Heute in den Feuilletons

Jeweilige Eigenlogik

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
30.01.2008. Spiegel Online geißelt Zensur im Netz und gesellschaftliche Apathie, die sie möglich macht. Die taz übt sich nach neuesten Äußerungen des SPD-Vorsitzenden schon mal in der Begrifflichkeit des Marxismus-Beckismus. Für die NZZ hat die Entmachtung der Intermediäre nach reiflicher Überlegung einen Namen: Carla Bruni. In der Presse erzählt Daniel Kehlmann von der Welt der "Vermessung der Welt". Die Welt erwartet sich von den wiedergefundenen Capa-Negativen Positives über das berühmteste Bild des Fotografen. Der FAZ fehlt Gegenwart in der Literatur.

Spiegel Online, 30.01.2008

Frank Patalong schildert das ganze grausige Panopitkum von staatlicher Internetzensur- und -kontrollmaßnahmen, selbst in zivilisierten Gesellschaften wie Großbritannien: "Die Trends hin zu mehr Überwachung, mehr Kontrolle und Regulierung sind klar zu sehen und international. Kaum auszumachen ist dagegen eine gesellschaftliche Debatte darüber, die dem Thema gerecht würde."

TAZ, 30.01.2008

In einer Miniatur interpretiert Christian Semler Kurt Becks Diktum von der "sogenannten Linken" als Rückgriff auf die Marxsche Unterscheidung zwischen Erscheinungsform und Wesen. "Inwiefern ist nach Becks Meinung Die Linke nur ihrer Erscheinungsform nach links? Hier rivalisieren mehrere, sich teils überschneidende Meinungen. Für die Armen im Geiste sind 'die Linken' nichts als 'die Kommunisten' unseligen Angedenkens. Für die realpolitisch denkenden Pragmatiker sind es Populisten, weil sie Versprechungen machen, die sich schlechterdings nicht einlösen lassen. Der Populismus aber, auch wenn er im linken Gewand auftritt, führe stets zu einer Stärkung der extremen Rechten, sei mithin selbst rechts."

Weitere Artikel: Cristina Nord war bei der Vorstellung des Berlinale-Programms und empfiehlt angesichts von Filmen von und über Stones, Patti Smith und auch Madonna, schon mal die Feuerzeuge rauszuholen. Dominikus Müller sah eine Ausstellung des jungen Künstlers Ralf Ziervogel im Kunstverein Heilbronn, der mit seinen Zeichnungen und amorphen Installationen einmal mehr beweise, dass die Unterscheidung zwischen abstrakter und gegenständlicher Kunst obsolet ist. Sonja Eismann porträtiert die erst 17-jährige Musikerin Soap & Skin die mit ihren schwermütigen Klavier-plus-Elektronik-Songs das Zeug zu Austrias Next Wunderkind habe.

In tazzwei weiß Lydia Harder zu berichten, dass kleine Sexkinos im Zeitalter der Internetpornografie zwar zunehmend ums Überleben kämpfen müssen, aber noch lange nicht am Ende sind. "Viele suchen den rot beleuchteten Saal mit schmuddeligen Ecken aus ganz nostalgischen Gründen auf. Als Mario die Kinosessel erneuerte, nahmen etliche Besucher die klinische Sauberkeit nicht an. Die Atmosphäre war zerstört, das Verruchte fehlte. 'Erst als die Sessel wieder einjesessen und einjeschmuddelt waren, kamen die Leute wieder.'"

Auf der Meinungsseite erklärt der Aktivist P. V. Rajagopal im Gespräch, dass die heute vor 60 Jahren ermordete Ikone des gewaltlosen Widerstandes Mahatma Gandhi von der indischen Regierung und Oberschicht zwar missachtet werde, in den sozialen Bewegungen der Armen und Landlosen auf den Dörfern jedoch weiter wirke.

Und hier Tom.

