Heute in den Feuilletons

Den roten Hebel umgreift sie

Wochentags ab 9 Uhr, am Sonnabend ab 10 Uhr
07.12.2007. In der SZ erklärt Andras Schiff, wann und warum er Bösendorfer spielt. Die FR begrüßt einen bedeutenden Moment in der Geschichte der Musikübertragung: Die Freischaltung des Katalogs der Deutschen Grammophon im Internet. Die NZZ feiert die europäischen Medien Economist, International Herald Tribune, Perlentaucher und Eurotopics. In der FAZ erklärt der Psychiater Karl Kreutzberg, warum Mütter, die morden, morden. In der Welt erzählen die Gebrüder Reding, wie ihnen die Deutsche Bahn einmal das Leben rettete.

FR, 07.12.2007

Der britische Musikkritiker Norman Lebrecht kommentiert die Entscheidung der Deutschen Grammophon, ihre Bestände auch digital im Netz zu verkaufen. "Die Beschleunigung kam so plötzlich, dass die Künstler weder informiert wurden, dass ihre Musik zum Download bereitgestellt würde, noch dass die Internetseite nicht mit einem Digital Rights Management versehen ist, das heißt, dass die Musikstücke frei kopier- und in jedem Format abspielbar sind. Es war ein mutiger Schritt in unbekannte Gefilde, der Versuch, der klassischen Musik in dem von den großen Labels beherrschten Cyberspace eine Nische frei zu räumen, und ein wichtiger Moment in der Geschichte der Musikübertragung. Wenn der Plan aufgeht, besteht eine reelle Chance, das Interesse an Klassik neu zu wecken, besonders auf den neuen asiatischen Märkten. Geht es schief - nun, besser, man denkt nicht drüber nach."

Weitere Artikel: Dass die gewollte und ungewollte Zusammenarbeit westlicher Journalisten und der Stasi noch heute eine "heiße Kiste" ist, erfährt Gabriele Renz vom Journalisten Christhard Läpple auf einer Tagung zur "Macht der Bilder" in Stuttgart. In einer Times mager spießt Sylvia Staude die russischen Vorwürfe über schwerelosen Sex bei der NASA auf.

Besprochen werden das neue Album "8 Diagrams" des Wu Tang Clans und die Uraufführung von Erkki-Sven Tüürs Stück "Questions" in der alten Oper in Frankfurt.

TAZ, 07.12.2007

RZA, der Chef des HipHop-Kollektivs Wu-Tang Clan, offenbart Thomas Winkler und Tobias Rapp seine Wunsch-Elo-Zahl und seine Sympathien für Hillary Clinton. "Ich bin überhaupt nicht politisch. Aber als die Clintons an der Macht waren, ging es meinen Leuten besser. Sie waren nicht reich, aber es gab genug zu essen, sie hatten alles, was sie brauchten. Heute heißt es, der amerikanischen Wirtschaft geht es gut. Wo denn, bitte schön? Der kanadische Dollar ist mittlerweile mehr wert als der amerikanische. Als Clinton Präsident war, war der kanadische Dollar gerade mal 60 US-Cent wert. So sehe ich das, streng auf ökonomischer Basis: Was kommt in den Projects an? In den Neighborhoods hungern die Leute, die Gewalt wird immer schlimmer und die Umweltverschmutzung auch. Und es gibt immer mehr Babys, weil die Leute nichts zu tun haben, als zu ficken."

In der zweiten taz unterhält sich Max Hägler mit Oliver Nauerz und Katrin Seeger, die den Dokumentationsfilm "Mia san dageng" über die Münchner Punkszene gedreht haben: "Hier wird einem halt nix geschenkt, hier musst du dir was einfallen lassen." Auf der Medienseite findet sich eine Meldung, dass Stefan Niggemeier abgemahnt wurde, weil er einen in der Nacht auf seinem Blog angekommenen User-Kommentar erst am Morgen danach löschte.

Besprechungen widmen sich der Ausstellung "Büroklammern biegen" über die Arbeit in Gefängnissen im Schauraum Bautzner69 in Dresden und neuen Alben von Rufus Wainwright und Daft Punk.

Und Tom.

