Heute in den Feuilletons

One-Trick-Pony

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
04.02.2008. Inszenierung der Woche: ganz klar Ibsens "Wildente" in Michael Thalheimers Inszenierung, groß besprochen, wenn auch nicht einhellig. Die Blogs fragen: "Microhoo - Microwho?" und zitieren auch eine empörte Reaktion von Google selbst, das die Freiheit im Internet in Gefahr sieht, zumindest die eigene. In der NZZ erzählt Bora Cosic, wie in Jugoslawien in den Fünfzigern die Realität abhanden kam.

NZZ, 04.02.2008

Heute morgen war die NZZ noch nicht online. Vielleicht sehen Sie später noch einmal hier nach.

Der serbische Schriftsteller Bora Cosic erinnert sich an die fünfziger Jahre in Titos Jugoslawien, die nach Titos Bruch mit Stalin ein wenig bunter wurden als im übrigen Ostblock: "Trotz allen Beschwerlichkeiten des Alltags hörten die jungen Leute auf, das Leben als etwas Reales zu betrachten, alles kam ihnen wie Theater vor, wie ein Schauspiel und wie eine Filmkomödie. Dies begann schon in den ersten Nachkriegsjahren, auf den Straßen und Plätzen kamen improvisierte Vorstellungen auf, symbolische Schauspiele, spontane Wettbewerbe im Seilziehen oder Holzsägen, Kunst dieser oder jener Art griff um sich. Ich war manchmal nicht sicher, ob ich im Theater, vielleicht im Zirkus lebte."

Weiteres: Als gute Nachricht wertet Marc Zitzmann Sarkozys Hochzeit mit der kultivierten Carla Bruni. Abgedruckt wird ein Vortrag Meinhard Miegels zur Zukunft des Planeten. Besprochen werden Monteverdis "L'Orfeo" im Theater Basel, zwei Tanz-Uraufführungen in St. Gallen, Schönbergs "Variations on a Recitative" beim Collegium Novum Zürich und Enda Walshs Stück "The Homefront" in der Berner Vidmarhalle.

FR, 04.02.2008

Auf dem Medienkultur-Festival Transmediale in Berlin sieht Elke Buhr vor lauter Medien oft die Botschaft nicht mehr. "Genau das ist ja gelegentlich das Problem bei der Szene, die auf der Transmediale ihr Forum findet: Man ist technologisch so avanciert, dass man vergisst, was man mit dieser Technologie eigentlich transportieren wollte. Auffällig war das in diesem Jahr wieder bei einigen der vorgestellten Kunstprojekte. Sounds aus einem finnischen Atomkraftwerk mit Bildern von Bäumen im Wald zu kombinieren, hört sich vielleicht interessant an, wirkt aber als Video zum Gähnen langweilig."

Weiteres: Harald Keller bezweifelt anlässlich eines aktuellen Falls, ob die sofortige Entfernung aus dem Sendebetrieb immer das richtige Mittel ist, um auf geschmacklose NS-nahe Äußerungen von Moderatoren oder Gästen zu reagieren. In der Times mager wird Judith von Sternburg durch einen texanischen Staatsanwalt auf einen "rassistischen Geheimcode" aufmerksam, nach dem Schwarze als "Kanadier" bezeichnet werden.

Besprochen werden die Ausstellung zu Sizilien in der Bundeskunsthalle Bonn, der von Rimini Protokoll veranstaltete Abend "100 Prozent Berlin" mit hundert Berlinern zum hundertsten Geburtstag des Berlner Hebbel-Theaters sowie Florian Fiedlers und Robert Lehnigers Inszenierung von Lars von Triers Film "Dear Wendy" am Schauspiel Frankfurt.

Aus den Blogs, 04.02.2008

Unter der Überschrift "Microhoo - Microwho?" kommentiert Thomas Knüwer in seinem Blog Indiskretion Ehrensache das feindliche Übernahmeangebot von Microsoft, das sich Yahoo unter den Nagel reißen will: "Mich erinnert der Deal fatal an AOL und Time Warner. Auch damals klang die 'industrielle Logik' (ein grauenhafts Buzzword) verlockend, Milliarden Kosteneinsparungen wurden verkündet. Das Ergebnis: eines der buntesten Desaster der modernen Wirtschaftsgeschichte. Denn hier versuchten sich zwei Konzerne zu vereinen, die überhaupt nicht zueinander passten."