FR, 30.01.2008

Sandra Danicke führt durch die Ausstellung "All Inclusive - Die Welt des Tourismus" in der Frankfurter Schirn. "Interessant wird die Ausstellung da, wo sie ihr Thema ernst nimmt. Lee Mingwei zum Beispiel ist es in seinem 'The Tourist Project' gerade nicht um die Orte zu tun, die im Reiseführer als Highlights gepriesen werden. Per Anzeige forderte er Menschen auf, ihm ihre Stadt zu zeigen. Auslöser, so erzählt der in New York lebende Taiwanese, sei ein Erlebnis mit seinem sechsjährigen Neffen gewesen. Der Junge lebt in Rom und wollte dem Onkel das Forum Romanum zeigen. Tempel und Triumphbögen allerdings würdigte der Neffe während seiner Führung keines Blickes. Stattdessen zeigte er Lee Mingwei all die Stellen, an denen er Katzenfamilien entdeckt hatte."

Weitere Artikel: Jürgen Otten berichtet vom Berliner Festival für Neue Musik UltraSchall, das dem 1988 verstorbenen italienischen Komponisten Giacinto Scelsi einen Themenschwerpunkt widmete. Und in Times mager zeigt sich Christian Thomas enttäuscht von den neuesten Verschlankungsversuche der Dresdner Waldschlösschenbrücke.

Auf der Medienseite informiert Meike Kolodziejczyk über die zunehmende elektronische Öffnung von Zeitungs- und Zeitschriftenarchiven.

Besprochen wird Karin Henkels Inszenierung von Molieres "Menschenfeind" in Köln.

NZZ, 30.01.2008

Auch Marc Zitzmann kann nicht mehr ignorieren, dass Nicolas Sarkozy einen "neue Lebensgefährtin" hat, wie zu berichten er sich nach reiflicher Überlegung doch entschlossen hat. Was nicht heißt, dass er sich mit der Klatschpresse gemein macht! "Die von vielen Kommentatoren beklagte Verdrängung der Demokratie durch die Telekratie manifestiert sich namentlich in der schleichenden Entmachtung der Intermediäre zwischen dem Volk und dem Präsidenten beziehungsweise der institutionellen Gegengewichte zur Exekutive."

Besprochen werden die beiden "fantastischen" Matthias-Grünewald-Ausstellungen in Karlsruhe und Colmar, die Ausstellung "Breaking the Rules" zu Buchwerken der Moderne in der British Library, eine Aufführung von Verdis "Nabucco" im Münchner Nationaltheater und Bücher, darunter Halldor Gudmundssons Biografie des isländischen Nobelpreisträgers Halldor Laxness, ein neuer Band des "Historischen Lexikons der Schweiz" und Ulf Stolterfohts Gedicht "holzrauch über heslach" sowie (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Presse, 30.01.2008

Das haben wir gestern übersehen: Daniel Kehlmann erzählt im Interview, wie sein Buch "Die Vermessung der Welt" in anderen Ländern aufgenommen wurde: "Ich war 35 Wochen auf der nationalen Bestsellerliste in Taiwan, keine Ahnung, warum! In Spanien hat das Buch nicht funktioniert. Die haben einen anderen Humor, viel derber, seit Don Quichotte müssen dort jemandem die Zähne ausgeschlagen werden, damit etwas als lustig gilt - wann immer ich höre, deutsche Bücher können nicht humorvoll sein, sage ich: Lesen Sie mal spanische! In Frankreich war das Buch ein Bestseller, es gab wunderbare Rezensionen. Lustig war nur, weil es so dem Klischee entspricht, dass fast alle das erotische Leben der Helden thematisiert haben, vor allem die Szene, wo Gauß in seiner Hochzeitsnacht aufsteht, um eine Formel zu notieren. Sie fanden das ein unglaubliches Versagen!" Die besten Kritiken habe er aber in England bekommen.

