Heute in den Feuilletons

Verlockend schwarz und glänzend

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
09.02.2008. In der Berliner Zeitung spricht Andzrej Wajda über seinen Katyn-Film. Die FR begrüßt P.T. Andersons Film "There Will Be Blood" als erstes Meisterwerk der Berlinale. In der SZ macht sich Robert Kagan Sorgen über Russland und Europa. In der Welt sieht Niall Ferguson die Demokratie auf dem Rückzug. In der FAZ schreibt Necla Kelek: "Wir dürfen die Gewalttätigkeit von jungen Migranten nicht kleinreden."

NZZ, 09.02.2008

In Locarno wurde in der Nacht zum vergangenen Samstag ein Student von drei Männern zu Tode geprügelt. Bevor Martin Meyer ausführt, dass die drei Mörder aus Kroatien und Bosnien stammen, sich als Zecher, Partygänger, Machotypen im Internet darstellten, Computerspiele, Horrorfilme und Fernsehreportagen bedenkliche Wirkung zeitigen und das Sprachlosigkeit und Autismus Merkmale solcher Menschen sind, zeigt er auf die untätigen Zuschauer. Es war nämlich Fasnacht an dem Samstag. "Doch dies betrifft bloß den Hintergrund: die Szenerie von Vergnügen und Ausgelassenheit rund um die Piazza Grande. Die Via Borghese, die quer gegen den Hauptplatz führt, lag im Dunklen, und dort - wo nun alles möglich wurde - fühlten sich die Täter im Element. Es gab Menschen. Sie sahen weg. Es gab Stimmen. Sie blieben bedeckt. Es gab - dann, danach - Empörung und Entsetzen. Das aber tut nun nichts mehr zur Sache."

Weitere Artikel: Paul Jandl erzählt, wie die Esterhazys ihr Schloss im burgenländischen Eisenstadt und Eisenstadt selbst zu einem "pannonischen Zentrum der Kunst" machen wollen. Mona Naggar berichtet von der 40. Kairoer Buchmesse. Susanne Ostwald schickt einen Bericht von der Berlinale.

Besprochen werden drei "außerordentliche" archäologische Ausstellungen in Rom und Bücher, darunter Elisabeth Edls "ausgezeichnete" Neuübersetzung der "Kartause von Parma".

Literatur und Kunst ist diesmal fast ausschließlich der Literatur gewidmet. Der Historiker und Verleger Wilhelm Baum schreibt eine anregende Geschichte der slowenischen Literatur des 20. Jahrhunderts. Uwe Pralle stellt neue Biografien und Übersetzungen zu Joseph Conrad vor. Besprochen werden Andrew Delbancos Melville-Biografie, Anthony Trollopes Roman "The Claverings", Laszlo Vegels jugoslawisches Kriegstagebuch "Exterritorium", die Erinnerungen von Titos Dolmetscher Ivan Ivanji und Miodrag Pavlovics Gedichtband "Paradiesische Sprüche" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr). Dirk Pilz schließlich zeichnet ein ganzseitiges kritisches Werkporträt des Regisseurs Michael Thalheimer. Und es gibt ein Gedicht von Michael Hamburger: Late LoveSpäte Liebe.

Berliner Zeitung, 09.02.2008

Jagoda Engelbrecht unterhält sich mit Andzrej Wajda über dessen Katyn-Film. Auch sein Vater wurde bei diesem Massaker der Roten Armee an polnischen Offizieren umgebracht: "Ich hatte noch die Szene bei uns zu Hause vor Augen. Mein Vater ging damals, 1939, zusammen mit seinem Regiment, Richtung deutsche Grenze. Meine Mutter nahm ihren Anhänger mit der Mutter Gottes und steckte ihn meinem Vater in die linke Brusttasche seiner Uniformjacke. Das war das letzte Mal, dass ich meinen Vater gesehen habe, und so habe ich ihn in meiner Erinnerung behalten."

Abgedruckt ist eine lange Gegendarstellung von Hubertus Knabe zu einem Artikel vom 12. Januar, den wir so resümierten.

