Heute in den Feuilletons

Gott ist gefährlich

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
19.12.2007. Die schwedische Axess-Stiftung dokumentiert eine Diskussion, in der Timothy Garton Ash die auf Ayaan Hirsi Ali gemünzte Formulierung von der "Fundamentalistin der Aufklärung" in aller Form zurückzieht. In der Zeit enthüllt Ulrich Beck kurz vor Weihnachten den totalitären Charakter der Religion. Die FR fragt als Zeitung: Gibt es Gründe das Netz zu fürchten? Für die FAZ bereiste Katharina Narbutovic Weißrussland und fand es fremd und zur Einsamkeit verdammt.

FR, 19.12.2007

Christian Schlüter denkt unter der Dachzeile "Zeitgenössisches Contentmanagement" über die Pläne des Spiegel nach, ab Frühjahr 2008 alle seit 1947 in dem Blatt erschienenen Artikel sowie Lexika und Wörterbücher kostenlos ins Netz zu stellen, und was das mit Wikipedia zu tun hat. "Eine klare Sache: Die natürliche Feindin der - wehrhaften - Demokratie ist die Massendemokratie. Vor allem der 'gute Journalismus' scheint in Gefahr. Befürchtet wird ein babylonisches Stimmengewirr, ein Labyrinth des Meinens und Dafürhaltens, Chaos, Entropie? Den Verlust mehr oder weniger bewährter Hierarchien beklagen insbesondere die Vertreter der analogen, an die Papierform gebundenen Printmedien; sie werden dies gewiss auch aus wohlverstandenem Eigeninteresse tun. Die sehr viel interessantere Frage aber lautet, ob es gute inhaltliche Gründe gibt, die digitale Konkurrenz zu fürchten."

Zu lesen ist ein Interview mit Thomas Hengelbrock, einem Exponenten der historisch informierten Aufführungspraxis alter Musik, über genaues Lesen und Karajan als "Symptomträger" dessen, was diese Interpretationsrichtung gerade nicht will. In Times mager denkt Arno Widmann über ein "schönes, leider ganz einseitiges Wiedersehen" mit dem 2003 verstorbenen Kabarettisten Mathias Beltz nach.

Besprochen werden die Uraufführung des von Jack Kerouac vor 50 Jahren auf einem Dachboden versteckten Stücks "Beat Generation" in der Inszenierung von Jürgen Kruse am Kölner Schauspiel, ein ganzes Paket mit CDs von und Büchern und Filmen über Bob Dylan, außerdem Peter Merseburgers Biographie des Spiegel-Gründers Rudolf Augstein (mehr dazu in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr)

Weitere Medien, 19.12.2007

Auf der Website des schwedischen Fernsehkanals Axess ist eine Londoner Diskussion zwischen Ayaan Hirsi Ali und Timothy Garton Ash als Text und Video dokumentiert. Die beiden nehmen hier auch Bezug auf die Bruckner-Buruma-Debatte in Perlentaucher und signandsight.com. In dieser Diskussion geht TGA feierlich, wenn auch etwas ironisch auf Abstand zur Vokabel des "Fundamentalismus der Aufklärung", die er dem Bekennerschreiben des Van-Gogh-Mörders entnommen und auf Ayaan Hirsi Ali gemünzt hatte. Der englische Text auf Axess wirkt wie ein nicht bearbeitetes Protokoll mündlicher Rede. Wir versuchen Timothy Garton Ash zu übersetzen: "Ich möchte mit etwas Unüblichem beginnen, und etwas zurücknehmen, das ich zuvor geschrieben habe. Wie manche von Ihnen wissen, verfasse ich Buchrezensionen für die New York Review of Books, wo ich Ayaan als Fundamentalistin der Aufklärung beschrieb. Weise Freunde warnten mich damals, dass dies missverständlich sein könnte. Das ist ein großer Fehler, sagten sie. Wie recht sie hatten, denn besonders in Deutschland entbrannte eine Debatte, die einen denken ließ, ich hätte ein dreibändiges Werk unter dem Titel 'Aufklärungsfundamentalismus' herausgebracht. Und ich möchte hier klar feststellen: Es wäre mir im Traum nicht eingefallen, dass jemand so idiotisch sein könnte sich einzubilden, ich würde eine Symmetrie zwischen islamischem und Aufklärungsfundamentalismus herstellen wollen."

