Heute in den Feuilletons

Der fünfte Musikgott der Stadt

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
18.03.2008. Auf suggestive Art diskret findet die FR Ari Libskers Dokumentarfilm "Stalags - Holocaust and Pornography". In der taz erklärt der Musiker Fritz Ostermayer ein kulturelles Missverständnis um Mariachimusik. In der Welt bezichtigt Norman Podhoretz Barack Obama der Demagogie. Die NZZ beobachtet westliches Kultursponsoring in Beirut. Für die FAZ sind Kulturboom und Kulturvernichtung in Tibet zwei Seiten einer Medaille.

FR, 18.03.2008

Auf dem Filmfestival von Miami hat Daniel Kothenschulte Ari Libskers Dokumentarfilm "Stalags - Holocaust and Pornography" gesehen. Libsker widmet sich dabei den Comicheftchen, die Anfang der Sechziger in Israel aufkamen und in denen meist alliierte Soldaten von immer großbrüstigen SS-Frauen sexuell erniedrigt wurden. Die Kritik an Libsker entzündet sich vor allem daran, dass er die pornografischen Elemente in der Holocaust-Erinnerung nur zeigt und nicht kommentiert. "'Das mag auch der Grund sein, warum mein Film von allen deutschen Festivals bisher abgelehnt wurde', erklärt Libsker im Gespräch. 'Zur Kritik, die ich in Israel bekam, wo man etwas offener darüber sprechen kann, gehörte, dass mein Film den Holocaust-Leugnern in die Hände spielen könnte. Sie könnten ihn als Beleg dafür verwenden, dass Juden ihre eigenen Holocaust-Mythen kreieren würden.' Man könnte diesen auf suggestive Art diskreten Film nicht schlechter verstehen."

Weiteres: In der Times mager berichtet Ina Hartwig über den Auftritt Kroatiens bei der Leipziger Buchmesse. Auf der Medienseite wirft Lothar Bisky im Interview den öffentlich-rechtlichen Fernsehsendern "eine massenkompatible Verramschung von Sendezeit zugunsten minderwertiger Soaps" vor.

Besprochen werden die Schau "Feuer und Geist. Ikonen aus der Schatztruhe des Bulgarischen Patriarchats" im Frankfurter Ikonenmuseum, die Aufführung von Sergej Prokofjews Dostojewski-Oper "Der Spieler" unter der Regie von Dmitri Tcherniakov und Daniel Barenboim in der Staatsoper Berlin, Dale Duesings Inszenierung von Benjamin Brittens Oper "The Rape of Lucretia" an der Oper Frankfurt und Bücher, darunter Miljenko Jergovics "brillanter" Roman "Das Walnusshaus".

TAZ, 18.03.2008

Der österreichische Radiomoderator und Musiker Fritz Ostermayer hat eine Sammlung internationaler Mariachimusik veröffentlicht. Die mexikanische Volksmusik hat sich mittlerweile über den ganzen Erdball verbreitet, sagt er im Interview mit Andreas Hartmann. "In Japan, wo es ja alles in perfekt kopierter Ausführung gibt, bestreiten sie regelrechte Mariachiwettkämpfe, in Russland lieben sie Mariachi als nahen Verwandten der eigenen Klischees, von wegen 'Himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt'. Ich glaube, dass von allen lokalen Volksmusiken Mariachi am leichtesten als 'kulturelles Missverständnis' absorbiert werden kann. Vielleicht weil dieses Genre ja auch in Mexiko selbst so sehr touristisch verwurstet wird, also sich selbst "entfremdet" ist. Nur der globale Siegeszug des Balkansounds kann da noch mithalten."

Weitere Artikel: Wolfgang Ullrich versucht uns klarzumachen, dass Luxus unbequem sein muss, wenn er echten Distinktionsgewinn bringen soll. Auf der Medienseite wägt Karim El-Gawhary die Chancen des seit einer Woche sendenden Programms BBC Arabic ab. In der zweiten taz gibt es ein Pro und Contra zur Frage, ob die Olympischen Spiele wegen der Vorfälle in Tibet boykottiert werden sollten, und eine Klärung des Begriffs "Volkskriegs" durch Christian Semler.

Besprochen werden eine Schau mit Skultpuren des israelischen Künstlers Dani Karavan im Martin-Gropius-Bau Berlin, das Debüt-Album "Hercules & Love Affair" des New Yorker Künstlers Hercules & Love Affair (schwule Ideendisco, meint Tobias Rapp und verweist aufs Video zu "Blind" bei youtube) sowie ein "opulenter" Sammelband über die Städte dieser Welt.

Und Tom.