TAZ, 09.02.2008

Auf der Meinungsseite fragt Mona Naggar angesichts all der staatsfrommen Bekenntnisse in einer Integrationscharta konservativer Muslime in Deutschland: "Spannender sind jene Stellen, in denen die Charta vage bleibt. So wird zwar Respekt vor den Menschenrechten und vor der Religionsfreiheit des Einzelnen bekundet. Wird aber damit auch toleriert, wenn sich Muslime vom Islam abwenden?"

Im Kulturteil berichtet Johanna Schmeller vom Münchner Theaterfestival "Doing Identity - Bastard München". Von Streit um den letzten Band der großen Jörg-Fauser-Werkausgabe weiß Frank Schäfer. Besprochen wird die große Peter-Doig-Schau in der Tate Britain. Auf den Bücherseiten finden sich Rezensionen unter anderem zum neuen Novellenband "Zähne und Klauen" von T.C. Boyle und Barack Obamas Buch "Ein amerikanischer Traum" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Im Berlinale-Schwerpunkt schreibt Cristina Nord über einige Beispiele eines neuen philippinischen Digital-Kinos. Dietmar Kammerer stellt den Talent-Campus vor. Diedrich Diederichsen beschäftigt sich in seiner Kolumne mit Neil Youngs Film "SCNY - Deja vu" über eine Crosby, Stills, Nash & Young-Tour. Besprochen werden der Banlieue-Film "Regarde-moi", das Debüt der jungen Regisseurin Audrey Estrougo, Laetitia Massons Film "Coupable" im Panorama und Koji Wakamatsus Terrorismus-Aufarbeitung "United Red Army". Im taz mag erklärt Johannes Kram, warum der Berlinale-Film "The Amazing Truth About Queen Raquela" nicht die Wahrheit über philippinische Ladyboys erzählt, sondern eher unfreiwillig nur die über den Blick des Westens auf philippinische Ladyboys.

Im Dossier des taz mag denkt der Autor Stephan Wackwitz mit Ludwig Wittgenstein über die Eifersucht und noch grundsätzlichere Dinge nach: "Auf dem Grund allen sinnvollen Denkens liegt keine logische Ableitung, Überlegung, Beweisführung, sondern paradoxerweise vielmehr eine Handlung.... 'Warum überzeuge ich mich nicht davon, dass ich noch zwei Füße habe, wenn ich mich von dem Sessel erheben will? Es gibt kein Warum. Ich tue es einfach.'" Außerdem: taz-Redakteure erinnern zum zehnten Todestag an Falco.

Und Tom.

FR, 09.02.2008

Gleich am ersten richtigen Wettbewerbstag hat Daniel Kothenschulte bei der Berlinale schon einen wirklich grandiosen Film gesehen, nämlich P.T. Andersons "There Will Be Blood": "So entsteht eine eigene, geistige Spannung im Kinosaal, die das Gegenteil des leeren Montagezaubers des späten Scorsese ist: Sie erlaubt Anderson, in die Abgründe eines Charakters zu blicken, ohne diese zugleich interpretatorisch zuzuschütten. Man fühlt sich in eine Zeit zurückversetzt, als es nicht die Ausnahme, sondern die Regel war, dass sich Festivalfilme als Denkanstöße verstanden. Dieser Film braucht die Berlinale, deren Preis ihm sicher ist, nicht: Schon am kommenden Donnerstag läuft 'There Will Be Blood' in unseren Kinos an."

Weitere Artikel: Christian Schlüter widmet der Frage nach dem Gewaltmonopol des Staates eine Times Mager. Marcia Pally erklärt in ihrer Kolumne, warum sie nach einigem Zögern am Super-Tuesday für Barack Obama gestimmt hat. Norman Lebrecht porträtiert die Pianistin Gabriela Montero.

Besprochen werden die Münchner Mark-Rothko-Retrospektive, eine Ausstellung mit Werken des Bildhauers Hans Josephsohn im Frankfurter Museum für Moderne Kunst, die Theaterversion des Films "Elling" im Frankfurter Remond Theater und ein Jacques-Palminger-Konzert im Frankfurter Mousonturm.

Welt, 09.02.2008

Den Artikel aus der Magazinseite über Britney Spears und Amy Winehouse und ihre Selbstzerstörung stellt die Welt selbstverständlich online, den Essay von Niall Ferguson selbstverständlich nicht! Im Internet sind schließlich nur dumme und junge Leser unterwegs. Sie stellen sich Fragen wie: "Zu wem gehört welches Dekollete?" (Eine qualitätsjournalistische Bilderstrecke in 46 Klicks.)

