Heute in den Feuilletons

Dekadente Festbrüder

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
07.03.2008. Die FR erteilt anlässlich von Raoul Schrotts Homer-Buch dem Graecozentrismus eine weitere Absage. Die Welt versucht herauszufinden, was die Arbeitsgruppe Analytische Röntgenspektroskopie an der Technischen Universität Berlin über die Schriftrollen von Qumran sagen kann. In der SZ kritisiert Michail Gorbatschow die Ersatzmänner in der Duma. Die NZZ berichtet über eine Bürgerbewegung zur Verteidigung der Homosexuellen in Marokko.

NZZ, 07.03.2008

Die Schweizer meckern nicht nur übers Internet, sie gucken auch mal hin. Diesmal geht's um die Vermessung der Welt. S. B. beschreibt, wie Google Earth und Microsoft Virtual Earth unsere Weltsicht verändern können: "Von einem Landschaftsgemälde unterscheidet sich eine Landkarte dadurch, dass sie nicht an die Sichtweise eines einzelnen Beobachters gebunden ist; sie basiert nicht auf einem Augenpaar, sondern auf einem Netzwerk von trigonometrischen Messungen. Diese Loslösung vom Betrachter, die Suche nach einem übergeordneten Standpunkt war ein zentraler Prozess in der Entwicklungsgeschichte der Kartografie. Bei Google Maps scheint die Entwicklung in eine andere Richtung zu gehen. Die Karte verweist nicht mehr auf die Außenwelt, sondern auf den Betrachter, der hier seine subjektive Befindlichkeit geografisch verorten kann."

Weitere Artikel: Daniel Meierhans schildert erste Versuche, Städte in 3-D-Modellen darzustellen. Kurt Haupt betrachtet die Schweiz in 660 560 000 000 Pixeln. H. Sf. beschreibt, wie die Polizei das Internet nutzt. Sieglinde Geisel schildert den Kampf der engagierten Redaktion der Berliner Zeitung für die Qualität ihrer Zeitung, die gegen Verleger und Chefredakteur verteidigt werden muss.

In Marokko wird Homosexualität zwar durchaus gelebt, berichtet Beat Stauffer im Feuilleton, wer sich aber öffentlich dazu bekennt, lebt gefährlich. "Mit einem Aufruf zur Verteidigung der individuellen Freiheitsrechte wandten sich kürzlich 130 führende marokkanische Intellektuelle - darunter die bekanntesten Schriftsteller des Landes - an die Öffentlichkeit. Anlass bot die Affäre um eine angebliche Schwulenhochzeit in der nordmarokkanischen Provinzstadt Ksar El Kebir, welche die Stadt während Wochen ins Scheinwerferlicht der Öffentlichkeit rückte. Ein paar ins Internet gestellte Filmchen, die an einer feuchtfröhlichen Party gedreht worden waren und auf denen unter anderem Transvestiten zu sehen waren, führten zu einem öffentlichen Aufruhr, der hysterische Züge annahm und sich in einer gewalttätigen Demonstration entlud. Dass ein eifriger Imam kurz zuvor in einer Moschee zur Bestrafung der 'dekadenten' Festbrüder aufrief, dürfte dabei eine wesentliche Rolle gespielt haben." Die sechs Beteiligten wurde vor Gericht gestellt und "zu mehrmonatigen Gefängnisstrafen verurteilt". Hier ein Auszug aus dem Appell.

Weitere Artikel: Sieglinde Geisel beobachtet den Shakespeare-Übersetzer Frank Günther bei der Arbeit mit seinen Studenten. Alexandra Stäheli erinnert an die Ikone der Italianita, Anna Magnani, die heute Hundert geworden wäre.