Das Googlewatchblog präsentiert eine offizielle Reaktion von Google, die ziemlich nervös klingt: "Das feindliche Übernahmeangebot wirft beunruhigende Fragen auf. Das ist mehr als eine finanzielle Transaktion, die auf die Einverleibung eines Unternehmens zielt: Offenheit und Innovation. Es geht hier um grundlegende Prinzipien des Internets. Will Microsoft nun den gleichen unangemessenen und illegalen Einfluss auf das Internet ausüben wie beim beim PC?" Und hier der neueste Klatsch zum Deal bei Techcrunch. Und die New York Times meldet, dass Google den bedrängten Kollegen von Yahoo seine Hilfe angeboten hat. Das große Ding bei der Fusion ist aber gar nicht die Suche, sondern die E-Mail, meint Tim O'Reilly, der Erfinder des Begriffs Web 2.0.

TAZ, 04.02.2008

Ansgar Werner erzählt sehr schön von Wolfgang Koeppens in der Suhrkamp-Werkausgabe neu veröffentlichten Reiseessays "Nach Rußland und anderswohin". Die Essays, die Koeppen fürs Radio schrieb, würden heute wohl nicht mehr gesendet werden: "Koeppen lieferte nach jeder Reise immer wieder lange Monologe ab, die gesprochen zwei, drei, ja im Falle des Russland-Essays schließlich fast vier Stunden dauerten. In diesem Fall gab Koeppen gegenüber Andersch zu, sich 'fürchterlich verrechnet' zu haben. Professionelle Sprecher wie Bernhard Minetti bügelten das potenzielle Manko jedoch wieder aus und gaben den Radio-Essays jenen unverwechselbaren Klang, der Hörer und Rezensenten begeisterte." (Alfred Andersch war zu der Zeit Leiter der Radio-Essay-Redaktion des Süddeutschen Rundfunks.)

Weitere Artikel: Judith Luig resümiert das Walberberg-Seminar des British Council, bei dem Verleger, Wissenschaftler, Autoren und andere Geistesarbeiter über zeitgenössische britische Literatur diskutieren. Joanna Itzek kolportiert Meldungen amerikanischer Zeitungen, nach denen sich Hollywood und die Drehbuchautoren geeinigt haben.

Besprochen werden Sebastian Baumgartens Inszenierung von Puccinis Oper "Tosca" an der Berliner Volksbühne (und zwar im Stile einer rasanten Revue mit viel Blut, Pop und House, verspricht Ulrich Gutmairs Artikel in der Unterzeile, schauder) und ein Auftritt der türkischen Sängerin Sezen Aksu im Berliner Tempodrom.

Tom gibt es auch.

Welt, 04.02.2008

Inszenierung der Woche ist ganz klar Ibsens "Wildente" in der Regie Michael Thalheimers im Deutschen Theater. "Die eigentliche Sensation des Abends ist die Bühne von Olaf Altmann", meint Matthias Heine, "nur ein gewaltiger schräger Kreis, auf dem die Familie Ekdahl genauso leicht ins Rutschen kommt wie eine achtlos auf den Boden gelegte Pistole."

Weitere Artikel: Hanns-Georg Rodek annonciert eine mögliche Einigung beim Autorenstreik in Hollywood. Uta Baier erklärt, warum die Museen die Sammler brauchen, aber nicht umgekehrt. Und Gernot Facius berichtet über den Plan für einen katholischen Fernsehkanal. Finanzminister Peer Steinbrück entpuppt sich im Interview mit Hanns-Georg Rodek als Kinofan.

Besprochen weden eine "Tosca"-Variation von Sebastian Baumgarten an der Berliner Volksbühne (die Manuel Brugs Gnade nicht findet) und Stockhausen-Konzerte vom Berliner Festivall "Ultraschall".

