Heute in den Feuilletons

In Pest blätterte der Putz

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
06.02.2008. Robert Menasse fragt in der Presse: Was ist jüdisch in den "Jüdischen Porträts" von Herlinde Koelbl? Focus Online greift einen Bericht der New York Times über eine muslimische Initiative gegen Mohammed-Porträts in Wikipedia auf. In der SZ legt Budapest sein schönes Haupt unter die Klinge der Zeit, zumindet laut Andrzej Stasiuk. Die NZZ fragt: Warum ist Tariq Ramadan gegen das Gastland Israel bei der Turiner Buchmesse? Die Berliner Zeitung fragt: Waren die 68er wie die 33er?

NZZ, 06.02.2008

Franz Haas berichtet von Boykottaufaufrufen linker und arabischer Splittergruppen gegen die Buchmesse in Turin, deren Gastland in diesem Jahr Israel wird. "Unterstützt wurde die Initiative auch von Tariq Ramadan, dem allgegenwärtigen und umstrittenen islamischen Gelehrten, der in einem Interview mit der Nachrichtenagentur Adn-Kronos sein rhetorisches Gift in den Disput träufelte. Die Turiner Zeitung La Stampa titelte aufgeregt über 'Die Fatwa von Ramadan' gegen Israel und die Buchmesse. In den italienischen Medien und auch bei den linken Parteien überwiegen bei weitem die Vernunft und die Ablehnung des Boykotts, aber die Zwietracht ist bereits gesät, und die Veranstalter fürchten Spannungen oder Schlimmeres."

Einige Links zur Angelegenheit: Wir haben ein italienisches Blog gefunden, in dem aus Ramadans Interview zitiert wird. Tariq Ramadan äußert sich zu Kritik auf seiner eigenen Website und wirft seinen Kritikern vor, ihn falsch und tendenziös zu zitieren: "Wer sich verweigert, Israel und seine Unterdrückungspolitik zu feiern ist noch kein Antisemit und tritt nicht für die Abschaffung der Meinungsfreiheit ein." Ramadan antwortet auf einen Blogbeitrag von Pierre Assouline auf der Website von Le Monde. Tahar Ben Jelloun hat sich anders als Ramadan gegen einen Boykott gewandt.

Weiteres: Werner Jacob bewundert die neue Konzerthalle "Zenith" von Massimiliano Fuksas in Straßburg: "Knallig orangerot erhebt es sich in wirkungsvollem Komplementärkontrast auf der mattgrünen Wiese. Nachts von innen heraus leuchtend, verleiht es träumerischen Phantasien Flügel." Marc Zitzmann sieht sich in Paris Kleist-Inszenierungen an. Daniel Ender resümiert die Mozartwoche Salzburg 2008.

Besprochen werden Mark und Michael Polishs Film "The Astronaut Farmer", Margarete Vöhringers Studie "Avantgarde und Psychotechnik" und Kinderbücher (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

FR, 06.02.2008

Peter Michalzik stellt den "erfolgreichsten Theaterintendanten dieses Jahrzehnts" vor: Ulrich Khuon. "Er spricht von den sozialen Verhältnissen, die sich verschärfen, er denkt an den Film 'Gosford Park' von Robert Altman, wo man die neofeudalen Verhältnisse schön sehen kann. Man sieht, dass es gärt. 'Ich kann', sagt er irgendwann, 'radikaler sein, als es im Moment aussieht.' Man merkt, dass es ihn ärgert, wenn man ihn für verbindlich-unverbindlich hält. 'Ich bin immer an ästhetisch radikalen Positionen interessiert, aber ich bin auch daran interessiert sie zu vermitteln. Wir müssen uns schon aushalten', sagt er und meint das Theater und das Publikum. Und trotzdem sieht Khuon sich als Außenseiter. 'Ich habe mich nie mit einer Gruppe identifiziert. Selbst im Theater bin ich ja fremd - das habe ich immer so empfunden. Ich bin kein Künstler. Ich bin auch eitel, aber ich habe keine Stilisierungssehnsucht.'"

Weiteres: In diesem Jahr wird die Berlinale wundervoll, glaubt Daniel Kothenschulte, der nur ganz ganz kurz daran erinnert, wie grauenvoll sie im letzten Jahr war. Harry Nutt porträtiert die Fotografin Erika Rabau, "das Auge der Berlinale". Berlin ist für amerikanische Filmstudios einer der beliebtesten Drehorte, erzählt Johannes Gernert. Wolfgang Hettfleisch berichtet über die Zusammenarbeit der Fußballzeitschrift kicker mit Spiegel TV, "um von April an die jeweiligen Internet-Auftritte mit Videos aufzupeppen". Besprochen wird eine Rekonstruktion der Ausstellung "Entartete Musik" von 1938 in der Tonhalle Düsseldorf.

