Heute in den Feuilletons

Ich bin ein Arrivist

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
17.03.2008. In der taz hält Richard Stallman ein leidenschaftliches Plädoyer für die Freiheit Ihrer Festplatte. Sowohl Katholizismus als auch Islam haben Reformbedarf, findet Hans Küng in der Welt. Die NZZ stellt vier Unsterbliche vor. Dummyblog fordert mehr Klarheit von Frank Schirrmacher. Die FAZ zeigt sich beeindruckt von einer autarken starken Frau. Die SZ betrauert den Zerfall der amerikanischen Demokraten.

TAZ, 17.03.2008

Der Aktivist, Hacker und Softwareentwickler (Linux) Richard Stallman hält im Interview ein leidenschaftliches Plädoyer für die Freiheit Ihrer Festplatte. "Die erste Freiheit, die ich benenne ist: die Kontrolle über den eigenen Computer zu haben. Sie ermöglicht Ihnen zu wissen, was Ihr Computer tut und das nach Ihren Bedürfnissen verändern zu dürfen. Dazu muss der Quellcode frei zugänglich sein. ... Dass ein Programmierer Ihnen helfen darf, wenn zum Beispiel Ihr Programm fehlerhaft ist und er wüsste, wie man das Problem beheben könnte! Bei proprietärer Software macht er sich damit strafbar. Dies ist die zweite Freiheit: Freunden helfen zu dürfen, ohne mit dem Gesetz in Konflikt zu kommen. Das heißt: Freie Software darf man kopieren und weitergeben. Die dritte Freiheit liegt darin, mit anderen zusammenarbeiten zu dürfen. Das heißt: Man darf auch veränderte Software weitergeben und mit anderen teilen. Das klingt jetzt vielleicht, als wären davon nur Berufshacker betroffen, aber das wirkt sich auf alle Anwender aus. Es geht darum, ob wir in einer Gesellschaft das Miteinander oder das Gegeneinander befördern wollen."

Weiteres: Das Resümee der Leipziger Buchmesse bestreiten gleich drei Kollegen, jeder hat kleine Szenen beobachtet, ein Fazit gibt es nicht. Besprochen werden die Ausstellung "Macht und Freundschaft. Berlin - St. Petersburg 1800" im Berliner Martin-Gropius-Bau sowie Barbara Freys Reanimation von Botho Strauß' "Groß und klein" am Deutschen Theater in Berlin.

Und Tom.

Spiegel Online, 17.03.2008

Ganz oben auf dem Wunschzettel der Musikindustrie steht die Kontrolle der Nutzer durch die Provider, informiert Konrad Lischka: "Frankreich hat es vorgemacht: Wenn dort ein Internet-Provider zum dritten Mal einen Kunden beim Tauschen von Raubkopien im Web erwischt, wird der Übeltäter vom Netz abgeklemmt. So sieht es das Gesetz vor, das Präsident Nicolas Sarkozy für dieses Jahr angekündigt hat. Ein entsprechendes Abkommen haben der Staat, die Provider und Rechteinhaber in Frankreich schon unterzeichnet (mehr...). Demnächst soll es weltweit so zugehen. Das will die Musikindustrie in diesem Jahr mit aller Macht durchsetzten."

NZZ, 17.03.2008

Wozu die Academie francaise gut ist, weiß Marc Zitzmann auch nicht so genau, er besucht darum vier Academiens. Schwer zu sagen, welcher der unspymathischste ist, vielleicht Jean-Marie Rouart? "1967 Eintritt in die Figaro-Redaktion, damals von Bürgersöhnen bevölkert, die nicht für höhere Funktionen taugten. Diverse Literaturpreise: Interallie 1977, Renaudot 1983 . . . Ab 1986 Leitung des Figaro litteraire. 1997 endlich Wahl zum Academicien - 'erst beim vierten Anlauf, wie Victor Hugo!'. Laut Kollegen vom Figaro ist Rouart ein Champion des 'renvoi d'ascenseur', des interessierten Gebens und Nehmens nach dem Prinzip 'eine Hand wäscht die andere'. 'Ich bin ein Arrivist', gesteht er und schlägt kokett-beschämt die Augen nieder. 'Aber ein sentimentaler, ein gefühliger Arrivist!'"

Weiteres: Joachim Güntner bilanziert die Leipziger Buchmesse unter erotischen Gesichtspunkten. Besprochen werden eine Ausstellung zum Architekten Fabio Reinhart in der Casa Cavalier Pellanda in Biasca, die Aufführung von Krzysztof Pendereckis Oper "Die Teufel von Loudon" in Freiburg i.br., das letzte Buch von Ilf und Petrow, das jetzt auf Englisch bei Cabinet Books bzw. Princeton Architectural Press erschienen ist, und Barbara Freys Inszenierung des Botho-Strauss-Stücks "Groß und klein" am Deutschen Theater Berlin: Freys "Regie hält fein die Balance - was 'normal' ist, was 'krank', was menschlich und was unmenschlich, entscheidet nicht sie. ... In Nina Hoss freilich hat sie ein Wesen gefunden, das über Allzumenschliches hinausragt und die Kleinheit das Alltags bloßlegt dank schauspielerischer Größe", lobt Barbara Villiger Heilig.