Auf der Magazinseite erzählt Stefano Cingolani die glamouröse Vita der neuen Premiere Dame de France. Und in einem Essay der Forumsseite fürchtet Wolf Lepenies, dass John McCain als lachender Dritter aus der Konkurrenz zwischen Hillary Clinton und Barack Obama hervorgehen könnte.

Berliner Zeitung, 04.02.2008

Im Interview mit Birgit Walter prangert der FDP-Kulturpolitiker Hans-Joachim Otto die "Reformunfähigkeit der deutschen Medienpolitik" an, die sich besonders in der Frage der Gebühreneinzugszentrale zeige ("den Schnüffelapparat GEZ gibt es weiter"). Aber auch die Internet-Aktivitäten der Öffentlich-Rechtlichen sind ihm nicht geheuer: "Weil uns weisgemacht werden soll, dass es qualitätsvollen Journalismus im Internet nur gebe, wenn sich die Öffentlich-Rechtlichen dort als Anbieter betätigen. Das ist kompletter Unsinn, schließlich existieren auch hervorragende Zeitungen in Deutschland ohne Gebühren. Es spricht nichts dagegen, programmbegleitend im Internet aktiv zu sein. Aber eigens für das Internet produzierte öffentlich-rechtliche Inhalte zwingen privaten Anbietern einen Verdrängungswettbewerb auf. Das ist unfair."
(Von Verdrängung der großen Zeitungen kann wohl kaum die Rede sein, wenn tatsächlich bereits ein 'umfangreicher Kooperationsvertrag' zwischen WDR und WAZ vor der Unterzeichnung steht und Süddeutsche Zeitung und ZDF ebenfalls über eine Kooperation nachdenken, wie die Netzeitung meldet.)

SZ, 04.02.2008

Doppeltes Drama heute: Zu einer bitterbösen Abrechnung fühlt sich Christopher Schmidt von Michael Thalheimer provoziert, der Henrik Ibsens "Wildente" am Deutschen Theater Berlin auf zu gewohnte Art in Szene setzte. "Michael Thalheimer ist das, was man im Zirkus ein One-Trick-Pony nennt. Er hat eine schmale Methode gefunden, wie man sich mit der immergleichen Nummer seinen Hafer verdient und jedes beliebige Stück der dramatischen Weltliteratur in neunzig gefälligen Minuten erzählt".

Beifall dagegen bekommt dagegen Jan Bosse von Michael Struck-Schloen, und zwar für seine Expedition nach Basel und ins Operngenre. Monteverdis "Orfeo" gehe Bosse mit der "kreativen Unschuld eines 'absolute beginner' an. Die Tatsache, dass es im Palazzo Ducale von Mantua kein wirkliches Theater für die Uraufführung des 'Orfeo' gab, inspiriert Bosse zu einer (historisch eher unwahrscheinlichen) Vermischung von Publikum, Musikern und Akteuren beim Prolog im Foyer. Da erklimmt ein Sänger mit angeklebtem Bart den Bartresen, Choristen sind als Besucher maskiert, während Publikum mit auf die Revuetreppe muss, wo die braven Eidgenossen neben dem in Feuerrot agierenden 'Superstar' Orfeo naturgemäß eine unglückliche Figur machen."

Weitere Artikel: Für Bruno Preisendörfers leidenschaftliche Streitschrift gegen "Das Bildungsprivileg" des gegliederten deutschen Schulsystems wirbt Jens Bisky ebenso leidenschaftlich im Aufmacher. Die Design-Professorin Friederike Girst bescheinigt Barrack Obama eine progressive Gestaltung von Logo und Website. Susan Vahabzadeh erinnert an die schillernde Victoria Claflin Woodhull, die sich schon 1872 aufgrund einer Gesetzeslücke um das Präsidentenamt bewarb, knapp 50 Jahre bevor amerikanische Frauen wählen durften. Carola Gruber weist im "Internationalen Jahr der Sprachen 2008" darauf hin, dass jedes Jahr einige der derzeit 6500 Sprachen aussterben. Jörg Später meldet die Einstellung der wissenschaftlichen Zeitschrift Sozial.Geschichte. Bernd Bremer listet die Programmhöhepunkte des Filmfestivals in Rotterdam auf, das immerhin 220 Langfilme im Angebot hat. Cornelia Gockel befragt die Künstlerin Sarah Morris über ihren Film zur Geiselnahme bei den Olympischen Spielen "1972", der im Frühjahr im Münchner Lenbachhaus zu sehen sein wird.