Weitere Medien, 06.02.2008

Eine breite Bewegung von Muslimen fordert, dass bildliche Mohammed-Porträts aus der Wikipedia entfernt werden, berichtet Torsten Kleinz in Focus.de: "Der Aufruf hat offenbar den Nerv vieler Muslime getroffen: Die angepeilten 10.000 Unterschriften wurden nach kurzer Zeit erreicht, inzwischen haben sich über 88.000 Unterzeichner bei der Petitionsseite eingetragen. Viele Unterschriften kommen aus muslimischen Ländern wie Pakistan, viele aber auch aus Europa und Amerika. Der Ton ist durchweg friedlich." Die New York Times hatte die Meldung gestern.

TAZ, 06.02.2008

Martin Rapp hat die Cite nationale de l'histoire de l'immigration in Paris besucht, das staatliche Einwanderungsmuseum, das er durchaus schätzt, aber für zu eng angelegt hält: "Der Rundgang beginnt mit Fotos von Robert Capa und David Seymour zum Exodus der republikanischen Spanienkämpfer 1939 über die Pyrenäen und endet mit einer Galerie großer Einwanderer, von Francisco Goya bis zu Emir Kusturica. Deren Präsentation scheint programmatisch. Im Rampenlicht stehen Einwanderer, die es geschafft haben. Ihre Lebensgeschichten erscheinen als Erfolgsgeschichte der multikulturellen Gesellschaft. Legenden wie Zinedine Zidane dürfen da nicht fehlen. Sie machen sich besser als Bilder von Aufständischen aus den Banlieues. Diese, die 'jeunes', schaffens nicht ins Museum. Einige sehr schöne Farbfotos von Florence Delahaye über die Werke von Sprayern im öffentlichen Raum bleiben der einzige Hinweis auf diese Szene."

Weiteres: Für einen großen Redner hält Julia Große Prince Charles zwar nicht, aber sein Vergleich der Londoner Hochhäuser mit "Eiterbeulen", die die Stadt unter einer "pockennarbigen Skyline" vergrüben, findet sie treffend. Barbara Schweizerhof hat sich die Politsatire "Der Krieg des Charlie Wilson" angesehen.

Auf einer Tagesthemenseite berichtet Dilek Zaptcioglu, dass in der Türkei heute per Verfassungsänderung das Kopftuchverbot an Universitäten abgeschafft wird. Erlaubt sein soll künftig das traditionelle Kopftuch, nicht jedoch das poltische. Im Interview mit ihr sagt dazu der Jurist Mithat Sancar: "Die Regierung hat ihrem Pragmatismus jetzt noch einen Populismus und Opportunismus hinzugefügt. Ihre Unterstützerin in der Kopftuchfrage, die MHP, sollte das Wort 'Freiheit' nicht einmal in den Mund nehmen. Die oppositionelle Partei CHP wiederum nutzt die Ängste und ist jederzeit bereit, die Demokratie zu opfern. Das heißt, wir haben auf der einen Seite eine nationalistisch-konservative Gesinnung und auf der anderen die linksnationalistisch-autoritäre Allianz."

Und noch Tom.

Berliner Zeitung, 06.02.2008



Sind die 68er wie die 33er? Götz Aly zieht in seinem kommenden Buch "Unser Kampf" (aus dem der Perlentaucher ab Montag vorblättern wird) eine solche Parallele. Harald Jähner ist damit nicht einverstanden: "Das allerdings heißt, die groteske Selbstüberschätzung der Wortführer von einst fortzuschreiben. Richtig ist, dass sich Dutschke und Rabehl für die Avantgarde der gesellschaftlichen Veränderungen hielten. In Wahrheit waren sie aber nur Nebenfiguren des Umwälzungsprozesses, den man gern mit dem Kürzel 68 belegt."
Stichwörter: Aly, Götz

Presse, 06.02.2008

Robert Menasse schreibt eine Hommage auf Herlinde Koelbls "Jüdische Porträts", die in Wien ausgestellt sind. Auf die selbst gestellte Frage "Was soll denn 'jüdisch' sein an Porträts"", antwortet er: "Alle diese Menschen, die Herlinde Koelbl porträtiert hat, sind als 'jüdisch' verfolgt worden. Das haben sie gemeinsam, nur dies, und eben dies ist eine objektive historische Tatsache, sie kann nicht ausgeblendet werden. Und vor diesem Hintergrund zeigt sich ebenso objektiv ein je einzigartiger, unverwechselbarer Mensch. Dies setzt Herlinde Koelbl ins Bild, und so ist ihr Arbeitsgerät buchstäblich ein 'Objektiv'."