NZZ, 19.12.2007

Die NZZ war heute morgen noch nicht online aktualisiert, deshalb hier unsere Zusammenfassung unverlinkt.

Paul Jandl meldet, dass das Österreichische Literaturarchiv Peter Handkes Vorlass-Manuskripte und damit wahre "Wertpapiere der europäischen Literatur" zum Preis von 500 000 Euro erstanden hat - dazu Peter Handkes Kommentar: "Ich beglückwünsche mich und die Österreichische Nationalbibliothek zu meinem Zeug".

Weiteres: Aldo Keel berichtet vom Gender Trouble um weibliche und schwule PastorInnen in der dänischen Volkskirche. Zur "Institutionenprosa" erhebt Joachim Güntner den Abschlussbericht der Enquete-Kommission des Bundestags "Kultur in Deutschland".

Besprochen werden die Ausstellung "Renaissance Siena - Art for a City" in der Londoner National Gallery und Bücher, darunter die Krankengeschichte des Kulturwissenschaftlers Aby Warburg "Die unendliche Heilung", Joanot Martorells "Roman vom weißen Ritter Tirant lo Blanc", György Dalos' Roman "Jugendstil" und W. H. Hudsons Argentinien-Erinnerungen "Müßige Tage in Patagonien" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

Zeit, 19.12.2007

"Gott ist gefährlich" schreibt Soziologe Ulrich Beck in einem vorweihnachtlichen Essay im Politikteil, in dem er fünf Thesen aufstellt, warum alle Humanität der Religion einen totalitären Kern birgt: "Religion setzt ein Merkmal absolut - glauben. Alle anderen sozialen Unterschiede und Gegensätze sind daran gemessen unerheblich. Das Neue Testament sagt: 'Vor Gott sind alle gleich.' Diese Gleichheit, diese Aufhebung der Grenzen, die Menschen, Gruppen, Gesellschaften, Kulturen trennen, ist die Gesellschaftsgrundlage der (christlichen) Religionen. Die Folge allerdings ist: Mit derselben Absolutheit, mit der Unterscheidungen des Sozialen und Politischen aufgehoben werden, wird eine neue Fundamentalunterscheidung und Hierarchie in die Welt gesetzt - die zwischen Gläubigen und Ungläubigen."

Im Interview mit Thomas Groß spricht der niederländische Internettheoretiker Geert Lovink vom Institute of Network Cultures über Blogs, die er in seinem Buch "Zero Comments" als "Killerapplikation" beschreibt oder auch als "dekadente Artefakte, die den Schritt von der Wahrheit ins Nichts wagen", medienphilosophisch gesprochen: "Das Entscheidende im Netz von heute sind nicht Nachrichten und Meinungen, sondern Selbstdarstellung und Selbstreflexion: Wer bin ich? Was mache ich? Wer befindet sich in meiner Gegend?" Als emanzipatorisch hat sich das Netz leider nicht herausgestellt, wie er mit Blick auf China und den Iran feststellt: "Die Generation derer, die die frühe Architektur des Internets entworfen haben, hat noch daran geglaubt, dass man Werte in Software umsetzen kann - Meinungsfreiheit etwa oder die Möglichkeit, Zensur zu umgehen - und dass dann niemand in der Welt daran rütteln kann. Das hat sich leider als Illusion erwiesen."

Weiteres: Karsten Polke Majewski beklagt, dass Google weder Raum noch Zeit kennt, und selbst heillos veraltete Informationen als neu verkauft: "Nichts wird mehr vergessen, alles gespeichert und kein Fehler mehr vergeben." Navid Kermani schickt Weihnachtsgrüße von der Shopping Mall HyperOne in Kairo. Volker Ullrich erinnert an Sebastian Haffner, der vor hundert Jahren geboren wurde. Hanno Rauterberg begutachtet das Naumburger Kirchenfenster von Neo Rauch.

Besprochen werden Shekar Kapurs Film "Elisabeth - Das Goldene Zeitalter" mit Cate Blanchett, David Cronenbergs Mafia-Film "Tödliche Versprechen", eine Ausstellung zum Psychoanalytiker Wilhelm Reich im Jüdischen Museum Wien und Constanza Macras' sportliche Choreografie "Brickland".