Besprochen werden eine Jean-Prouve-Ausstellung im Design Museum London und Bücher, darunter ein Buch von Christian Wipperfürth über "Russland und seine GUS-Nachbarn" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Auf der Phono-Seite zeichnet Peter Hagmann ein Porträt der Pianistin Angela Hewitt. Daniel Ender setzt sich detailliert mit der These des amerikanischen Dirigenten und Musikwissenschafters Joshua Rifkin auseinander, Bachs h-Moll-Messe sei für Solostimmen geschrieben. Besprochen werden CDs, darunter eine Aufnahme der Schubertlieder durch die Osttiroler Gruppe Franui.

TAZ, 07.03.2008

Auf den vorderen Seiten erinnert Gabriele Lesser an das 1968 von Polen: "Für viele Intellektuelle in Polen ist es ein Schock: Über 80 Prozent der Jugendlichen kann den 'März 1968' historisch nicht zuordnen. Damals gab es eine antisemitische Hetzkampagne der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei (PVAP), Studentenproteste wurden brutal niedergeschlagen und rund 20.000 Juden flohen aus Polen. Das alles ist in Vergessenheit geraten, wie die linksliberale Gazeta Wyborcza zum 40. Jahrestag des polnischen "März der Schande 1968' aufdeckte. Einige der jugendlichen Befragten etwa sind überzeugt, dass im März 1968 der Zweite Weltkrieg ausgebrochen sei oder Karol Wojtyla zum Papst gewählt wurde." 

Es wird besprochen in der taz, und zwar die Ausstellung zu Mark Rothko in der Hypo-Kunsthalle München (die Brigitte Werneburg als "eine der letzten Gelegenheiten, das Werk Mark Rothkos in so umfassender Form zu sehen", empfiehlt), drei neue Indie-Folk- Platten sowie die Doppel-CD der "Carl Craig Sessions" des gleichnamigen Techno-Mixers.

Und dann noch Tom.

FR, 07.03.2008

Morgen erscheint Raoul Schrotts Buch, in dem er "Homers Heimat" in den Südosten der heutigen Türkei, ins ehemalige Kilikien verlegt. Für die FR ein Grund, dem ersten namentlich bekannten Dichter der Menschheit eine "Homer-Story" zu widmen. Schrott ist ja nicht der erste, der dem Graecozentrismus eine Absage erteilt, weiß Christian Thomas. "Wer jedoch wollte in Zweifel ziehen, dass der Homerkosmos schon seit geraumer Zeit als eine Schöpfungsgeschichte verstanden wird, in der gewaltige Kräfte aufeinander wirkten. Heute würde man sagen: ein Clash der Kulturen, ein Crossover von high and low: Göttern, Helden und Menschen."

Desweiteren folgt der argentinische Autor Alberto Manguel den Zeugnissen von Homers Blindheit durch die vergangenen Jahrtausende. Und Christian Thomas rekapituliert den immer wieder aufflackernden Streit um die historische Realität Trojas. Im Rest des Feuilletons begegnen Jamal Tuschick beim Prozess gegen die "Frankfurter U-Bahn-Schläger" nicht die Vorboten einer neuen Gewaltwelle, sondern zu seiner Erleichterung und Ernüchterung nur ganz normalen Randgruppenalltagsprobleme. In der Times mager setzt sich Judith von Sternburg für eine sparsamere Verwendung des Ausrufezeichens ein. Auf der Medienseite informiert uns Rene Martens über den neuen Schlachtruf visionärer Verleger bei den Lead Awards: "Frag nicht, was du für deinen Leser tun kannst, sondern, was der Leser für dich tun kann."

Besprochen werden die Reihe "Doing Identity - Bastard München" an den Münchner Kammerspielen und die Uraufführung von William Forsythes neuer Choreografie-Installation "Yes we can't" im Hellerauer Festspielhaus Dresden.

