Heute in den Feuilletons

Rein in den Neuro-Staat

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
09.01.2008. In der NZZ wirft die pakistanische Journalistin Shehar Bano Khan einen kritischen Blick auf Benazir Bhutto. Die Welt prangert die "Auslistungen" kleiner und mittlerer Verlage durch die großen Buchhandelsketten an. Die übrigen Feuilletons konzentrieren sich auf einen Tag vor hundert Jahren, als Wilhelm Busch starb und Simone de Beauvoir geboren wurde. Die Blogs denken über "Social Networks" und die nach wie vor tobende Debatte um das böse Netz und die guten Medien nach.

NZZ, 09.01.2008

Die pakistanische Journalistin Shehar Bano Khan blickt auf das zweifelhafte politische Erbe, das Benazhir Butto Pakistan hinterlassen hat: "Ihr schrecklicher Tod hat Benazir Bhutto praktisch zu einer Märtyrerin und Heiligen gemacht; aber ihr unbestreitbares persönliches Charisma genügt nicht als politischer Leistungsausweis. Während ihrer zwei Amtszeiten als Ministerpräsidentin ist es ihr nicht gelungen, dem Land jene tiefgreifenden Veränderungen zu bringen, die man sich von der brillanten, an den Eliteuniversitäten Oxford und Harvard ausgebildeten Politikerin erhofft hatte. Als Benazir Bhutto 1988 erstmals gewählt wurde, war sie für jede junge Frau in Pakistan Vorbild und Inspiration. Aber schon ein Jahr darauf zeigten sich Risse in der strahlenden Erscheinung - und dahinter die alten pakistanischen Übel: Nepotismus, feudalistische Attitüden und die Bereitschaft, sich mit Staatsbürokratie und Militärkreisen zu arrangieren, um die eigene Macht nicht preisgeben zu müssen."

Manfred Koch erinnert zu dessen hundertstem Todestag an den Dichter und Zeichner Wilhelm Busch: "Das Umkippen des Idealischen ins Niedere, Leibliche ist auch in Buschs Reimen der eigentlich betörende Effekt. Man braucht sich nur einige der klangvollsten ins Gedächtnis zu rufen, die durchaus neben dem Vorbild Heine bestehen können: angstbeflügelt - frischgebügelt; Kreatur - schnarche nur; herzlich küsste - Tante wüsste; schwarze Parze - Nasenwarze."

Besprochen werden eine großangelegte Ausstellung zu Lucian Freud im New Yorker Museum of Modern Art, Roderich Ptaks Buch über die "Maritime Seidenstraße" und Ingrid Galsters bisher nur auf Französisch erschienene Annäherungen an Simone de Beauvoir "Beauvoir dans tous ses etats".

Welt, 09.01.2008

Die meisten Artikel der Print-Welt standen heute morgen nicht online.

Gerhard Beckmann prangert eine Praxis der großen Buchhandelsketten an, die die kleineren und mittleren Verlage inzwischen existenziell bedroht: die Auslistung: "Kleinere, literarische Verlage bekommen keine Gelegenheit mehr, ihre Novitäten dem Zentraleinkauf von Thalia und Hugendubel vorzustellen und zu verkaufen. Als sogenannte C- (oder drittklassige) Verlage dürfen sie den Großfilialisten nicht einmal mehr ihre Prospekte schicken."

Weitere Artikel: Wieland Freund erinnert zum hundertsten Todestag Wilhelm Buschs an den Sadismus und Antisemitismus des jetzt allenthalben gefeierten Humoristen: "Wilhelm Busch begegnet all seinen Figuren (und letztlich auch sich selbst) mit bestenfalls herzlicher Verachtung, den Bengeln ebenso wie ihren angeblichen Besserern - für Busch sind sie doch alle gleich." Hendrik Werner wundert sich, dass erst Aleviten und nun badische Fischer gegen ihre Darstellung in "Tatorten" protestieren. Elmar Krekeler bemängelt, das die Protagonisten in der neuen "Krieg und Frieden"-Verfilmung zu Walzern tanzen, die aus dem späten 19. Jahrhundert stammen. Manfred Flügge weist zum hundertsten Geburtstag Simone de Beauvoirs auf einige - auch kritische - Neuerscheinungen hin.