Im Aufmacher des Literaturteils bespricht Hans-Peter Kunisch Engelbücher von Andrei Plesu und Giorgio Agamben. Im Dossier plädiert Iris Radisch dafür, die Zeit sinnvoller zu nutzen.

Welt, 19.12.2007

Die wichtigsten Posten bei der Stiftung Preußischer Kulturbesitz sind neu besetzt. Michael Eissenhauer wird Generaldirektor der Staatlichen Museen zu Berlin, Udo Kittelmann wird die Nationalgalerie leiten, Hermann Parzinger ist seit längerem als Chef der Stiftung erkoren. Eckhard Fuhr kommentiert: "Wenn man bedenkt, wie sehr diese kulturpolitisch hoch brisanten Personalien zu Spekulationen angeregt hatten, muss man die nun getroffenen Entscheidungen als pragmatisch bewerten. Nicht charismatische Stars der internationalen Museums- und Kunstszene werden die Geschicke der Preußenstiftung und ihrer Sammlungen bestimmen, sondern erfahrene Wissenschaftler, Museumsmanager und Ausstellungsmacher."

Weitere Artikel: Der Schriftsteller Rolf Schneider erzählt die Geschichte des Karlheinz Schädlich, Bruder des Schriftstellers Hans Joachim Schädlich, der diesen und auch Günter Grass für die Stasi ausspionierte - Karlheinz Schädlich hat sich jetzt auf einer Parkbank in Prenzlauer Berg erschossen. Manfred Flügge kommentiert Sarkozys neueste Liaison mit Carla Bruni, die von der Katastrophe mit Cecilia und dem Debakel mit Muammar ablenkt. Hendrik Werner berichtet, dass sich einige Anwälte darauf spezialisiert haben, Online-Antiquariate abzumahnen, die erotische Literatur feilbieten. Florian Stark stellt ein Gutachten zum Verhältnis des Hauses Baden zum Land Baden-Württemberg vor, das die Position des Landes stärkt. Jeannette Neustadt meldet, dass Fontane-Archiv und Staatsbibliothek Berlin bisher unbekannte Fontane-Briefe erworben haben. Besprochen wird der Film "Elizabeth - Das goldene Königreich" mit Cate Blanchett als Elisabeth zum Zweiten.

Auf der Magazinseite erinnert sich Norman Mailers Sohn John Buffalo Mailer, selbst Autor, an seinen Vater.

TAZ, 19.12.2007

In einem Interview anlässlich des Filmstarts von "Sleuth" erklärt Michael Caine, warum man niemals blinzeln sollte, bei wem er sich Sachen abgeschaut hat und wie echtes Schauspielern geht: "Stellen Sie sich vor, Sie proben eine Gesprächsszene mit einem Partner, und ein Kollege kommt zufällig vorbei: Wenn der sich entschuldigt dafür, dass er beim Proben stört, machen Sie was falsch. Er sollte sich zwanglos dazusetzen, weil er glaubt, Sie besprechen da gerade irgendwas Alltägliches."

Weiteres: Tilman Baumgärtel schickt eine Mail aus Manila. Martin Krauss betreibt Dylan-Exegese und weist nach, dass sich Bob Dylans Liebe zum Boxen durch sein ganzes Werk zieht.

Und Tom.

SZ, 19.12.2007

Man hätte natürlich einen Artikel über die neuen Stars in der Popmusik bringen können. Aber nein, diese Stars sind Frauen, also müssen sie gefragt werden, was an ihrer Musik weiblich ist. Mit der Frage wenig anfangen können Antye Greye, Susanne Brokesch, Susie Reinhard, Aki Takase und Michaela Melian. Lydia Daher aus Augsburg bringt es auf den Punkt: "Meine Musik hat keine primären Geschlechtsmerkmale. Zumindest glaube ich das. Ich muss zugeben, ich habe noch nie nachgeschaut. Das wäre indiskret. Genauso wie die Frage danach, was an meiner Musik denn weiblich sei. Ist das wichtig? Oder vielmehr: Ist das überhaupt die Frage?"

Christine Heise gibt einen Überblick über herausragende Alben von Musikerinnen aus Großbritannien und den USA.