Welt, 06.02.2008

"Die Nachrichten aus Bayreuth sind augenblicklich etwas kryptisch", meldet Manuel Brug. "Gerüchte besagen, der 88-jährige Immer-Noch-Festspielleiter Wolfgang Wagner sei nach dem überraschenden Tod seiner Gattin Gudrun wieder aufgeblüht". Jedenfalls habe Wagner zusammen mit Tochter Katharina die BF Medien GmbH gegründet, die die Mediengeschäfte und insbesondere die DVD-Verwertung regeln soll. Wenn nur eines Tages "doch jemand, der nicht Katharina Wagner heißt, am Grünen Hügel einziehen sollte, dann könnte es sein, dass er mit Radio-, TV- und DVD-Mitschnitten Schwierigkeiten bekommet, weil die mit Wolfgang und Katharina Wagner sowie ihrer GmbH abzustimmen sind. Es wäre möglich, dass beide hier auf einem Nebenkriegsschauplatz eben jenes Nadelöhr gefunden haben, das ihnen weiterhin die Macht sichert, die sonst irgendwann einmal eine endliche wäre."

Weitere Artikel: Martin Scorsese antwortet auf die Frage, was er früher bei einem Rolling Stones Konzert gemacht hat: "Beschwingt mit dem Schuh gewippt." Michael Pilz lässt Filme über Musik an uns vorbeiziehen. Philipp Demandt berichtet über eine konzertierte Aktion zur Rettung von Carl Eduard Biermanns Gemälde "Borsig's Maschinenbauanstalt zu Berlin". Hendrik Werner bereitet uns schon mal auf den kommenden Tatort vor: Es geht um einen "Ehrenmord". Eckhard Fuhr erhofft sich eine baldige Beilegung des Dresdner Schlossbrücken-Streits. Peter Dittmar macht auf das heute beginnende Jahr der Ratte aufmerksam. Roger Cicero spricht im Interview über die Tücken der deutschen Sprache für einen Swing-Sänger. Kai-Hinrich Renner meldet die neuesten Entwicklungen in Sachen Aust ./. Spiegel.

Besprochen werden Jan Bosses "grandios gelungene" Inszenierung der Monteverdi-Oper "Orfeo" in Basel und der Film "No Country for Old Men" von den Coen-Brüdern.

Auf der Magazinseite spielt Stefanie Schneider Klavier. Mit Lang Lang. "Wir spielen die Goldberg-Variationen von Bach. Meine Had sträubt und stemmt sich gegen seine wie ein pummeliges Mädchen auf der Tanzfläche, macht sich krumm, aber Lang Lang, unbeeindruckt, hackt mit meinem Zeigefinger auf die Tasten des Steinway."

SZ, 06.02.2008

Auf der Literaturseite schildert der polnische Schriftsteller Andrzej Stasiuk eine winterliche Reise nach Budapest: "Und so gingen wir quer durch den Stadtteil Erzsebetvaros mit seinen tragischen Balkonen, dem Rost an den Gitterverzierungen, dem Leichenstuck, mit seiner narkotischen Melancholie, mit all dem, was den Fans der Dekadenz den Atem raubt. In Pest blätterte der Putz, die Menschen waren schon abgeblättert. So weit das Auge reichte, kein Hochhaus. Die Stadt wartete in aller Ruhe darauf, geschlachtet zu werden. Legte ihren schönen, traurigen Schädel unter die Klinge der Zeit."

Im Aufmacher beschreibt der venerable Auslandskorrespondent der SZ und Orientliebhaber Rudolph Chimelli "die exemplarische Rolle, die Kopfbedeckungen für die Identität der Türken spielen, damals wie heute, durch den Fez oder durch die Kopftücher der Frauen - entweder für ihre Zugehörigkeit zum Westen oder für ihr Bewusstsein als Muslim"

Weitere Artikel: Johannes Willms stellt neue Projekte des Grand Louvre vor, der durch seine Dependance in Abu Dhabi finanziell gedopt ist. Lothar Müller meditiert über Nächstenliebe im Zeitalter der Globalisierung. Wolfgang Jean Stock inspiziert neueste Architektur in Prag. Jörg Häntzschel freut sich über eine neue Filiale des New Yorker Goethe-Instituts in der Lower East Side in der Ludlow Street, wo der neue Programmdirektor des Instituts Stephan Wackwitz für Ausstellungen neuester Kunst sorgt. Gisa Funck porträtiert den jungen Kabarettisten Marc-Uwe Kling als Repräsentanten einer neuen Generation, die "ganz bewusst nicht den anklagenden Besserwisser raushängen lässt".