Besprochen werden der Film "I am Legend" mit Will Smith, der in einem menschenleeren New York spielt und Hannes Stein zu einem kleinen Essay über die Frage "Warum zerstören wir eigentlich New York so gern?" inspiriert, und eine Ausstellung über jüdische Künstler der Sowjetunion in Amsterdam.

Interessant auch eine dpa-Meldung über die Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt, die achtzig Tonnen Bücher als Altpapier entsorgt haben soll. Die Berliner Zeitung weiß mehr darüber.

TAZ, 09.01.2008

Auf der Meinungsseite erklärt der Historiker Geert Mak im Interview, weshalb die Aufarbeitung des Völkermords an den Armeniern für die Modernisierung der Türkei unabdingbar, Druck von außen jedoch kontraproduktiv sei: "Man sollte von der Türkei verlangen, dass sie den Artikel 301 streicht. Wir im Westen sollten aber auch wissen, dass dieser Paragraf immer wieder von einer bestimmten Gruppe von Nationalisten instrumentalisiert wird, die nicht will, dass die Türkei in die EU kommt. Man zieht gegen Schriftsteller wie Orhan Pamuk oder Elif Shafak vor Gericht, weil man weiß, dass man dadurch im Westen maximale Aufmerksamkeit bekommt. Man interessiert sich nicht für Pamuk oder Shafak. Man will eine Reaktion des Westens provozieren."

Mit einer Hommage der Literaturwissenschaftlerin Barbara Vinken begeht im Kulturteil den hundersten Geburtstag von Simone de Beauvoir. Vinken hat deren unerschrockenes Werk "Das andere Geschlecht" wiedergelesen und schreibt: "Beauvoir bleibt, oft gegen den Strich ihrer Philosophie gelesen, eine große Analytikerin der Leidenschaft. Und eine unbestechliche Beobachterin von Frauen, den Ängsten, durch Erfolg weniger Frau zu sein, während der Erfolg des Mannes seine Männlichkeit nur bestätige; den Heucheleien, wenn Frauen in der Ehe ausgehalten werden, und den daraus resultierenden oft kindischen Kompensations- und Legitimationsversuchen; der Zerrissenheit zwischen Beruf und Weiblichkeit."

Weiteres: Andreas Busche bespricht das Spielfilmdebüt "Control", des Fotografen Anton Corbijn über das kurze Leben des Joy-Division-Sängers Ian Curtis. Ergänzend porträtiert Andreas Hartmann die Postpunk-Band Joy Division, deren Aufrücken ins Zentrum des popkulturellen Kanons einen Paradigmenwechsel darstellte.

Und hier Tom.

FR, 09.01.2008

Der pakistanische Physiker Faheem Hussain schildert 2007 als Jahr der Hoffung in Pakistan, die mit der Ermordung von Benazir Bhutto in Angst und Verzweiflung umschlug: "Offenbar kann selbst der schwächste Anschein von Demokratie, ob mit oder ohne Manipulation der Wahlen, von den dunklen Mächten, die Pakistan beherrschen, nicht toleriert werden."

Weiteres: Als die mit Sicherheit bessere Schriftstellerin und für viele auch begabtere Philosophin bezeichnet Christine Pries Simone de Beauvoir anlässlich ihres hundertsten Geburtstags, trotzdem werde wohl keine Würdigung ohne Nennung ihres Gefährten Sartre auskommen, mit dem sie ein Pakt gegenseitiger Freiheit verband. Arno Widmann begrüßt die Absetzung der Gala zur Golden-Globe-Verleihung als Demonstration der Macht der streikenden amerikanischen Autoren und ihrer Verbündeter. Christian Thomas würdigt in einem Nachruf den Architekten Harald Deilmann. Und in Times mager denkt Harry Nutt über das Schwanken zwischen "zimperlichen Artikulationen" und klaren Worten in der Debatte über Jugendkriminalität nach.