Welt, 18.03.2008

Wenig Gutes hat im Interview der amerikanische Neocon-Vordenker Norman Podhoretz über Barack Obama zu sagen: "Ich glaube, Barack Obama ist der erste Demagoge in der amerikanischen Politik seit den Dreißigerjahren. 'Demagoge' ist ein Wort, das selten auf ihn angewandt wird, aber es trifft genau. Demagogen appellieren an die Ängste, an den Ehrgeiz der Gemeinschaften, die sie vertreten. Just das tut Obama. Er wird häufig kritisiert, weil er so vage sei. Jene, die diese Kritik üben, verstehen nicht, dass ja gerade das seinen Zauber ausmacht!"

Weitere Artikel: Hanns-Georg Rodek freut sich, dass der Kulturstaatsminister nun der Welt-Forderung eines Gesetzes zur Pflichtabgabe von Filmkopien zu Archivierungszwecken nachkommen will. Hannes Stein berichtet, wie er mit dem New-Yorker A-Train ans Meer fuhr. Kai Luehrs-Kaiser kommentiert die eventuelle Identifizierung eines Londoner Gemäldes als Mozart-Porträt. Michael Cramer erklärt, warum der 18. März der einzig richtige nationale Gedenktag wäre (Beginn der 48er-Revolution, einzige freie Wahl in der DDR). Im Interview sprechen Doktor Renz und Björn Beton über ihre Band Fettes Brot, die es seit nunmehr fünfzehn Jahren gibt. Werner Sudendorf erinnert an die Schauspielerin Brigitte Helm ("Metropolis"), die vor hundert Jahren geboren wurde. Johanna Schmeller porträtiert anlässlich ihres 450. Gründungstags die Bayerische Staatsbibliothek. Rainer Haubrich gratuliert dem Architekten Gustav Peichl zum Achtzigsten. Auf der Forum-Seite verteidigt Roger Köppel das Schweizer Bankgeheimnis und das Hinterziehen von Steuern als Ausdruck der "Selbstverteidigung" des Bürgers gegen den Staat. Und das Magazin widmet sich mit zwei Artikeln Antoine de Saint-Exupery und dem Kampfpiloten Horst Rippert, der den Schriftsteller mit großer Wahrscheinlichkeit abgeschossen hat.

Besprochen wird Claus Guths und Simone Youngs "Rheingold" zum Hamburger "Ring"-Auftakt ("kleinkarierte Einfallsödnis" beklagt Manuel Brug).

NZZ, 18.03.2008

In einer Post aus Beirut beschreibt Mona Naggar das Kultursponsoring westlicher Kulturinstitute als durchaus segensreich. "Einheimische Stiftungen und Mäzene, die es durchaus gibt, konzentrieren sich größtenteils auf die 'klassischen' Felder libanesischer Kultur, wie das Baalbek- oder das Beiteddine-Festival. Für junge, experimentelle und vor allem kritische Initiativen und Projekte bleiben oft nur ausländische Förderer. Pierre Abi Saab, Feuilletonist bei Al-Akhbar und einer der Redaktoren von Zawaya, führt dies auf die tiefsitzende Abneigung arabischer Regierungen gegen unabhängige Kultur zurück: 'Es gibt eine große Angst vor den Dingen, die die Kultur hervorbringen könnte, vielleicht nackte Körper oder unbequeme Worte. So lassen sie lieber die Finger davon.'"

Besprochen werden die Ausstellung zum 450-jährigen Bestehen der Bayerischen Staatsbibliothek, eine Retrospektive zum Art-brut-Künstler Adolf Wölfli im Kunstmuseum Bern und Bücher, darunter György Dragomans Roman "Der weiße König" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

SZ, 18.03.2008

Vielleicht nicht hundertprozentig gelungen, diese "Tamerlano"-Inszenierung von Pierre Audi an der Bayerischen Staatsoper, aber wenigstens einen Zweck hat sie doch erfüllt: "Das Publikum, nach fast zwei Jahren ohne neuen Händel (zuletzt gab es 'Orlando'), ist geradezu ausgehungert nach diesem fünften Musikgott der Stadt", hält Reinhard J. Brembeck fest.

Weitere Artikel: Andrian Kreye hat einige passende Begriffe für die Geschehnisse in Tibet parat - "Massaker, Verfolgung, Vertreibung, Unterdrückung, Annektierung" - der Begriff "kultureller Völkermord" hingegen, den der Dalai Lama kürzlich verwendet habe, sei "nur ein leeres Reizwort". Johannes Willms hofft kaum, dass die groß angelegte Studie "Paris 1961" von Jim House und Neil MacManners über das polizeiliche Massaker an demonstrierenden Algeriern in Paris 1961 (mehr) den Elysee-Palast veranlasst, endlich die Akten freizugeben. "Herausragend" fand Silke Lode bei der Tagung "Islam und moderner Nationalstaat" in Berlin einen Vortrag von Gudrun Krämer zur ägyptischen Skepsis gegenüber der Säkularisierung. Der Wettbewerb um die Erweiterung der Modernen Galerie in Saarbrücken ist wegen des "haarsträubend unprofessionellen Verhaltens" der Stiftung Saarländischer Kulturbesitz ins Schlingern geraten, berichtet Dietmar Schellin.