(Aktualisierung vom 12. Februar: Inzwischen gibt es einen Link auf den Ferguson-Artikel, siehe unten.)

Kenia, Südafrika, Thailand, Venezuela, Russland: Mit Sorge konstatiert der Politologe Niall Ferguson, dass die Demokratie auf allen Kontinenten auf dem Rückzug ist. Die Hoffnung will er nach längeren Analysen dennoch nicht aufgeben, weil er die Demokratie mit Churchill für das schlechteste Regime hält - mit Ausnahme aller anderen. "Das bleibt der Fall, nicht zuletzt weil repräsentative Regierungen mit vielen Parteien in der Regel bessere Arbeit leisten als Diktaturen und ein-Parteien-Staaten. Korruption gibt es in den meisten Ländern, fast immer jedoch ist sie in Nicht-Demokratien schlimmer - und ökonomisch schädlicher. Deshalb werden China und Russland, so sie Ein-Parteien-Staaten bleiben, früher oder später aus dem Tritt geraten und hinter die demokratischen Schildkröten Brasilien und Indien zurückfallen."

Außerdem in der Literarischen Welt: Wieland Freund porträtiert den amerikanischen Autor Matt Ruff. Hannes Stein bespricht Philip Roth' Roman "Exit Ghost". Und Rolf Schneider legt einen Essay über das sächsische Manchester Chemnitz vor

Im Feuilleton kommentiert Adam Krzeminski den endlich zwischen Deutschland und Polen geschlossenen Kompromiss des "Sichtbaren Zeichens", das in Berlin für die Vertreibung geschaffen werden soll: "Wäre - mit gutem Willen und Krisenmanagment - der jetzige Kompromiss bereits vor Jahren erreicht worden, wäre wahrscheinlich Polen die negative Schocktherapie der Kaczynski-Regierung erspart geblieben."

Ein anderes deutsch-polnisches Thema im Feuilleton: Eine Versteigerung polnischer Feldpost aus der Zeit des Warschauer Aufstands in Düsseldorf schlägt Wellen in Polen, berichten Jan und Katarzyna Opielka. Auf der Berlinale-Seite unterhält sich Peter Zander mit Doris Dörrie über ihren Film "Kirschblüten". Besprochen wird eine große Ausstellung mit Gemälden von Sebastiano del Piombo in Rom.

SZ, 09.02.2008

Der neokonservative Politikberater Robert Kagan sieht zwischen Europa und Russland Konflikte heraufziehen, die längst überwunden schienen: "Solange Russland schwach und arm und willens war, sich in den Westen zu integrieren, war das alles noch zu lösen... Putin, der offenbar der Sowjetunion hinterher trauert, möchte wieder hegemonialen Einfluss über die Baltischen Staaten und Osteuropa gewinnen, außerdem über die Ukraine, Georgien, Moldawien und über all jene Staaten, die Russland als sein 'nahes Ausland' bezeichnet. Diese werden nun aber bereits von den Europäern als 'neue Nachbarn' begrüßt und jene sind schon längst formales Mitglied der EU. So sind die Nationen der Europäischen Union in einen Konflikt wie im ausgehenden 19. Jahrhundert verwickelt."

Weitere Artikel: Lothar Müller hat einen Auftritt des mäzenatisch tätigen Regenten von Dubai Scheich Mohamed bin Rashid Al Maktoum in Berlin erlebt. Wie sich Deutschland Polens Freundschaft per Briefersteigerung sichern könnte, weiß Thomas Urban. Günter Kowa findet, dass in Dessau zerstörte Bauhausbauten durchaus aufgebaut werden sollten, aber nicht a la Berliner Stadtschloss. In Frankreich blüht, informiert Thomas Hahn, der Hip-Hop-Tanz, der aus den Banlieues kam, sich freilich längst in die Hochkultur hinein gentrifiziert hat. Tim B. Müller hat in Potsdam von Dieter Simon erfahren, was es mit der großen Rechtsstaatsillusion auf sich hat. Auf der Literaturseite zwei Rezensionen, nämlich zu Philip Roths Roman "Exit Ghost" und zu Jenny Erpenbecks neuem Roman "Heimsuchung" (mehr dazu in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Auf der Sonderseite zur Berlinale porträtiert Tobias Kniebe die Schauspielerin Tilda Swinton, die im Wettbewerbsfilm "Julia" die Hauptrolle spielt. Besprochen wird die deutsche Filmgeschichte in Filmform "Auge in Auge" von Michael Althen und Hans Helmut Prinzler.