Besprochen werden Tanzabende Sylvie Guillems und Russell Maliphants in Berlin, die Ausstellung "Trommeln der Schamanen" in Zürich und Bücher, darunter Wolfgang Frühwalds Studie "Wieviel Wissen brauchen wir? Politik, Geld und Bildung".

Auf der Medienseite berichtet Wolfgang Keil über Stefan Austs jetzt noch viel frühzeitigeren Abgang beim Spiegel. Und Nikolaus Piper meldet, dass Al Gore seinen Kanal Current TV an die Börse bringen will.

Auf der Seite 2 bereitet uns die SZ mental auf die kommende Berlinale vor. Tobias Kniebe erzählt, wie sich die Berlinale gegen Cannes und Venedig durchsetzte.

FAZ, 06.02.2008

Hannes Hintermeier macht sich Sorgen um das Deutsche Museum (Website) in München, das dringend saniert werden müsste und überhaupt mehr Geld braucht: "Auch wer nach langen Jahren wieder dort hinkommt, wird es sofort und umstandslos als das erkennen, was es ist: das gute alte Deutsche Museum. Betonung auf alt. Denn in die Jahre ist es gekommen, auch wenn einzelne Abteilungen modernisiert und neu gestaltet wurden. Der Befund ist schon auf den ersten Blick deprimierend. Schmutzige Fassaden, viel zu kleiner Eingangsbereich, in dem das ewige Gedränge aufgekratzter Schulkinder wogt, veraltete Kassen. Wenn einer krank ist, sagt man, er stecke in keiner guten Haut. Diese Diagnose kann hier jeder Laie abgeben."

Weitere Artikel: Noch mehr Münchnerisches: Nils Aschenbeck berichtet von Abriss des Studentendorfs auf dem Olympiagelände - und seinem teilidentischen Wiederaufbau am anderen Ort. In der Glosse weiß Dirk Schümer nicht genau, für wie gelungen er die Idee eines Reiseveranstalters hält, als Valentinstagsgeschenk Kurztrips zur Mailänder Scala zu verkaufen. Beim Blick in deutsche Zeitschriften ist Ingeborg Harms auf Übersetzungsprobleme und -Theorien gestoßen. Regina Mönch war beim Richtfest des im Bau befindlichen neuen Lesesaals (Entwurf) der alten Berliner Staatsbibliothek. Karen Krüger porträtiert den türkischen Professor Ali Nesin, der wie mehr als zweitausend weitere Universitätsdozenten ein Manifest unterschrieben hat, in dem die geplante Aufhebung des Kopftuchverbots an den Universitäten befürwortet wird. Thomas Hettche hat den Altphilologen Manfred Landfester besucht, einen der Herausgeber der Neuausgabe der "Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft" (im Fachjargon heißt das Lexikon kurz: "Der Neue Pauly") Auf der DVD-Seite werden unter anderem eine Edition von George Roy Hills Le Carre-Verfilmung "Die Libelle" (Dominik Graf wünscht dem unterschätzten Werk einen Ehrenplatz "auf dem Friedhof der schönsten und mutigsten Filme") und eine Box mit Italo-Western empfohlen.

Für die Medienseite haben sich Karen Krüger und Michael Hanfeld mit Andreas Bareiss und Sven Burgemeister, den Produzenten des Berlinale-Wettbewerbsbeitrags "Feuerherz", auch über die umstrittenen Punkte der Buchvorlage unterhalten. Online schildert Michael Hanfeld die Freistellung mit sofortiger Wirkung von Stefan Aust, nunmehrigem Ex-Spiegel-Chefredakteur sowie die Ernennung seiner Nachfolger Mathias von Blumencron und Georg Mascolo.

Besprochen werden eine Ausstellung mit Fünfminutenkunst in den Berliner Kunstwerken und Bücher, darunter Thomas Maissens Buch zur Schweizer Geschichte "Die Geburt der Republik" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).