FR, 17.03.2008

Gut gelaunt und gelassen, so verlief für Christoph Schröder die Leipziger Buchmesse. Christian Thomas fand die Reaktion Raoul Schrotts in der FAZ auf seine Kritiker eher empfindlich als entspannt.

Besprochen werden die Ausstellung "Macht und Freundschaft. Berlin. St. Petersburg 1800 - 1860" im Berliner Martin-Gropius-Bau, Christof Nels "nüchterne" Inszenierung von Eugene O'Neills "Eines langen Tages Reise in die Nacht" am Schauspiel Frankfurt sowie Abdourahman A. Waberis satirischer Roman "In den Vereinigten Staaten von Afrika" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Aus den Blogs, 17.03.2008

Malte Dahlgrün nimmt im Dummyblog den "emotionsmanipulierende Schirrmacher-Sound" aufs Korn, der am Samstag unsere Hirne retten wollte (mehr hier): "Trends und Meinungslagen identifiziert Schirrmacher gerne. Vor allen Dingen meint er hier, im Alltag herrsche die Meinung vor, unser Gehirn sei im Erwachsenenalter nicht modifizierbar! Es ist, und das muss man wirklich betonen, überhaupt nicht klar, was er damit meinen könnte. Denn es ist trivial, dass sich unser Hirn laufend verändert."

SZ, 17.03.2008

Jens-Christian Rabe fasst die Leipziger Buchmesse zusammen, die ganz im Zeichen von 1968 stand. Bei so vielen Deutungskämpfen ist nicht nur Rabe erleichtert, wenn Buchpreisträger Clemens Meyer sich nicht ganz so ernst nimmt: "Ist das schon Recherche, wenn ich mich in eine Kneipe setze, zehn Bier trinke und dabei mit einem halben Ohr 20 Stories aufschnappe?"

Die amerikanischen Demokraten zerfleischen sich im Vorwahlkampf gerade entlang überkommener Bruchlinien, schreibt Jörg Häntzschel: "So umstritten der zentristische Kurs von Bill Clinton in den Neunzigern war, er war offen und flexibel genug, um schwarze und weiße Liberale, Gewerkschaftler, wohlhabende Soccer Moms und Immigranten zusammenzubringen. Diese vage Einheit zerfällt gerade, doch nicht entlang ideologischer Brüche, sondern entlang von Rassen- und Statusgrenzen."

Weiteres: Florian Kessler befürchtet den Ausverkauf der Städte an die Werbeindustrie und fordert Einschränlungen. Die gefälschten Schicksalsbiografien, die immer wieder mit großem Erfolg verkauft werden, bedienen den Wunsch nach Entsühnung, nach dem Reinwaschen von der Schuld dieser Welt, wie Burkhard Müller diagnostiziert. Die Wanderarbeiter auf Pekings großen Baustellen wie Herzog & de Meurons Olympiastadion werden haarsträubend behandelt, berichtet Henrik Bork. Gemeldet wird, dass Ivan Rebroffs Bruder Horst Rippert behauptet, im Sommer 1944 den französischen Schriftsteller und Piloten Antoine de Saint-Exupery abgeschossen zu haben. Auf der Medienseite schätzt Caspar Busse, dass der neuen Bertelsmann-Vorstandsvorsitzende Hartmut Ostrowski einiges umbauen wird in Gütersloh.

Besprochen werden die Wiederentdeckung von Sergej Prokofjews Dostojewski-Oper "Der Spieler" unter der Regie von Dmitri Tcherniakov und der "seelendrastischen" musikalischen Leitung von Daniel Barenboim an der Berliner Staatsoper, ein Auftritt des Tenors Rolando Villazon in der Münchner Philharmonie (Villazon kann erstaunlich gut Mr. Bean parodieren, wie Reinhard J. Brembeck feststellt), Barbara Freys Inszenierung von Botho Strauß' "Groß und klein" am Deutschen Theater Berlin, eine Schau mit "Zarensilber" aus dem Kreml im Maximilianmuseum Augsburg, Neues auf DVD wie "Ich glaub, ich lieb meine Frau" von Chris Rock, und Bücher wie Mark Buchanans "Warum die Reichen reicher werden und Ihr Nachbar so aussieht wie Sie" (mehr in usnerer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Welt, 17.03.2008

Im Interview zu seinem achtzigsten Geburtstag spricht der Theologe Hans Küng unvermeidlicherweise auch über seinen Widersacher Papst Benedikt XVI., vor allem aber über die Verhältnisse der Weltreligionen zueinander - so etwa Christentum und Islam: "Im frühen Mittelalter war der Islam wissenschaftlich und kulturell dem Christentum weit voraus. Aber richtig ist, dass er vom 12. Jahrhundert an die Wissenschaft, die Philosophie, das freiere Denken an den Rand gedrängt hat. Durchsetzen konnte sich die islamische Orthodoxie... Aber auch im römischen Katholizismus ist heute noch vieles mittelalterlich."

