Heute in den Feuilletons

Ist die Demokratie ein Tanzmausverein?

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
17.12.2007. In der SZ wendet sich der Philosoph John Gray gegen einen dogmatischen Atheismus. In der Welt erklärt der Althistoriker Martin Jehne, warum die EU kein Imperium ist - wegen Reißzahnlosigkeit. Die NZZ beobachtet bei den Russen eine "Sehnsucht nach Zensur". Die FAZ ist gelassen: Die vielen Kochsendungen können unsere kulinarische Kultur auch nicht mehr kaputtmachen.

NZZ, 17.12.2007

Putins Gängelung der Medien trifft bei den Russen eine "Sehnsucht nach der Zensur", fürchtet Felix Philipp Ingold. Meinungsvielfalt, Kontroversen oder kritische Kommentare scheint niemand zu vermissen: "Als der kremlnahe Oligarch Arkadi Gajdamak vor zwei Jahren die traditionsreiche Moskauer Wochenzeitung Moskowskije Nowosti (Moscow News) übernahm, um sie seiner Sammlung von 'Markenartikeln' einzuverleiben, machte er der Belegschaft unmissverständlich klar, was er von ihr nicht erwartete: 'Zeitungen, welche für die öffentliche Meinung mitverantwortlich sind, sollten sich nicht gegen die Regierenden richten. Wenn die Machtträger in Russland in demokratischen Wahlen bestimmt worden sind, dann steht es den Medien nicht zu, ihr Publikum gegen die Machtträger aufzubringen.'"

Weiteres: Francois Zabbal, Direktor des Pariser Institut du Monde Arabe, stellt Frankreichs "laizistische Muslime" vor, die den radikalen Islamisten die Monopolstellung in der Diskussion nehmen wollen und sich für einen europäisierten Islam einsetzen. Urs Schoettli entdeckt den Porträtisten George Chinnery (1774-1852) und sein "euro-asiatisches Elysium" in einer Hongkonger Hotelbar.

Besprochen werden Peter Konwitschnys Inszenierung von Franz Lehars Operette "Land des Lächelns" am Theater Basel sowie Barbara Freys "theatralischer Triumph" mit Marivaux' Stück "Triumph der Liebe" am Deutschen Theater in Berlin.

Welt, 17.12.2007

Berthold Seewald unterhält sich mit dem Althistoriker Martin Jehne über die Rom-Mode im deutschen Fernsehen. Jehne erklärt auch, was die EU, trotz ihres Verdienstes, Europa den Frieden gebracht zu haben, von einem Imperium unterscheidet: "Imperien benötigen Durchsetzungsfähigkeit nach außen, also den Willen, Konflikte notfalls mit Gewalt zu lösen. Diese Reißzähne aber fehlen dem suprastaatlichen Verband namens Europa."

Weitere Artikel: Dankwart Guratzsch kritisiert die sächsische Städtebaupolitik, die private Hausbesitzer gegenüber den Plattenbaugesellschaften benachteilige und darum schmerzliche Abrisse zu verantworten habe. Ulrich Baron meditiert noch mal über den Klimagipfel und das Klima als solches. Hanns-Georg Rodek berichtet über aufsehenerregende Filmpläne der UFA. Sven Felix Kellerhoff begeht schon einmal das Lübecker Willy-Brandt-Haus, das morgen eröffnet wird. Uwe Wittstock porträtiert den Kurator Udo Kittelmann, der in der Berliner Nationalgalerie Ausstellungen organisieren soll.

Besprochen werden ein "Tartuffe" in Zürich, neue DVDs, darunter Reeditionen von Filmen mit Curt Goetz und ein Biografie über Dorothy L. Sayers.

Die DDR lebt fort, schreibt die Ex-Dissidentin Freya Klier im Forums-Essay und nennt als Beispiel den trotz der Stasi-Vorwürfe fröhlich waltenden Talkshowstar Gregor Gysi: "Fast alle kuschen. Journalisten und Politiker raunen einander zu, wie man die Wahrheit über Herrn Gysi so formuliert, dass der Prozesshansel einen nicht vor Gericht zerren kann. Am liebsten lässt man ganz die Finger davon und hält sich mutig an einem Eiskunstläufer schadlos... Ist die Demokratie ein Tanzmausverein?"