Besprochen werden das Endzeit-Drama "I am Legend" mit Will Smith und eine Biografie über das Phänomen "Carlos Kleiber" (siehe dazu unsere Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Aus den Blogs, 09.01.2008

Robert Basic, Autor des vielgelesenen Blogs Basic thinking, hat ein kleines Problem mit den "Social Networks", die bei den Medienkonzernen auf der Suche nach dem neuesten Hype gerade so beliebt sind: "Man muss sich das auf der Zunge zergehen lassen: Sobald ich ein Cafe betrete, werde ich aufgefordert, andere User einzuladen. Wenn ich wieder rausgehe, kann ich meine Freunde nicht mitnehmen, die bleiben als Geiseln, damit ich wiederkomme, ja oft und lange wiederkomme. Funktionieren Cafes nach dem Prinzip der Geiselhaft und kostenlosen Vertriebsarbeit für den Inhaber?"

Thomas Knüwer hatte in seinem Blog Indiskretion Ehrensache eine offene Mail an den DJV-Vorsitzenden Michael Konken geschrieben, der in einer Rede eine "quantitative Entrümpelung" des Internets gefordert hatte. Morgen organisiert der DJV eine Podiumsdiskussion mit Konken, Knüwer, dem Blogger Don Alphonso und und dem Stern-Kolumnisten Hans-Ulrich Jörges. Knüwer verspricht: "Es könnte blutig werden, wenn ich mir das Interview anhöre, das Konken im Uni-Radio Halle gegeben hat. Und nach dem ich reichlich Lust hätte, jetzt schon in den Ring zu steigen. Die vor Unkenntnis strotzenden Aussagen Konkens kulminieren in der Behauptung: 'Es gibt keine mündigen Bürger, die in Blogs etwas lesen und dann sagen: Ich recherchiere das mal nach. Wer hat die Zeit dazu?' Dazu schon mal meine Antwort: Diejenigen, die Leidenschaft für Themen empfinden - also oft nicht die Journalisten."

FAZ, 09.01.2008

In einem satirisch gemeinten Artikel erklärt Christian Geyer, dass alles viel einfacher wäre, wenn man per Hirn-Scan erkannte unheilbare Verbrecher präventiv wegsperren könnte. Und wie schön: Der Hirnforscher Hans Markowitsch sieht das wahrhaftig und ohne jeden Scherz ganz genau so: "'In der Praxis', so Markowitsch, 'erlebe ich häufig, dass Richter dem Gutachter folgen. Wenn man das weiterdenkt, könnte herauskommen, dass man das Gericht eigentlich nicht mehr braucht. Gutachter würden auch reichen. Noch sind es Richter, die entscheiden. Aber muss das zwangsläufig für die Ewigkeit so sein?' Raus aus dem Richterstaat, rein in den Neuro-Staat!"

Weitere Artikel: Im Aufmacher schreibt Julia Voss zum hundertsten Geburtstag von Simone de Beauvoir. In der Glosse freut sich Paul Ingendaay, dass er mit Juan Carlos I. den 5. Januar als Geburtstag teilt. Andreas Platthaus hat die große Wilhelm-Busch-Ausstellung in Schleswig besucht und würdigt den Zeichner, Maler und Dichter ausführlich anlässlich seines heutigen hundertsten Todestags. Kerstin Holm porträtiert den überaus beliebten russischen Schauspieler und Regisseur Fjodor Bondartschuk und Andreas Platthaus den Schriftsteller Geert Mak, der in diesem Jahr den Preis der Leipziger Buchmesse erhält. Eine britische Studie hat herausgefunden, unter Einhaltung welcher Lebenweise man geschlagene vierzehn Jahre länger lebt: "Tabakabstinenz, fünf Portionen Gemüse oder Obst täglich, Sport und 'moderater Alkoholgenuss'".

