmusik das Rad der Verweltlichung vorantreiben und nicht zurückdrehen würde. Bei einer Münchner Klimadiskussion muss Jeanne Rubner eingestehen, dass Craig Venters geplante Bakterienkolonien zwar faszinierend sind, Hans Joachim Schellnhubers Forderungen nach Emissionszielvorgaben aber realistischer. Harald Eggebrecht gratuliert zum sechzigsten Geburtstag des Münchner Zentralinstituts für Kunstgeschichte.

Auf der Literaturseite gibt der Lektor Martin Hielscher Antworten auf die sechs häufigsten Fragen an seinen Berufsstand.

Besprochen werden die Schau "Turner, Hugo, Moreau - Entdeckung der Abstraktion" in der Frankfurter Kunsthalle Schirn, ein Konzert des polnischen Pianisten Rafal Blechacz in München, Vanessa Jopps Weihnachtskomödie "Meine schöne Bescherung", DVD-Neuveröffentlichungen wie Hans-Jürgen Syberbergs Kalr-May-Film "Bloody Dark Grounds", und Bücher wie Axel Gotthards Studie über das Raumgefühl "In der Ferne" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

FAZ, 26.11.2007

Lorenz Jäger stellt den neuen Feuilletonroman der FAZ vor, eine Dokumentarrecherche Hans Magnus Enzensbergers über den Reichswehr-General von Hammerstein, der sich zwischen den beiden Totalitarismen bewegte. Iring Fetscher erklärt den Polen aus der Geschichte ihres Adelsparlaments, dass sie eigentlich bei der EU für ganz andere Abstimmungsmodi hätten stimmen müssen. Hubert Spiegel nutzt die Klage Günter Grass' gegen seinen Biografen Michael Jürgs, der in der neuesten Auflage seiner Biografie behauptete, Grass habe sich "freiwillig" zur SS gemeldet, um noch einmal in der Wunde zu bohren. Jordan Mejias wirft einen Blick auf den Streik der Bühnenarbeiter am Broadway. Kerstin Holm erzählt neueste Episoden der putinistischen Kunstzensur bei Ausstellungen im In-und Ausland.

Auf der Medienseite berichtet Oliver Jungen über das Fernsehfilm-Festival in Baden-Baden. Für die letzte Seite ergeht sich Eberhard Rasthgeb in Europas größtem Biosupermarkt, dem LPG-Biomarkt in Berlin-Prenzlauer Berg. Dieter Bartetzko porträtiert die Gründerin der Berliner Architekturgalerie Aedes, Kristin Freireiss, die die Ehrenbürgerwürde der TU Braunschweig bekommt. Und Andreas Rossmann fragt sich, wes mit der übrig gebliebenen Sakralkunst aufgelassener Kirchen in NRW geschehen soll.

Besprochen werden eine (von Irene Bazinger dringend empfohlene) Dramatisierung der Schubertschen "Winterreise" durch Regisseur Michael Thalheimer am Deutschen Theater Berlin, eine Ausstellung mit Fotos Norbert Vogels in Leipzig, eine Ausstellung über Eichendorff in Frankfurt, Volker Schmidts Stück "Mountainbiker" in Heidelberg und einige Bücher, darunter eine Monografie über Noam Chomsky und Georges-Arthur Goldschmidts neuester Roman "Die Befreiung" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).