FR, 17.12.2007

Elke Buhr entlässt Udo Kittelmann, den bisherigen Direktor des Frankfurter Museums für Moderne Kunst, mit viel Lob in die neue Aufgabe als Leiter der Alten und Neuen Nationagalerie in Berlin. Hier "wird Kittelmann mit der Neuen Nationalgalerie Mies van der Rohes eine zwar etwas baufällige, aber in Künstlerkreisen geradezu fetischisierte Ausstellungshalle bespielen können - auch hier muss er dabei mit einer Sammlung arbeiten, die ihren Schwerpunkt im 20. Jahrhundert hat. Programmatisch hat er kontinuierliche qualitätvolle Arbeit immer dem Blockbuster-Prinzip vorgezogen; man wird sehen, wie er sich da mit dem einflussreichen Verein der Freunde der Nationalgalerie einigen wird, die seit der Moma-Ausstellung immer wieder gern die Menschenmassen ins Haus holen."

Weiteres: Sebastian Moll fürchtet nach der Übernahme des Wall Street Journals durch Rupert Murdoch nicht nur um die letzte Bastion des konservativen Qualitätsjournalismus in den USA, sondern auch um die New York Times. Christian Thomas bringt in einer Times mager Terakotta-Krieger, Videospiele und Wiedereröffnungen zusammen.

Besprechungen widmen sich einer Interpretation des "Don Giovanni" von Daniel Barenboim und Peter Mussbach in der Berliner Staatsoper unter den Linden und Denis Johnsons Roman "Der Name der Welt".

TAZ, 17.12.2007

Tilman Baumgärtel, der ein Buch über das Kino der Philippinen veröffentlicht hat (hier als Download), wünscht sich, dass das vitale Kino Südostasiens auch endlich dort gezeigt wird. "Trotzdem ist es mitunter leichter, diese Filme bei Festivals im Ausland zu sehen als in den Ländern, in denen sie produziert wurden. John Torres, dessen 'Todo Todo Teros' (2006) diverse internationale Filmpreise einheimste, aber in den Philippinen nur einige wenige Male gezeigt wurde, hat darum immer ein paar DVDs mit seinem Film in der Rucksacktasche, die er unter Bekannten und Interessierten verteilen. Torres und auch Lav Diaz denken gelegentlich sogar laut darüber nach, ihre Filme an die DVD-Piraten weiterzugeben, die in allen Ländern Südostasiens ein florierendes Geschäft betreiben und über ein überaus effizientes Vertriebsnetzwerk verfügen."

Weiteres: Cord Reichelmann stellt das Projekt des Zürcher Historikers Philipp Sarasin vor, der den Einfluss Darwins auf Michel Foucault untersucht. Jörg Sundermeier beschleicht beim rauer werdenden Stil in der Personalpolitik der Verlage der Verdacht, dass sich deren Besitzer gar nicht als Kulturmenschen begreifen: Klett-Cotta hat den gerade gegründeten Booklett Verlag schon wieder fallenlassen, bei Eichborn wurde der Mitbegründer Matthias Kierzek gefeuert und bei Mare der Verleger Nico Hansen.

In der zweiten taz beschreibt Lydia Harder den arabischen Alltag mit Habibi-Songs und Kleenex-Tüchern. Auf der Medienseite begrüßt Boris R. Rosenkranz den neu eingeführten Unternehmenssprecher der WAZ.

Und Tom.

FAZ, 17.12.2007

Gar nicht genug bekommen kann Jakob Strobel y Serra von Fernseh-Kochsendungen: "Vollkommen ins Leere läuft der Vorwurf, die Kochsendungen ruinierten die kulinarische Kultur der Deutschen. Schön wär's, gäbe es viel zu ruinieren. Selbst bei wohlwollendster Betrachtung und trotz aller Fortschritte sind wir noch kein einig Volk von Feinschmeckern, dessen delikate Finesse in allen Dingen der Gourmandise vom bösen, plumpen Fernsehen versaut würde. Im Gegenteil: Wir fangen ganz unten an und müssen um jeden Gedanken, jeden Moment froh sein, den das Massenpublikum dem guten Essen widmet - zumal keine einzige Kochsendung eine Lanze fürs schlechte Essen bricht und Kartoffelklöße aus der Plastikfolie preist."