Welt, 07.03.2008

Joelle Verreet berichtet, dass in Berlin derzeit Physiker und Chemiker die Schriftrollen von Qumran an einem geheimen Ort einer neuartigen Röntgenanalyse unterziehen, um weitere Aufschlüsse über ihre Entstehung zu gewinnen. Von Erhabenheit keine Spur: "'Die Experimentierräume unterliegen dem Strahlenschutz und bei den Messungen darf die bleiabgeschirmte Hütte nicht betreten werden', sagt Birgit Kanngießer, Leiterin der Arbeitsgruppe Analytische Röntgenspektroskopie an der Technischen Universität Berlin, deren Institut für Optik und Atomare Physik zusammen mit der Bundesanstalt für Materialforschung und der Jüdischen National- und Universitätsbibliothek Jerusalem dieses größte naturwissenschaftliche Forschungsprojekt um die ältesten Bibelhandschriften trägt."

Hendrik Werner ringt sich in der Randspalte dazu durch, es richtig zu finden, dass in Deutschland auch die plakativste Religionskritik erlaubt ist und eine Indexierung von Michael Schmidt-Salomons "Wo bitte geht?s zu Gott?, fragt das kleine Ferkel" abgelehnt wurde. Hans-Jörg Schmidt wundert sich, dass die Unesco offenbar nichts gegen Hochhäuser hat, die das Bild Prags arg verschandeln würden. Sehr seltsam findet Stefan Pannor, dass ausgerechnet der christliche Fanatiker und Frauenhasser Dave Sim ("Frauen denken nicht") einen Comic "Judenhass" über den Holocaust vorgelegt hat

Besprochen werden die Ausstellung "Glück - welches Glück" im Deutschen Hygiene-Museum in Dresden (bei der laut Eckhard Fuhr "wissenschaftlicher Ernst und billige Schaubudeneffekte" dicht beieinander liegen), Jens Lekmans Indiepop-Album "Night Falls Over Kortedala" Stefan Bachmanns "Maria Stuart" am Düsseldorfer Schauspiel und die demnächst auf arte laufende Ulla-Hahn-Verfilmung "Das verborgene Wort".

Weitere Medien, 07.03.2008

Ivo Bozic unterhält sich in der Jungle World mit Jan Egesborg von der dänischen Künstlergruppe Surrend, deren Plakat "Dummer Stein" in Berlin zu Drohungen islamistischer Muslime geführt hatte. "Es ist eine Tragödie, dass eine Kunstausstellung nur unter Polizeischutz stattfinden kann. Die Situation erinnert mich an die dreißiger Jahre in Deutschland. Damals war es auch sehr schwierig, politische Kunst zu machen, und es gab auch diese Stimmung gegen die Freiheit Kunst, gegen 'entartetete Kunst'. Da gibt es eine Parallele. Das ist sehr gefährlich."

SZ, 07.03.2008

Michail Gorbatschow, einst Generalsekretär der KPdSU, ruft zu einer Modernisierung seines Landes und vor allem des Wahlsystems auf: "Am wichtigsten ist es, die Parlamente wieder nach dem Gemischtwahlsystem zu besetzen, sodass das Volk sowohl Parteilisten als auch einzelne Kandidaten wählen kann. Dabei muss gewährleistet sein, dass die Abgeordneten, die das Volk wählt, auch wirklich für das Volk arbeiten. Nach den Duma-Wahlen im Dezember traten 113 führende Kandidaten, die auf den Listen der siegreichen Parteien vertreten waren, ihre Mandate an kaum bekannte Ersatzmänner ab. 113 - das ist ein Viertel der Gewählten!"

Weitere Artikel: Oliver Müller fordert, in der Stammzellendebatte auch über die dynamischen Menschenbilder der Moderne nachzudenken, die den verschiedenen Positionen zu Grunde liegen. Patrick Illinger schreibt den Nachruf auf den Gesellschaftskritiker Joseph Weizenbaum, der nach eigener Aussage nur zufällig ein Vordenker des Computers wurde (hier mehr zu seinem Eliza-Programm). Gary Fisketjon, Vizepräsident und Lektor des New Yorker Alfred A. Knopf-Verlags, hat dem Publikum in der Berliner American Academy glaubhaft versichert, dass das Geschäft des Verlegens und Lektorierens weder durch Internet noch Globalisierung groß verändert wurde, berichtet Kai Wiegandt. Gemeldet wird, dass der Deutsche Kulturrat Dresden dringend empfiehlt, statt Waldschlösschenbrücke einen Tunnel zu bauen. Die Schwedische Kunstakademie will ihr berühmtes Rembrandt-Gemälde "Der Treueeid der Bataver für Claudius Civilis" verkaufen, infomiert Kristina Maidt-Zinke.