Auf der DVD-Seite würdigt Jörg Thomann das genau 12 Stunden und 40 Minuten umfassende und jetzt in einer Edition komplett zugängliche Fernsehschaffen des deutschen Großkomikers Loriot. Empfohlen werden Monsterfilme von Jack Arnold und eine "Wismut"-Dokumentation sowie der "schönste Zeichentrickfilm der Welt": Hayao Miyazakis "Mein Nachbar Totoro".

Auf der Medienseite stellt Karl-Peter Schwarz die tschechische Künstlergruppe Ztohoven vor, die jetzt vor Gericht steht, weil sie vor einer ins Fernsehen eingespeisten Webcam-Übertragung eine Atombombe hochgehen ließ - wie es schien.

Besprochen werden Francis Lawrence' Film "I am Legend", eine "humorfreie" Augsburger Inszenierung von Mozarts "Entführung aus dem Serail" und Bücher, darunter Andrej Wolos' Roman "The Animator" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

SZ, 09.01.2008

In ihrem Beitrag zum hundersten Geburtstag von Simone de Beauvoir erinnert die Literaturwissenschaftlerin Hannelore Schlaffer auch an Sartres Diktum, die Frauenbewegung gettoisiere sich, wenn sie nicht auch von Männern getragen werde, und stellt abschließend ironisch fest: "An den Sieg der Frauenbewegung könnte er erst glauben, wenn ein Mann einen Gedenkartikel über Simone de Beauvoir geschrieben und so seinen Castor dem Orkus entrissen hätte." (Na Bitte: Bert Rebhandl schreibt im Standard)

Willi Winkler ist begeistert von den regierungslosen Zuständen in Belgien. "Was für eine Ironie der Geschichte, dass die Anarchie ausgerechnet in Belgien ausbricht, im Zentrum des Bürokratismus, in der Hauptstadt der hochsubventionierten Unfreiheit, wo sich das utopische Denken sonst darin erschöpft, die in Spanien gezogenen holländischen Tomaten endlich in eine praktische, eine quadratische Form zu bringen."

Die gesamte erste Seite des Feuilletons feiert Francis Lawrences Endzeitvision "I am Legend" mit Will Smith: "Brillant" und eine "düstere Eschatologie des Kinos" befindet Tobias Kniebe. Petra Steinberger spürt dem "Funken Optimismus" nach, der in sämtlichen Untergangsvisionen aller wissenschaftlichen Gewerke stecke. Und Thomas Steinfeld liest den Thriller als Naturfilm und Lehrstück für den Menschen. Ebenfalls ganzseitig ventilieren Fritz Göttler, Susan Vahabzadeh, Andrian Kreye und Christopher Keil auf der zweiten Seite des politischen Buchs über die Bedeutung der Absage der Golden-Globes-Gala für den Streik der US-Drehbuchautoren.

Weitere Artikel: Alle Dämonen des 19. Jahrhunderts sieht Burkhard Müller in seiner ganzseitigen Hommage an Wilhelm Busch zum hundertsten Todestag in dessen Werk versammelt. Andreas Zielcke resümiert einen klugen Vortrag des Soziologen Ulrich Bielefeld über Nation und Weltgesellschaft am Hamburger Institut für Sozialforschung. Hans Maier würdigt den verstorbenen Amerikanisten Friedrich Georg Friedmann. Adrienne Braun informiert über die Absage der Stuttgarter Internationalen Theaterhaus-Jazztage nach einem Streit um die Stiftung des Theaterhauses.

Besprochen werden die Ausstellung "Unsere Russen - Unsere Deutschen" im Berliner Schloss Charlottenburg sowie Inszenierungen von Schillers "Jungfrau von Orleans" und Simon Stephens Stück "Christmas" am Theater Mainz.