Weitere Artikel: Eckhard Fuhr hat in Neuhardenberg einer Diskussion über das "Theater um die Macht" gelauscht, die deshalb keine war, weil zwar Peter Stein Kluges zum Thema zu sagen hatte, Ex-Bundespräsident Richard von Weizsäcker aber nicht. Den neuen Museumsbau des 1886 gegründeten Kunstvereins von Bremerhaven hat Hendrik Werner besucht. Peter Dittmar erinnert an ein einschneidendes Ereignis vor genau hundert Jahren: die erste Funksendung eines polizeilichen Fahndungsfotos, und zwar von Paris nach London. Manuel Brug gedenkt Rudolf Nurejews, der heute seinen siebzigsten Geburtstag gefeiert hätte.

Besprochen werden Barbara Freys Inszenierung von Botho Strauß' Stück "Groß und klein" am Deutschen Theater Berlin, Daniel Barenboims und Dimitri Tscherniakovs Version von Sergej Prokofieffs "Der Spieler" an der Berliner Staatsoper, Youri Vamos' Choreografie "La Fermosa" in Düsseldorf, der ZDF-Film "Die Zeit, die man Lebennennt", neue, von afrikanischer Musik inspirierte CDs der Bands Vampire Weekend und Foals und Bücher, nämlich Kerstin Holms Buch "Rubens in Sibirien. Beutekunst aus Deutschland in der russischen Provinz" und Winfried Glatzeders Memoiren "Paul und ich".

FAZ, 17.03.2008

Im Deutschen Theater in Berlin wurde Botho Strauss' Klassiker "Groß und Klein" wiederaufgelegt. Vor allem eines hatte, wenn man Gerhard Stadelmaier glauben darf, Barbara Freys Neuinszenierung, nämlich eine wunderbare weibliche Hauptdarstellerin: "Es fehlt aller Überbau. Alle Basis aber auch. Es bleibt aber praktisch, blond und sehr gut: Nina Hoss. Sie treibt die Lotte mit zart geblecktem Raubtierfraugebiss und sardonisch verlorenem Lächeln in körperliche und geistige Dehn- und Streckübungen. Ihr fehlt zum Glück wie zum Unglück wirklich nichts. Sie hat das Beste in unveräußerlichem Besitz: sich selbst. Zu sehen ist in einem kurzen, lustigen szenischen Prozess das Plädoyer einer großen Solistin. Die autarke starke Frau. Ohne Land. Ohne Mann. Ohne Zeit. Ohne Gott. Wahrscheinlich ist das die bestmögliche Lotte unserer Tage. Aber ebenso gut möglich, dass unsere Tage nicht die besten sind."

Weitere Artikel: Im Rahmen der neuen Serie zur Trainierbarkeit des Gehirns erklärt die Sprach- und Kognitionsforscherin Angela Friederici, was es mit Neuroplastizität auf sich hat. In der Glosse liefert Mark Siemons einen aktuellen Tibet-Internet-Zensurbericht aus China. Richard Kämmerlings resümiert die Leipziger Buchmesse in ihrer ganzen Bandbreite von "Analfissur" bis "Riesenmaschine". Katja Gelinsky porträtiert Craig Watkins, den ersten schwarzen Bezirksstaatsanwalt in der Geschichte von Texas. Matthias Hannemann hat den in Oslo forschenden und lehrenden deutschen Willy-Brandt-Forscher Einhart Lorenz besucht. Dietmar Dath gratuliert dem Schriftsteller William Gibson zum Sechzigsten. Auf der Medienseite unterhält sich Michael Seewald mit Maybrit Illner, der erfolgreichsten Polittalkerin des Landes.

Besprochen werden Daniel Barenboims und Dmitri Tscherniakovs Version von Sergej Prokofjews Oper "Der Spieler" ("ein Wurf", jubelt Julia Spinola) und Bücher, darunter gleich zwei deutsche Ausgaben der "Memoiren" von Hector Berlioz (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

In der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung denkt der bloggende Medienjournalist Stefan Niggemeier über das Verhältnis großer Print-Medien zu den starken Qualitätsschwankungen unterliegenden Kommentaren ihrer Online-Nutzer nach: "Es ist ein höchst fragiles Verhältnis zwischen Lesern und Journalisten, das durch die plötzliche öffentliche und unmittelbare Auseinandersetzung entsteht, mit beiderseitigem Erstaunen über die Impertinenz der jeweils anderen Seite." (In seinem Blog hatte Niggemeier zuvor seine Nutzer um einschlägige Beispiele gebeten und diese auch erhalten. Gedankt wird ihnen im Zeitungsartikel dafür nicht.)