Heute in den Feuilletons

Erschütternd schütter

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
09.04.2008. Die FAZ weiß, wie es in der Kommune 1 wirklich zuging. Die Berliner Zeitung erklärt, wie sie die Stasi-Verstrickungen der Redaktion aufklären will. Die SZ bringt eine Seite über Simbabwe. Die NZZ fragt, warum Putins Duma den Holodomor nicht als Genozid anerkennen will. Die FR fürchtet das Ende der Zeitung.

NZZ, 09.04.2008

Ulrich M. Schmid erklärt die Hintergründe zur jüngsten Duma-Erklärung, die die Hungersnot in der Ukraine von 1932 nicht als Genozid bezeichnet wissen will. "Stalin wollte während der Zwangskollektivierung die Bauern so schnell wie möglich in die Kolchosen treiben. Die Getreiderequisitionen waren derart unerbittlich, dass die Kommissare den Bauern sogar das Saatgut wegnahmen. Weil die Ukraine von jeher die Getreidekammer des Imperiums war, traf die Hungersnot die südrussischen Gebiete besonders hart. Dass mit der brutalen Reorganisation der Landwirtschaft auch dem ukrainischen Nationalismus ein Schlag versetzt wurde, kam dem Diktator nicht ungelegen. Es ist auch in Zukunft unwahrscheinlich, dass sich die Genozidthese eindeutig mit historischen Dokumenten belegen lässt. Ganz sicher falsch liegen allerdings die unverbesserlichen Kommunisten, die sich weigerten, für die Duma-Erklärung zu stimmen, weil die Hungersnot auf eine Missernte zurückzuführen sei."

"Traurig ist all dies - erschütternd schütter", seufzt Samuel Herzog nach einem Besuch der Berlin Biennale "When Things Cast No Shadow". "Im Kontext dieser Biennale trocknet jedes Schmunzeln auf jeder Lippe ein. Zu sehr scheinen die Kuratoren und ihre Künstler von allem Möglichen beeindruckt - auch von sich selber und von der Verantwortung, Teil dieses bedeutenden Ereignisses zu sein."

Weiteres: Peter Hagmann versucht sich ein Bild von der Lage des Berner Symphonie-Orchesters zu machen. Besprochen werden Cathy Marstons Choreografie von Ibsens "Gespenstern" in Bern, Akos Molnars Roman "Zwölf Schritte", Wilfried Nippels Studie "Johann Gustav Droysen" und Paul Tillichs Vorlesungen zu "Geschichtsphilosophie und Sozialpädagogik" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Berliner Zeitung, 09.04.2008

Im Interview mit Ralf Mielke und Björn Wirth erklärt der Anwalt Johannes Weberling, wie seine Forschungsgruppe den Einfluss der Stasi auf die Berliner Zeitung aufklären will: "Indem jeder Redakteur der Forschungsgruppe Einsicht in seine ihm vorliegende Akte gibt, natürlich gegen eine Verschwiegenheitsverpflichtung unsererseits, dass wir Namen von Opfern und Dritten nur bei deren ausdrücklichem Einverständnis nennen.Täternamen werden wir allerdings grundsätzlich nennen." Interessant auch, was Weberling über die Konsequenzen der ersten Studie von 1995 zu sagen hat, die auf Druck von Anwälten abgebrochen wurde: "Spektakulär öffentlich gegangen ist eine einzige Person. Ansonsten hat es sehr persönliche, sehr umfassende Gespräche gegeben, und letztlich hat der Chefredakteur oder der betreffende Redakteur beschlossen, dass man sich trennt... Um es klar zu sagen: Es sind damals mehr als zwölf Gespräche geführt worden, aber es ist auch damals schon nicht so gewesen, dass alle davon gehen mussten."
Stichwörter: Stasi