Im Aufmacher der SZ am Wochenende beklagt Tobias Kniebe das Kino-Elend der Ehrenpreiskultur für verdiente, aber außer Dienst gestellte Größen des Regie- und des Schauspielfachs. Marion von Boxberg porträtiert den Modefotografen und Sammler F.C. Gundlach. Auf der Historienseite geht es um das serbische Trauma Kosovo. Im Interview spricht Lucy Liu über ihre Schauspielkarriere, aber auch über ihre Fotografien und Gemälde: "Es ist mir wirklich egal, ob den Leuten gefällt, was ich mache oder nicht."

FAZ, 09.02.2008

Die Soziologin Necla Kelek kritisiert im Aufmacher den Appell von 21 Deutschtürken an die CDU, anzuerkennen, dass die Jugendgewalt kein ethnisches Problem sein, sondern "ein soziales". Kelek verweist auf einige Studien, die genau das Gegenteil belegen und meint dann: "Die Initiative der Deutschtürken war weder aufrüttelnd noch innovativ, noch wandte sie sich an den richtigen Adressaten. Wollten die Unterzeichner tatsächlich etwas verändern, dann hätten sie sich an die deutschtürkische Community gewandt und würden vor allem selbst als Vorbilder Verantwortung übernehmen. Stattdessen beklagen ausgerechnet sie das Fehlen von Vorbildern. Wir dürfen die Gewalttätigkeit von jungen Migranten nicht kleinreden, genauso wenig wie wir sie ausgrenzen dürfen. Und wir müssen auch in Wahlkämpfen über das Miteinander streiten, denn es geht um eine wichtige Zukunftsfrage unseres Landes."

Weitere Artikel: Oliver Tolmein berichtet anlässlich zweier Prozesse über die Schwierigkeiten bei der Auslebung von Patientenverfügungen. Gustav Falke macht einen Streifzug durch Algier. Abgedruckt ist außerdem eine Gegendarstellung des Berliner Polizeipräsidenten Dieter Glietsch.

Besprochen werden Paul Thomas Andersons Film "There will be blood", der Bollywoodfilm "Om Shanti Om", die Ausstellung "Der Spanische Bürgerkrieg: Medien und kulturelles Gedächtnis" im ibero-amerikanischen Institut in Berlin und Bücher, darunter Philip Roths Roman "Exit Ghost" und Eduardo Mendozas Roman "Mauricios Wahl" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Auf der Schallplatten- und Phono-Seite geht's um Beethovens Klavierkonzert Nr. 3, eingespielt von Glenn Gould und den Berliner Philharmonikern unter Karajan, Violinkonzerten von Sibelius und Lindberg, eingespielt von Lisa Batiashvili und dem Finnischen Radio Symphonie Orchester unter Sakari Oramo, und eine CD von "These New Puritans".

In Bilder und Zeiten schreibt Werner Spies über Max Ernsts Collage-Roman "Une semaine de bonte", den er für eine Ausstellung im Wiener Museum Albertina (ab 20. Februar) kuratiert hat. Felicitas von Lovenberg trifft in Locarno den Filmregisseur Mike Newell, der ihr von seinen Drehabeiten zu "Die Liebe in Zeiten der Cholera" erzählt. Martin Jurgeit stellt zwei deutsche SF-Comics aus den Fünfzigern vor. Die Pianistin Lise de Salle erzählt im Interview, wie sie das erste Mal einen Konzertflügel sah, "in seiner ganzen Pracht: verlockend schwarz und glänzend".

In der Frankfurter Anthologie stellt Peter von Matt ein Gedicht der Annette von Droste-Hülshoff vor:

"Lebt wohl

Lebt wohl, es kann nicht anders sein!
Spannt flatternd eure Segel aus
Laßt mich in meinem Schloß allein,
Im öden geisterhaften Haus.
..."