Heute in den Feuilletons

Habituelles Beleidigtsein

Wochentags ab 9 Uhr, am Sonnabend ab 10 Uhr
11.12.2007. Die NZZ beobachtet die leise Revolution weiblicher und schwuler SchriftstellerInnen in Polen. Stefan Niggemeier fragt in seinem Blog: Wie ist die SZ auf die Schnapsidee mit dem Web 2.0 gekommen? In der Welt schildert die Filmemacherin Irene Langemann, wie auf der Rubljovka in Moskau Putins Eskorte vorbeirauschte. Die FR bemerkt: Die neuen Länder verdauen den real existierenden Nicht-Sozialismus mithilfe gehäufter Faust-Inszenierungen. Die SZ fühlt bei Betrachtung Matthias Grünewalds schwerste Pein.

NZZ, 11.12.2007

Die leise Revolution weiblicher und schwuler SchriftstellerInnen Polens beobachtet Marta Kijowska: "Genauso wie die meisten Schriftstellerinnen der Frauenbewegung fernbleiben, setzen sich auch die schwulen Autoren kaum direkt für die Belange ihrer 'Schwestern' ein. Sie müssen es allerdings nicht tun - mit ihren Büchern und dadurch, dass sie sich öffentlich als Homosexuelle outen, leisten sie ohnehin den wichtigsten Beitrag. Und ein Engagement ist in diesem Fall allemal nötig. Die von der abgewählten Kaczynski-Regierung geschürte Intoleranz gegenüber allen Andersartigen wurde zwar immer wieder kritisiert, im Falle der Homosexuellen stieß sie aber doch oft auf fruchtbaren Boden. Erst vor kurzem ergab eine Umfrage, dass 84 Prozent der Befragten sich einen schwulen Politiker an der Spitze des polnischen Staates nicht vorstellen könnten."

Weiteres: Besprochen werden das gestrige Led Zeppelin-Konzert ("eine gigantische Fete zwischen Hype und Nostalgie") in Londons O2-Arena, Robert Carsens Inszenierung des "Tannhäuser" von Wagner in der Pariser Opera Bastille und das Stück "Jesus und die drei Mareien" von Hansjörg Schneider in der Mariahilf-Kirche Luzern.

Die Buchrezensionen widmen sich einem Band mit Arno Schmidts "Briefwechsel mit Kollegen", der NS-Satire "Die Jäger auf Karinhall" von Carl-Henning Wijkmark, Salim Alafenischs autobiografischer Erzählung "Die Feuerprobe", Betsy Udinks Studie "Allah & Eva. Der Islam und die Frauen" sowie dem Lyrik- und Prosa-Band von Ludvik Kundera "el do Ra Da(da)" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Aus den Blogs, 11.12.2007

Die SZ schränkt die Kommentarerlaubnis ihres Web 2.0-Angebots sued-cafe ein. Stefan Niggemeier fragt, unter Anspielung auf Bernd Graffs Artikel gegen die Bloggerei vom Samstag: "Wer ist überhaupt auf die Idee gekommen, dass der Online-Auftritt der Zeitung, die das Internet für eine der größten Geißeln der Menschheit hält und bei der aus jedem Artikel zum Thema die Verachtung für die wild durcheinanderplappernde Masse sickert, die nicht die Legitimation eines Hausausweises des Süddeutschen Verlages oder wenigstens eines Presseausweises hat, wer ist auf die Schnapsidee gekommen, dass diese Zeitung eine Online-Community haben sollte?" Als ein überzeugendes Beispiel für innovative Qualität bei der SZ-Online führt Niggemeier die Klickstrecke "237 Gründe für Sex" an.
Stichwörter: Internet

Welt, 11.12.2007

Irene Langemann hat einen Dokumentarfilm über die Moskauer Rubljovka gedreht, die Straße, an der die Oligarchen wohnen. In der Welt erzählt sie, wie schwer es war, überhaupt Drehgenehmigungen zu bekommen. Und am allerwenigsten durfte sie filmen, wie Putins Autokolonne vorbeirauscht. Am Ende gelang es ihr doch: "Vorher ist alles totenstill, dann zieht ein Grummeln auf wie ein Gewitter und die Putin-Eskorte rast durch das Bild. Danach zwitschern wieder die Vögel und die an den Straßenrand gedrückten Autos fahren weiter. Ein Symbol wie aus dem Feudalismus, wo alle Passanten sich verbeugen mussten, wenn der Herrscher mit seinem Tross vorbeifuhr. Dieses Bild könnte auch ein Symbol des heutigen Russlands sein."

Weitere Artikel: Uwe Wittstock erinnert an Heinrich Böll, der in diesen Tagen neunzig Jahre alt geworden wäre. Stefan Woldach hört sich Till Brönners Weihnachts-CD an. Alexandra Maschewski berichtet von den Dreharbeiten eines Films über die "Landshut"-Entführung.