Besprochen werden die Ausstellung "Glück - welches Glück" im Deutschen Hygienemuseum in Dresden (die Jens Bisky aufgrund der fehlenden gemeinschaftlichen Komponente als "ungewohnt spannungsarm" erlebt), die gar nicht so "abwegige" Inszenierung von Verdis "Aida" als fanatisches US-Sektentreiben an der Deutschen Oper Berlin durch Christopher Alden, Nuran Calis' "sehr konventionelle, dabei aber schlüssige" Version von Schillers "Kabale und Liebe" am Schauspiel Hannover, Igor Strawinskys "The Rake's Progress" und Richard Wagners "Parsifal" in der Pariser Oper, Roland Emmerichs "herzerwärmend kindischer Trash"-Film "10,000 BC" und Bücher wie Barbara Köhlers lyrisches Gegenepos "Niemands Frau" (mehr in unserer Bücherschau des Tages).

FAZ, 07.03.2008

Patrick Bahners doziert anlässlich eines Vortags des Rechtsphilosophen Günther Jakobs über Freiheit und Sicherheit über Freiheit und Sicherheit. Jürgen Kaube verfolgte einen Vortrag des Staatsrechtlers Otto Depenheuer über sein umstrittenes Buch "Selbstbehauptung des Rechtsstaats". Regina Mönch schreibt im Aufmacher über neue strittige Fälle von Kunstwerken Berliner Museen, die einst in jüdischem Besitz waren - es geht unter anderem um die Plakatsammlung Sachs im Deutschen Historischen Museum. Gerhard Stadelmaier zieht in der Leitglosse Parallelen zwischen Wagner, Verdi, Shakespeare und Protagonisten der Tagespolitik. Eduard Beaucamp liest für seine Kolumne "Kunststücke" die Schriften des DDR-Malers Wolfgang Mattheuer und bewundert seine "Selbstverpflichtung zur Wahrheit" in einer Diktatur. Michael Martens gratuliert Karl Schlögel zum Sechzigsten. Timo John begutachtet eine vom Architektenbüro Kulka entworfene Feuerwache in Heidelberg. Ernst Horst lauschte einem Vortrag des Stanford-Bibliothekars Michael A. Keller in München und empfiehlt einen Blick in die "Parker Library on the Web", in der man kostbare Wiegendrucke virtuell durchblättern kann.

Auf der Medienseite wird kurz ein Gutachten der Zeitungsverleger vorgestellt, das die Online-Aktivitäten der Öffentlich-Rechtlichen, die ihre Inhalte gegen Geld doch gern bei den Zeitungen platzieren würden, hoch bedenklich findet (vielleicht auch deshalb, weil dort keine Bilderstrecken a la "Erraten Sie die Frau durch einen bloßen Blick in ihr Dekollete" in 82 Klicks angeboten werden?")

Für die letzte Seite unterhält sich Hannes Hintermeier mit Walter Kempowskis Lektor Karl Heinz Bittel über zwanzig Jahre Zusammenarbeit mit dem Autor. Karen Krüger porträtiert die türkische Schlagersängerin Bülent Ersoy, die mutige Worte gegen die Invasion der Türken im Nordirak fand. Und Andreas Rossmann verfolgte eine Kölner Diskussion der Autoren Alain de Botton und Erich Schneider-Wessling über Glück und Architektur.

Besprochen werden eine Reihe neuer Stücke beim Berner Festival "Der Fremde ist nur in der Fremde fremd", eine Ausstellung mit Aquarellen Maria Sibylla Merians in Amsterdam, Doris Dörries' Film "Hannami - Kirschblüte und Sachbücher.