Tobias Moorstedt fällt auf der Medienseite auf, dass Fernsehberichterstattung über die Vorwahlen zwar mehr Zuschauer anzieht als die SuperBowl, über die Politiker aber wie über Leistungssportler berichtet wird.

Besprochen werden die "missglückte" Uraufführung von Tankred Dorsts "Künstler" durch Christian Pade in Bremen, DVD-Neuerscheinungen wie der allererste "Godzilla" von Inishiro Honda 1954 und Bücher wie Ute Planerts Studie zum "Mythos vom Befreiungskrieg" sowie das zweite Konvolut von Paulus Böhmers "Kaddish"-Reihe (mehr in unserer Bücherschau des Tages).

nachtkritik, 04.02.2008

"Alles total verknubbelt bei Ibsen", spottet Nikolaus Merck über Michael Thalheimers Inszenieung der "Wildente" in Berlin: "Schließlich brüllt, darüber könnte eine Welt in Tränen ausbrechen, die Tochter. Verstoßen, verlassen, allein. Der Po hängt durch, die Schultern wollen fast am Boden schleifen, ein einzig? Bild des Jammers. Das ist die Neuerung in Michael Thalheimers essentialistischem Theater. Wenn früher die Welt in den Abgrund rutschte, der in der Menschenseele sich auftut, durften die Protagonisten nur starren, schweigen und brüten. Jetzt dürfen sie brüllen. Wie am Spieß."

FAZ, 04.02.2008

"Wahrhaft groß" findet Irene Bazinger Michael Thalheimers Inszenierung der "Wildente" am Deutschen Theater. "Obwohl 'Die Wildente' mit ihrer Symbollast und ihrer pathetisch konstruierten Geschichte mittlerweile halbwegs entrückt wirkt, gelingt es Michael Thalheimer, das Stück überragend leicht, intelligent und unangestrengt gegenwärtig zu inszenieren. Wenn sich zum Beispiel Gregers und Hjalmar nach langer Zeit plötzlich begegnen, könnte man ihren Dialog wohl selbst ohne Deutschkenntnisse begreifen, derart beredt ist er schon durch die brillant gesetzte Wortmelodie und die adäquate, eloquent beherrschte Körpersprache.

Eine entschiedene Widerrede gegen die um ein Jahr verkürzte G 8-Gymnasialschulzeit kommt von Christian Geyer. Patrick Bahners war beim Karneval im Bonner Pantheon-Theater. Außerdem weist er die FAZ-Leser hocherfreut auf ein Ayaan-Hirsi-Ali-kritisches Interview in der taz hin, das Geert Mak einem nicht weniger begeisterten Daniel Bax gegeben hat. In der Glosse kann Paul Ingendaay der Berufung von Manuel Borja-Villal zum neuen Direktor des Madrider Reina-Sofia-Museums nur Gutes abgewinnen. Lorenz Jäger findet das heftig umstrittene atheistische Ferkel-Kinderbuch "nicht spezifisch oder ausschließlich antisemitisch", sondern vor allem: "niedrig". Eine Einigung im Hollywood-Drehbuchstreit stellt Jordan Mejias in Aussicht. Edo Reents gratuliert dem Rocker Alice Cooper zum Sechzigsten. Auf der letzten Seite werden die professionellen Teilnehmer des Internet-Leseraums zu Jonathan Littells Roman "Die Wohlgesinnten" vorgestellt.

Besprochen werden die Bremer Uraufführung von Tankred Dorsts Stück "Künstler", Sylke Enders' Film "Mondkalb", eine Wiener Ausstellung über "Die Korngolds" und Bücher, darunter Gilbert Adairs postmoderner Kriminalroman "Ein stilvoller Mord in Elstree" und die Mahnschrift des Islamwissenschaftlers Olivier Roy mit dem Titel "Der falsche Krieg" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).