Besprochen werden eine Ausstellung eines Teils der legendären Sammlung Borromeo in Wien, Verdis "La Traviata" in der Inszenierung Achim Freyers in Mannheim und Osvaldo Golijovs Oper "Ainadamar" in Darmstadt.

FR, 11.12.2007

Auf deutschen Bühnen wird Faust derzeit a la Oskar Negt als "gescheiterter Unternehmer" porträtiert, erkennt Dirk Pilz in einem Blick auf mehrere Inszenierungen. "Vielleicht ist das auch einer der Gründe für die Dauerpräsenz des 'Faust'-Stoffes gerade auf den ostdeutschen Bühnen. Die verrückt machenden Umdefinitionen erfährt man hier in doppelter Weise: als Bewohner der Gegenwart und als Übersiedler vom real existierenden Nicht-Sozialismus in die harte, leistungsorientierte Wirklichkeit des kapitalistischen Überlebenskampfes. Es fällt zumindest auf, dass beinahe jede größere ostdeutsche Bühne entweder einen 'Faust' im Spielplan hat oder in dieser Saison herausbringt."

Weiteres: Judith Sternburg sinniert in einer Times mager über den Lauf der Welt in einem irischen Kaff. Besprechungen widmen sich Stephan Kimmigs Version von Tom Lanoyes "Mamma Medea" an den Münchner Kammerspielen, einem durch den Streik einiger Bühnentechniker vielleicht sogar beflügelten "Tannhäuser" an der Opera Bastille in Paris, einer Schau des Videokünstlers Aernout mik im Kunstverein Hannover, Jörg Mannes "lauen" Choreografie von Shakespeares "Sturm" mit dem Bayerischen Staatsballett und Doris Lessings Roman "Die Kluft".

Außerdem gibt es heute die Literatubeilage der FR, wir werden sie in den nächsten Tagen auswerten.

TAZ, 11.12.2007

Klaus Walter reist mit Peter O. Chotjewitz' Roman "Mein Freund Klaus" in das linke Milieu der BRD zurück und fühlt sich akkurat erinnert, fast zu sehr. "Lieber vergessen möchte man den altertümlichen Jargon linker Eigentlichkeit, der sich durch das Buch zieht. Da wimmelt es von 'Genossen', die 'unerschrocken kämpfen', von 'Draufgängern', 'Wachteln' (Gefängniswärter), 'Gorillas' (Leibwächter) und 'Schlapphüten' (Agenten), Geld heißt 'Knete', Zusammenhänge werden 'verklickert' und 'Der Grüne' ist nicht etwa der Vertreter einer ökoliberalen Partei. Er ist Polizist. Diesen linken Konversationssound aus habituellem Beleidigtsein, Selbstgerechtigkeit und Besserwisserpathos ruft Chotjewitz in Erinnerung, bis es wehtut. Wobei zu hoffen ist, dass er den Jargon nur vorführt. Oder redet er wirklich so?"

Weiteres: Antonia Herrscher beschreibt ihre zahlreichen Angsterlebnisse in Berlin. Alexander Cammann weist auf Paolo Flores dArcais hin, der sich in der Zeit über Jürgen Habermas' Frieden mit der Religion wunderte. Klaus Raab vermutet auf der Medienseite, dass die Chefredakteure großer Blätter deshalb gerne aus dem Fernsehen geholt werden, weil die Außenwirkung zählt.

Besprochen werden Stephan Kimmigs Inszenierung von "Mamma Medea" an den Münchner Kammerspielen und das Deutschland-Buch "Geht so" des Fehlfarben-Sängers Peter Hein.

Und Tom.

SZ, 11.12.2007

Gottfried Knapp fühlt in Karlsruhe und Colmar mit Matthias Grünewald die Leiden Christi nach. "Kein Künstler der Geschichte hat sich mit dem Leiden, mit den Phänomenen des körperlichen wie des seelischen Schmerzes, so existenziell, ja fast wissenschaftlich experimentell auseinandergesetzt wie Grünewald. In zwei bestürzend weichtonigen, die Haut quasi fühlbar machenden Zeichnungen eines Männerkopfs mit charakteristisch ausladenden Wangenknochen führt er vor, wie ein Verzweiflungsschrei aus abgrundtiefer Not oder aus schwerster Pein ein menschliches Gesicht bis zur Unkenntlichkeit entstellt."

Weiteres: In Rumänien wird die eigene unrühmliche Rolle im Holocaust immer noch verdrängt, weiß Renate Nimtz-Köster. Lothar Müller verweist anlässlich hoher Managergehälter auf den italienischen Künstler Guido Reni, der schon Anfang des 17. Jahrhunderts Traumgehälter durchsetzte. Gemeldet wird, dass die in Hamburg gezeigten Terrakotta-Figuren wohl Fälschungen sind. Während die Denkmalschützer in Shanghai gerne die letzten der verwinkelten "Lilong" erhalten wollen, möchten deren Bewohner lieber in Hochhaussiedlungen umziehen, wundert sich Floran Urban. Stefan Sipell hat auf einer Tagung in Luzern genossen, wie Systemtheoretisches von Niklas Luhmann mit konkreten Fragestellungen belebt wurde. Alex Rühle hätte Bernard-Henri Levy empfohlen, das Frankreich-Bashing des Time-Magazine nicht einmal zu ignorieren. Joachim Kaiser animiert in einer Zwischenzeit zum Singen von Weihnachtsliedern.