Weitere Artikel: Christian Jostmann erklärt, warum Österreich vor der Öffnung der Grenzen zittert. Jens Bisky stellt die neue Spitze der Stiftung Preußischer Kulturbesitz vor. Kai Strittmatter berichtet über das Nachspiel, das ein Satz des türkischen Pianisten Fazil Say im SZ-Feuilleton der vergangenen Woche in seinem Heimatland hat. Anna Weiss informiert über die Entlassung des iranischen Unesco-Professors Mahmud Amirardschomand. Till Briegleb kritisiert den geplanten Abriss des erinnerungsträchtigen Sendesaals von Radio Bremen als Paradebeispiel schlechter Lokalpolitik. Helmut Mauro würdigt in einem Nachruf den verstorbenen Komponisten Harald Genzmer. Auf der Medienseite beschreibt Viola Schenz die Schwierigkeiten der Zeitungs- und Magazinverlage mit dem Internet.

Besprochen werden der zweite Elizabeth-Film mit Cate Blanchett "The Golden Age", die Uraufführung von Christoph Nußbaumeders Stück "Jetzt und in Ewigkeit" am Nationaltheater Mannheim und Bücher, darunter der Roman "Der Junge und die Taube" von Meir Shalev und "Moomlatz oder Wie ich versuchte in Asien meine Unschuld zu verlieren" von Iris Bahr (siehe hierzu unsere Bücherschau des Tages ab 14 Uhr)

FAZ, 19.12.2007

Katharina Narbutovic war im Staate Weißrussland unterwegs und was sie gesehen hat, war, in ein Bild gefasst, dies: "Weißrussland heute, das ist ein Land, das auf der Suche nach sich selbst umherirrt und nirgends Anschluss findet. Ein Geschöpf wie einem Gemälde de Chiricos entstiegen, mit einem Helm auf dem Kopf, der die Sicht verstellt. Es ist 'weder Teil des einen noch des anderen Systems, es gehört nicht zur EU noch zu Russland. Es ist fremd und zur Einsamkeit verdammt, weil es überall außen vor steht. Es sucht und sucht nach dem, was seins ist, unklar was. Das ist so eine Art Irrsinn in Einsamkeit', sagt Artur Klinau, eine der zentralen Figuren der unabhängigen weißrussischen Szene, Autor, Fotograf und Konzeptkünstler. Das Bild des Menschen mit dem Helm auf dem Kopf, das ist für ihn der Inbegriff seines Landes im Jahre 13 unter Präsident Lukaschenka."

Weitere Artikel: In der Glosse kommentiert Andreas Platthaus Michael Schumachers schlagzeilenträchtige Taxifahrt. Rüdiger Soldt bringt uns auf den neusten Stand im Rechtstreit um die Eigentumsansprüche des Landes Baden-Württemberg auf Kunstgegenstände des Hauses Baden und scheut dabei vor den verwickeltsten Details in der juristischen Diskussion um Pertinenz und Hausfideikommiss nicht zurück. Frank-Rutger Hausmann erzählt, nicht weniger detailliert, die Veröffentlichungsgeschichte von Romano Guardinis Sokrates-Buch im Jahr 1943. Der Choreograf Joey McKneely hat haargenau Jerome Robbins' Choreografie der "West Side Story" rekonstruiert - Wolfgang Sandner stellt ihn vor. Gerhard R. Koch schreibt zum Tod des Komponisten Harald Genzmer. Auf den Medien-Seiten berichtet Ariana Breyer von einer Tutzinger Tagung zu Medien und Jugendgewalt. Im Interview äußert sich der bei diesem Thema offenbar unvermeidliche Kriminologe Christian Pfeiffer.

Besprochen werden Shekhar Kapurs Film "Elizabeth - Das goldene Königreich" (für Andreas Kilb trotz Cate Blanchett eine ziemliche Enttäuschung), die Premieren von "Warum tanzt ihr nicht?" nach Raymond Carver und Lars-Ole Walburgs "Verwässerung" der "Orestie" in Düsseldorf, Alexander Nerlichs Münchner Inszenierung von Calderons "Das Leben ein Traum", die Hans-Poelzig-Ausstellung in der Berliner Akademie der Künste, die Ausstellung "Disegno!" in Berliner Kupferstichkabinett, ein Turin-Brakes-Konzert in München und Bücher, darunter Bartholomäus Grills und Stefan Hipplers Streitschrift "Gott, Aids, Afrika", zu der Oliver Jungen bündig feststellt: "Rom reimt sich auf Kondom" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).