Weitere Artikel: In der Glosse kommentiert Regina Mönch den Plan, die Berliner Bernauer Straße zum Ort der Erinnerung ans geteilte Berlin umzugestalten. Wolfgang Burger hat eine Tagung in Graz besucht, die sich mit Bildern des Osmanen befasste. Jürg Altwegg hat sich die jüngste Ausgabe der recht erfolgreichen, von Jesuiten herausgegebenen französischen Zeitschrift Etudes angesehen, in der es unter anderem um "Desperate Housewives" und die Lage in Pakistan geht. Vom Illuminations-Wettstreit auf Wiener Straßen und Gassen berichtet Erna Lackner. Eleonore Büning porträtiert den Mozart-Tenor Pavol Breslik, der gerade in Peter Mussbachs sonst wenig aufregender "Don Giovanni"-Inszenierung an der Berliner Staatsoper überzeugt.

Besprochen werden Barbara Freys Inszenierung von Marivaux' "Triumph der Liebe" am Deutschen Theater in Berlin, Wiener Choreografien von John Neumeier und Jörg Mannes, die Ausstellung "Eye on Time" mit Fotografien von Michael Ruetz' im Deutschen Historischen Museum in Berlin und Bücher, darunter Michael Zamirs Roman "Das Mädchenschiff" und auf der Sachbuchseite Bruno Latours Studie "Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

SZ, 17.12.2007

Der an der Londoner School of Economics lehrende Philosophieprofessor John Gray hält nicht viel vom neuen "fundamentalistischen Atheismus" a la Richard Dawkins. Wie die Religion sei auch er ein Mythos, behauptet Gray, nur ein schlechter. "Während religiöse Mythen dauerhafte menschliche Realitäten ausdrücken, dienen die Mythen des weltlichen Humanismus nur dazu, sie zu verschleiern. Vielleicht lässt eine schwache Ahnung von der Realitätsferne ihrer Überzeugungen die militanten Atheisten so heftig und dogmatisch reagieren. Vergeblich sucht man in Gesellschaft militanter Ungläubiger nach irgendwelchen Zeichen für kreativen Zweifel, wie er viele religiöse Denker angeregt hat. Während Theologen ihre Überzeugungen seit Jahrtausenden hinterfragen, müssen weltlich orientierte Humanisten ihren simplen Glauben erst noch auf den Prüfstand stellen."

Weitere Artikel: Der Historiker Howard Zinn, eine der Galionsfiguren der amerikanischen Linken, beklagt gegenüber Jörg Häntzschel die Passivität der Amerikaner. Claus Biegert würdigt den verstorbenen indianischen Sänger Floyd "Red Crow" Westerman. Der Regisseur Franco Zeffirelli bewirbt sich mit starken Worten um eine Rolle in der vatikanischen Kulturpolitik, meldet Henning Klüver.

Auf der Medienseite berichtet Hans-Jürgen Jakobs über Pläne der ARD, die strauchelnden Tagesthemen zu renovieren.

Besprochen werden eine Ausstellung über "Skandale" in der BRD (und ein wenig auch in der DDR) im Bonner Haus der Geschichte, die Schau "Die Gräber von Paestum" im Hamburger Bucerius Kunstforum, die Schau "Auf/zu" über den Schrank in den Wissenschaften im neu eröffneten Universitätsmuseum Tübingen, Alexander Nerlichs Inszenierung von Calderans "Das Leben ein Traum" am Münchner Residenztheater, Barbara Freys Version von Marivaux' "Triumph der Liebe" am Deutschen Theater Berlin, die Aufführung dreier "völlig unbekannter" Orchesterstücke im Münchner Herkulessaal, DVD-Neuerscheinungen wie Alain Resnais' "Cuurs/Herzen" und Bücher wie Sabahattin Alis Roman über Istanbul "Der Dämon in uns" oder Susan Blackmores "Gespräche über Bewusstsein" (mehr in unserer Bücherschau des Tages).