Welt, 30.01.2008

Hannes Stein erzählt die abenteuerliche Geschichte der wiedergefundenen Robert-Capa-Negative, einer der größten vermissten Schätze der Fotografiegeschichte, und er erhofft sich neue Informationen über Capas allerberühmtestes Foto: "Die Gerüchte wollen nicht aufhören, just dieses Bild sei gestellt. Außerdem heißt es immer wieder, es sei gar nicht von Capa, sondern von Gerda Tara, einer der ersten Kriegsreporterinnen überhaupt, Capas Freundin, mit der er eng zusammenarbeitete. Die 'mexikanischen Koffer' werden die Wahrheit an den Tag bringen."

Nach dem 30. Januar vor 75 Jahren war keineswegs alles so klar, wie es im Rückblick scheint. Sven Felix Kellerhoff findet darum sowohl den Begriff der "Machtergreifung" als auch den Begriff der "Machtübernahme" unzutreffend: "Will man verstehen, wie der Absturz Deutschlands in die zwölfjährige braune Barbarei begann, wie innerhalb weniger Monate aus dem kriselnden Rechtsstaat eine populäre Diktatur wurde, muss man das erste Halbjahr 1933 als eine Kombination von 'Machtübertragung' und 'Machteroberung' verstehen."

Weitere Artikel: Kirsten Liese stellt ein Buch des Journalisten Klaus Lang über die 97-jährige Furtwängler-Witwe Elisabeth vor, in dem neue Dokumente den Hass Furtwänglers auf die Nazis belegen. Eckhard Fuhr kommentiert die Entscheidung des Suhrkamp-Verlags, Florian Havemanns umstrittenes Buch über seinen Vater ins Netz zu stellen. Der ehemalige Berliner Baustadtrat Hans Stimmann belegt, dass Rekonstruktionen von Bauten schon immer gang und gäbe waren. Peter Dittmar schreibt über die Krise der Kunstmessen in Köln, Frankfurt und München. Und Uwe Schmitt stellt die von Henry Louis Gates gegründete Internetzeitung für Schwarze The Root vor.

Besprochen werden Sean Penns Film"Into the Wild" und eine Pariser Ausstellung über Sacha Guitry (mehr hier).

Auf der Magazinseite preist Wilhelm Pauli eine Form des Tabakgenusses, die selbst in Nichtraucherkneipen nicht verboten ist: den Schnupftabak.

SZ, 30.01.2008

"Sternstunden des Romantischen Balletts" gab das Berliner Staatsballett kürzlich. Donnernder Applaus, nur Dorion Weickmann bleibt kühl. Wer im 19. Jahrhundert Ballettvorstellungen sah, beherrschte selbst die Anfangsgründe der Tanzkunst. Das "waren bis in die zweite Jahrhunderthälfte hinein die gleichen Fußpositionen, die gleichen Armführungen, selbst rudimentäre Varianten jener Sprünge und Pirouetten, die professionelle Tänzer in der Oper zum Besten gaben. ... Wer heute den 'Sternstunden des Balletts' beiwohnt, ist von dieser Praxis und der damit verbundenen Urteilsfähigkeit in aller Regel abgeschnitten. Wie sich eine Pirouette anfühlt oder die delikate Balance des Körpers auf der halben Spitze, weiß kaum jemand mehr. So bejubelt eine eingeschworene Gemeinde ihre Stars, Malakhovs Tänzerinnen, und erhascht dabei doch nur Seitenblicke auf die glänzend polierte Oberfläche einer Kunst, die zu ihrer Entstehungszeit tief in der Gesellschaft verankert war."

Weitere Artikel: Andrian Kreye kommentiert die Marotte historischer Vergleiche im amerikanischen Wahlkampf. Willi Winkler beschreibt die Niederlage der Vietcong in der Tet-Offensive als Geburtsstunde der Proteste von 1968. Der in München lebende Schriftsteller Vanamali Gunturu erinnert an Mahatma Ghandi, der heute vor 60 Jahren erschossen wurde. Frank Thinius resümiert ein Kolloquium zum Thema Armut und Wohnen in der Berliner Architekturgalerie Aedes. Alexander Menden berichtet über die Entdeckung von Werken von Fra Angelico und Rosetti im Haus der Bibliothekarin Jean Preston in Oxford. "crab" relativiert die angebliche Einigung über legale Musik-Downloads zwischen den Major-Plattenfirmen und der Internet-Plattform Qtrax. Ein Nachruf würdigt den Hamburger Bildungspolitiker Hermann Lange.