NZZ, 07.12.2007

In den europäischen Medien dominiert der nationale Blick, konstatiert Heribert Seifert auf den Medienseite. Ausnahmen bilden bisher nur die internationalen Wirtschaftsblätter - und einige Internetmagazine: "Signandsight.com, eurozine.com, aber auch cafebabel.com und eurotopics.net stellen Plattformen bereit, auf denen man sich schnell und zuverlässig über zentrale politische und kulturelle Themen der öffentlichen Erörterung in den europäischen Ländern unterrichten kann. Zum Teil mehrsprachig, zum Teil unter Nutzung des Englischen als Lingua franca, gelingt es diesen Online-Medien, die Vielstimmigkeit Europas anschaulich zu machen und auch den Austausch zu vermitteln. Exemplarisch gelang das signandsight.com mit der transnationalen Diskussion über Risiken und Chancen der multikulturellen Gesellschaft, die online begann und dann von Pressetiteln in verschiedenen Ländern aufgegriffen wurde."

Im Feuilleton stöhnt Joachim Güntner über den Ranking-Wahn und die "Ausweitung der Zensurzone". Besprochen werden der vom japanischen Architekturbüro Sanaa entworfene Neubau des New Yorker New Museum und die Modedesign-Ausstellung "ControModa" im Florentiner Palazzo Strozzi.

Die Phono-Seite widmet sich mehreren Aufnahmen der Berliner Philharmoniker mit Simon Rattle und zwei "von grundverschiedenen Musizierhaltungen geprägten" Einspielungen des Beethoven-Konzerts für Violine und Orchester D-Dur op. 61 der Prager und der Wiener Philharmoniker.

FAZ, 07.12.2007

Im Interview mit Sandra Kegel beschreibt der forensische Psychiater Karl Kreutzberg, wie es zu Mordtaten von Müttern an ihren Kindern, wie jetzt in Plauen und Darry, kommen kann: "Die Kinder haben keine Zukunft, denken diese Frauen. Das Leben sei zu Ende, weil sie ihre soziale Situation nicht in den Griff bekommen. Die Dinge wachsen ihnen über den Kopf, die Männer haben sie verlassen. In der depressiven Einengung ins Katastrophische glauben sie, ihre Kinder davor bewahren zu müssen. Meist beginnt die Tat als erweiterter Selbstmordversuch. Erst wollen sie ihre Kinder umbringen und dann sich selbst. Wenn sich der aggressive Affekt im Tötungsakt der Kinder abgearbeitet hat, verbleibt oft nicht mehr die Kraft, Hand an sich selbst zu legen."

Weitere Artikel: Joachim Müller-Jung berichtet von ersten Therapieerfolgen mit künstlichen Stammzellen bei Mäusen - erklärt aber auch, warum für große Therapiehoffnungen beim Menschen noch wenig Anlass besteht. In seiner "KunstStücke"-Kolumne befindet Eduard Beaucamp, es sei etwas faul im globalen Kunstbetrieb, da sich die Ästhetik der Moderne zum internationalen Esperanto entwickelt habe. In der Glosse deutet Dieter Bartetzko Pläne, die Frankfurter Matthäuskirche zum Anhängsel eines geplanten Hochhausbaus zu machen, als Zeichen der Zeit. Andreas Kilb gratuliert dem Deutschen Historischen Museum in Berlin zum einmillionsten Besucher nach Wiedereröffnung vor anderthalb Jahren. Bei einer Tagung zu Ehren des von Martin Mosebach wie Botho Strauß verehrten reaktionären Sentenzen-Denkers Nicolas Gomez Davila hat Felix Johannes Krömer die Schrumpfung Davilas zum "kolumbianischen Kuriosum" erlebt. Von den Kasseler Musiktagen berichtet Gerhard Rohde. Joseph Hanimann stellt den meistgespielten zeitgenössischen Dramatiker Frankreichs vor, den 1995 an Aids verstorbenen Jean-Luc Lagarce. Paul Ingendaay erklärt, warum es in Spanien keine Anti-Eta-Massendemonstrationen mehr gibt. Eine Meldung informiert uns über die Gründung einer Peter-Hacks-Gesellschaft e.V.

Besprochen werden die Ausstellung der Sammlung Borromeo im Wiener Palais Liechtenstein, die Aufführung von Caryl Churchills Stück "Betrunken genug zu sagen ich liebe dich?" an der Berliner Schaubühne ("Zeitverschwendung", klagt Irene Bazinger), der Darmstädter Auftritt des Orchestra Baobab aus dem Senegal, Maria Speths Film "Madonnen" und Bücher, darunter Niels Werbers Studie "Die Geopolitik der Literatur" und die Joachim-Fest-Essay-Sammlung "Nach dem Scheitern der Utopien" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Welt, 07.12.2007