Besprochen werden eine Ausstellung über den französischen Maler des 17. Jahrhunderts Nicolas Poussin im Metropolitan Museum New York, Mark Ravenhills "Der Schnitt" in der "übervorsichtigen" Regie von Leyla-Claire Rabih am Theater Konstanz, Veit Güssows Version von Franz Xaver Kroetz' "Heimarbeit" im Münchner Marstall und Bücher wie Wolfgang Kraushaars "differenzierte" Bilanz "Achtundsechzig" und Kader Abdolahs Roman "Das Haus an der Moschee" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

FAZ, 18.03.2008

Mark Siemons erklärt, warum die von China zielstrebig betriebene Musealisierung Tibets durchaus zum Vorwurf des Dalai Lama passt, das Regime betreibe dort einen "kulturellen Genozid": "Tatsächlich hat die chinesische Kulturpolitik in den letzten Jahren aus Tibet eine Marke gemacht, die bei der gestressten neuen Mittelschicht des Landes - nicht unähnlich wie bei vergleichbaren Schichten im Westen - für Exotik, Spiritualität und einfaches Leben steht. Nicht bloß touristische Reisen ins Hochland sind in Mode, auch meditative Texte, Musik und Accessoires der Gegend haben Hochkonjunktur. Dieser Kulturboom und die vom Dalai Lama behauptete Vernichtung der Kultur scheinen einander direkt zu widersprechen. In Wirklichkeit sind es zwei Seiten derselben Medaille." Martin Kämpchen berichtet aus Indien, dass ein friedlicher Protestmarsch von Exil-Tibetern mit Polizeigewalt gestoppt wurde.

Weitere Artikel: Jürg Altwegg fragt sich in der Glosse, ob das wirklich sein muss, dass ausgerechnet der Bruder von Ivan Rebroff den großen Antoine de Saint-Exupery abgeschossen haben soll. Joseph Hanimann informiert darüber, dass in der hoch renommierten französischen Pleiade-Reihe nun die erste kritische Ausgabe des frühen und mittleren Werks von Ernst Jünger erschienen ist. Bei den Neuwahlen in Italien, stellt Wolfgang Schieder fest, werden mal wieder die "Oligarchen" und Vertreter von "Sonderinteressen" gewinnen. Gina Thomas macht uns mit dem neu identifizierten Londoner Mozart-Gemälde bekannt. Thomas Scholz gibt eine Einführung in die aus Japan kommende Cosplay-(Kostümspiel-)Bewegung (mehr hier). Ingeborg Harms berichtet von Berliner Feierlichkeiten anlässlich eines Architekturwettbewerbs, der nach Entwürfen für eine pyramidale Grabstätte in Streetz bei Dessau suchte.

Helmut Mayer hat eine Weimarer Tagung besucht, bei der es um das Nachleben Nietzsches in der literarischen Moderne ging. Fritz Vogelgsang, den Gewinner des Übersetzerpreises der Leipziger Buchmesse, stellt Paul Ingendaay vor. Gerhard Rohde berichtet, dass Christian Thielemann in Baden-Baden einen neuen "Ring" plant, "eventuell" unter Regie des großen "Wagner-Enthusiasten" Florian Henckel von Donnersmarck. Kilian Trotier gratuliert der Sozialhistorikerin Karin Hausen zum Siebzigsten, Dieter Bartetzko dem Architekten Gustav Peichl zum Achtzigsten. Auf der Medienseite kämpft Michael Hanfeld für das Recht des niederländischen Provokateurs Geert Wilders, per Film den Islam zu beschimpfen. Harald Keller erzählt uns ohne erkennbaren Anlass die Geschichte von Joseph Beuys' Badewanne, die 1973 putzenden SPDlerinnen zum Opfer fiel.

Besprochen werden Jossi Wielers und Sergio Morabitos Stuttgarter Inszenierung von Jacques Halevys Oper "La Juive", die Kölner "Impressionismus"-Ausstellung, die von Veit Güssow inszenierte Wiederaufführung von Franz Xaver Kroetz' Einakter "Heimarbeit", die Ausstellung "Macht und Freundschaft. Berlin - St. Petersburg 1800 bis 1860" im Berliner Gropius-Bau, neue CDs, darunter Niels Freverts Album "Du kannst mich an der Ecke rauslassen" sowie Richard Wagners Roman "Das reiche Mädchen" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).