Jörg Friedrichs Buch "Yalu" über die Nachwehen des Zweiten Weltkriegs strapaziert im Literaturteil gehörig Franziska Augsteins Nerven . "'Der Krieger', 'die Bombe', 'das Unheil': Nicht historische Akteure, sondern überzeitliche Gewalten sind Friedrichs Protagonisten. Über Maos Bauernarmee, die sich aus bitterarmen Menschen rekrutierte, heißt es: 'Dem Lager der Getretenen öffnete sich ein Lager der Rächer. Es wurde vom Vorsitzenden dirigiert wie ein Chor.' Diese flapsige Art, einen Krieg zu beschreiben, zieht sich durch das ganze Buch. Friedrich schreibt: 'Soldaten sind junge Leute, die sich beim Sterben zumindest amüsieren wollen.' Andernorts redet er vom 'Waffenhandwerk', das im Koreakrieg 'denunziert' wurde. Adolf Hitler bezeichnet er als 'überspannt'."

Besprochen werden eine Schau des Videokünstlers Aernout Mik im Kunstverein Hannover, eine Inszenierung von Henry David Thoreaus "Walden oder Leben in den Wäldern" unter der Regie von Sandra Strunz in Freiburg, Ulrike Ottingers Film "Prater" und Bücher wie Zvi Yavetz' "Erinnerungen an Czernowitz" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

FAZ, 11.12.2007

Joseph Croitoru hat sich die nach internationalen Protesten überarbeiteten neuen Schul-Lehrbücher und -Lehrpläne Saudi Arabiens angesehen, die im Internet im Volltext zu lesen sind. Liberale Erziehung stellt man sich nach wie vor anders vor: "Der Geschichtsunterricht befasst sich jetzt ausschließlich mit dem Leben des Propheten Mohammed, dem ein eigenes Unterrichtswerk gewidmet ist. Allerdings war der Lehrer bereits im Religionsunterricht für die zweite Klasse angewiesen, daneben auch über die religiösen und historischen Verdienste des Muhammad Abdel Wahhab aufzuklären, des Urhebers des Wahhabismus. Noch schlechter ist es um die Weltgeschichte an saudischen Schulen bestellt. Sie wird den Schülern vorenthalten, dafür aber die islamische Geschichte mit Betonung auf der Beschreibung der siegreichen Schlachten der Muslime immer wieder durchgekaut."

Weitere Artikel: Nicolas Sarkozys fröhliche Skrupellosigkeit im Umgang mit nicht ganz lupenreinen Demokraten wie Wladimir Putin und jetzt Muammar Gaddafi bringt, wie Joseph Hanimann berichtet, die Sarkozy-freundlichen Intellektuellen wie Andre Glucksmann in heftige Bedrängnis. Andreas Kilb wünscht sich, dass der nun vorgelegte Abschlussbericht der Enquetekommission zur "Kultur in Deutschland" jahrzehntealte Verkrustungen aufbrechen möge. In der Glosse befasst sich Edo Reents mit den frischgebackenen Lottomillionären Petra und Fritz. Über die Plänen Naumburgs und der Saale-Unstrut-Region, auf die Welterbe-Liste zu gelangen, informiert Günter Kowa. Teresa Grenzmann hat einen dem Autor und gegenwärtigen Poetikdozenten Helmut Krausser gewidmeten Workshop an der Uni München besucht. Joachim Müller-Jung kann es schon lustig finden, dass das vom Nobelpreisträger James Watson zur Sequenzierung freigegebene Genom erstaunliche Gemeinsamkeiten mit afrikanischem Erbgut aufweist - da ja Watson zuletzt den Schwarzen genetisch bedingte Minderintelligenz unterstellte. Von Turbulenzen im exklusiven, vom Dramatiker Tom Stoppard geleiteten Club mit dem Namen London Library weiß Gina Thomas. Auf der Forschung-und-Lehre-Seite wird die Dankesrede des Sozialwissenschaftlers Anthony Atkinson zum Erhalt des mit 100.000 Euro dotierten A.SK-Preis abgedruckt.

Besprochen weren die Ausstellung "Die große Kette der Wesen" in der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel, die Ausstellung "Sammlerglück" im Pergamonmuseum, die neue CD "Untrue" von Burial, eine Inszenierung von George Gershwins "Strike Up The Band" am Musiktheater im Revier (deren Misslingen Wolfgang Sandner ehrlich bedauert) und ein Buch, nämlich Paul Floras Erinnerungen "Wie's halt so kommt" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).