Die Gebrüder Reding machen Filme über Außenseiter. Gerade läuft "Für den unbekannten Hund" im Kino, ein Film über Handwerker auf Wanderschaft. Ihr Film "Oi! Warning" über Skinheads ist ihnen von diesen bis heute nicht verziehen worden. In einem kleinen Erinnerungstext erzählt Dominik Reding, wie die beiden Brüder auf dem Bahnhof von Erfurt mal von scharfschießenden Skins gejagt wurden: "Oh, wie freundlich kann ein Zug aussehen, wenn er pünktlich im richtigen Gleis steht. Wir reißen die Wagontüren auf, springen ins erste Abteil. Eine Mutter mit zwei Kindern sitzt da und wirft sich und ihre Kinder zu Boden. Laut sind die Schüsse zu hören. Sie kommen näher. Eine Schaffnerin rennt jetzt durch den Gang, fummelt nervös an einer Schalttafel herum. Den roten Hebel umgreift sie, drückt ihn wieder und wieder nach unten. Klack! Die automatische Türverriegelung schnappt zu. Der Zug fährt los, lang vor der Abfahrtszeit. Wir dürfen weiterleben."

Weitere Artikel: Wolf Lepenies freut sich, dass Scharen junger Französinnen deutsch lernen wollen, auch wenn es nicht an Goethe liegt, sondern an Tokio Hotel. Ulli Kulke fragt, wie genau Galileo Galilei, nach dem ein Navigationssystem benannt wird, wohl selbst navigiert hätte. Michael Pilz unterhält sich mit Blixa Bargeld über die neue Platte der stets noch Einstürzenden Neubauten. Marion Leske besucht unterirdische Baustellen in Köln, wo man alle halbe Meter auf archäologische Schätze stößt.

Besprochen werden die Ausstellung "All about Evil - Das Böse" in Bremen und eine Ausstellung über Harry Graf Kessler in Berlin.

SZ, 07.12.2007

Der Pianist Andras Schiff wirbt im Gespräch mit Wolfgang Schreiber für die Vielfalt im Klavierbau. Gerade wurde nämlich Bösendorfer an Yamaha verkauft. "Auf dem Bösendorfer spielte ich die Sonaten, die an Schubert anklingen, auf dem Steinway jene, die den kantigeren Charakter besitzen. Man kann dabei an die deutsche Sprache denken: Der Klang des Steinway wäre dem Hochdeutschen vergleichbar, der des Bösendorfer aber dem Wiener Dialekt. Nestroy wirkt natürlich besser auf Wienerisch, aber Goethes 'Faust' muss nicht unbedingt auf Prater-Deutsch rezitiert werden. Wichtig ist, dass Bösendorfer am Leben bleibt - leider spielen heute 99 Prozent aller Pianisten auf dem Steinway. Das ist eine Art von Globalisation."

Weitere Artikel: Der Orientalist und Autor Navid Kermani findet das tatsächliche Zusammenleben zwischen Deutschen und Muslimen bemerkenswert enspannt, so steht es in seiner abgedruckten Rede, die er am Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen hielt. Alexander Menden analysiert die Engländer durch und konstatiert Verlustängste bezüglich ihrer britischen Identität; beispielhaft dafür sei das umstrittene Interview (Auszüge) mit dem Sänger Morrissey im New Musical Express. Lothar Müller malt sich die Unglücksphantasien aus, die auf Lottogewinner projiziert werden. Laut dem polnischen Historiker Kazimierz Woycicki könnte bald Bewegung in die Rückgabe der in Krakau lagernden Sammlung der Preußischen Staatsbibliothek kommen, meldet Thomas Urban. Stefan Koldehoff berichtet, dass die öffentlichen Museen durch die anhaltend hohen Kunstpreise einige Leihgaben privater Sammler jetzt wieder an den Markt verlieren.

Auf der Medienseite erfährt Nikolas Westerhoff von Wikipedia-Administrator Kurt Janson, wer bei der Online-Enzyklopädie was wann löscht.

Besprochen werden Gerhard Stäblers Oper "Letzte Dinge", bei der man sich als Zuschauer durch die Eingeweide des Würzburger Mainfranken-Theaters bewegt, die Erstaufführung von Caryl Churchills Stück "Betrunken genug zu sagen ich liebe dich?" an der Berliner Schaubühne und Bücher, nämlich die Neuübersetzung von Stendhals Roman "Die Kartause von Parma", Kim Christian Priemels Untersuchung der Konzerngeschichte der "Flick"-Familie sowie Kinder- und Jugendbücher (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).