Besprochen werden Sean Penns Film "Into the Wild", ein Münchner Bach-Abend mit dem polnischen Pianisten Piotr Anderszewski, Yannis Kokkos Inszenierung von Verdis "Nabucco" an der Bayerischen Staatsoper München, eine Ausstellung im Jüdischen Museum München, die an Heinrich Thannhausers "Moderne Galerie" erinnert, und Bücher, darunter Ron Leshems Bestseller-Roman "Wenn es ein Paradies gibt" und "Essais und Einfälle" des Gegenaufklärers Louis de Bonald (mehr dazu in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

FAZ, 30.01.2008

Schriftsteller in die Produktion? Dann verstünden sie vielleicht etwas mehr von unserer und ihrer Gegenwart, überlegt Richard Kämmerlings, der sich mit der deutschen Gegenwartsliteratur langweilt. "Es mangelt an dem, was unser Leben jenseits des Privaten formt und bestimmt: die Wirtschaft, die Technik, die Medizin, das Militär, ja selbst die Medien. Warum das so ist, ist leicht erklärt. Weniger allerdings, warum es niemand ändert. Ein Schriftsteller hat heute in der Regel schlicht keine Ahnung von diesen hochdifferenzierten Systemen mit ihrer jeweiligen Eigenlogik und ihren Fachsprachen. Da geht es ihm freilich wie den meisten Bürgern. Wer hat denn schon verstanden, womit Kerviel wirklich handelte?"

Weitere Artikel: In der Glosse kommentiert Jordan Mejias sanft ironisch die salbungsvollen Worte von Literatur-Nobelpreisträgerin Toni Morrison, mit denen sie den Präsdientschaftskandidatenbewerber Barack Obama als Weisen beschreibt. "Vernagelt" findet Patrick Bahners die Einlassungen des Stammzellforschers Hans Schöler, der in einem Interview die Stammzelldebatten als Ablenkungsmanöver von der dringlicheren Frage nach dem Umgang mit Abtreibung begreift. Besorgt über Drunter und Drüber beim Kölner Museum für Angewandte Kunst zeigt sich Andreas Rossmann. Der Altorientalist Christoph Ulf eröffnet die Meta-Debatte um Raoul Schrotts Homer-Thesen (hier der Artikel) mit Überlegungen zu den Gründen für das Erregungspotenzial von Schrotts Verschiebungsbemühungen. Martin Kämpchen informiert über das spirituelle Fortleben von Mahatma Gandhi in Indien.

Andreas Platthaus hat sich bei den Leipziger Kabarettisten der "Herkuleskeule" umgesehen. Den Kampf der Orchestermusiker um ihre Tariferhöhung schildert Julia Spinola. Andreas Kilb erinnert an den sich zum fünfzigsten Mal jährenden Tod des Flugpioniers Ernst Heinkel. Catrin Lorch porträtiert Gerard Goodrow, der die ins Trudeln geratene Art Cologne auch nicht retten konnte. Paul Ingendaay berichtet auf der Medienseite von einem ziemlichen Tageszeitungs-Auflagendurcheinander in Spanien und weiß außerdem von einem schlechten Jahr für den spanischen Film. Oliver Jungen schreibt den Nachruf auf den Mediävisten Johannes Laudage.

Besprochen werden Sean Penns Film "Into the Wild", Yannis Kokkos' Münchner Inszenierung von Verdis "Nabucco", Peter Halls Inszenierung von Tschechows "Onkel Wanja", mit der in der Londoner Vorstadt das neue Rose-Theater eröffnet wurde, und Bücher, darunter Kader Abdohlahs iranische Familiensaga "Das Haus an der Moschee" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).