Welt, 09.04.2008

Hendrik Werner behauptet eine Renaissance der regionalen Sprachen und sieht darin "ein Bollwerk gegen die Zumutungen von anglisierten Sprechweisen, denen es nicht um Herkunft und Zugehörigkeit geht, sondern um Gleichmacherei". Nikolaus Nowak berichtet über deutsche Ahnenforscher, die in den Dreißiger und Vierzigern in Spanien nach dem Vorfahren der "arischen Rasse" suchten. Manuel Brug sieht einen Boom der romantischen Ästhetik im Ballett. Cay Sophie Rabinowitz, neue Leiterin der Art Basel, meint über den Kunstmarkt: "Es gibt keinen Hype, sondern ein stetiges, gesundes Wachstum." Bob Dylan wird für seine Lyrik mit dem Pulitzerpreis ausgezeichnet, meldet Michael Pilz. Sfk. findet den "Zug der Erinnerung" überflüssig. Uta Baier freut sich über die Berufung von Daniel Birnbaum zum Direktor der Kunst-Biennale in Venedig 2009. Oliver Birkner stellt die italienische Rockgruppe Ligabue vor, die im April auf Deutschlandtournee kommt.

Besprochen werden der Film "Der rote Baron" ("großes Popcornkino, mit allen Verzerrungen, die auch Hollywoood gern billigend in Kauf nimmt", schreibt Peter Zander) und die Ausstellung von Max Ernsts Collageroman "Une semaine de bonte" in der Albertina.

FR, 09.04.2008

"Das Ende der Zeitung ist ein erschreckend greifbares Szenario", meldet Sebastian Moll vom amerikanischen Zeitungsmarkt, wobei daran nicht das Internet die Schuld trage, sondern die überzogenen Rendite-Erwartungen der Wall Street. "Die gesamte Auflage der US-Zeitungen sank 2007 zwar um 2,5 Prozent und die Werbeeinnahmen um sieben Prozent. Nimmt man die Online-Leser dazu, lesen jedoch mehr Amerikaner denn je Zeitung, die Gewinnspannen der meisten Blätter liegen bei 15 bis 18 Prozent. Doch Zeitungen sind den Anlegern als Renditeobjekte nicht profitabel genug - weshalb sie mit dem Druck zum Sparen und Entlassungen ihre eigenen Objekte demontieren. 'Wir glauben, mit einem schlechteren Produkt mehr verdienen zu können', zürnte deshalb jüngst James O'Shea, nachdem er aus Protest gegen weitere Entlassungen seinen Posten als Chefredakteur der L.A. Times gekündigt hatte. 'Voodoo-Ökonomie' nannte O'Shea in seiner Abschiedsrede diese Art, Zeitungen zu führen."

Daniel Kothenschulte rauft sich die Haare über Nikolai Müllerschöns Versuch, mit "Der rote Baron" einen deutschen Action-Film zu drehen: "Die digitalen Kampfszenen sind lächerlich und kaum von jenen billigen Rückprojektionen zu unterscheiden, denen Howard Hughes in Hollywood schon 1930 eine Absage erteilte." Und besonders tief findet er das Werk natürlich auch nicht: "Das berechtigte Tabu, einen deutschen Soldaten noch einmal zum Kinohelden zu stilisieren: Weggeblasen. Die altmodische Gewohnheit, bei einem Kriegsfilm ein Minimum politischer Einordnung einzuweben, und sei es nur als Zeitkolorit: zerstäubt zu Wolkendunst. Ein Mindestmaß an Sprachgefühl im Dialog: Vom Winde verweht."

Weitere Artikel: Sandra Danicke meldet, dass Städelschulrektor Daniel Birnbaum Kurator der Biennale in Venedig wird. Zu lesen ist ein Geburtstagsgruß von Martin Walser an den Kritiker Martin Lüdke.

Besprochen werden die Uraufführung von Detlev Glanerts jüngste Musiktheaterkomposition "Nijinskys Tagebuch" und Jurate Vansks Inszenierung von Tom Johnsons "Four Note Opera" im Theater Basel.

TAZ, 09.04.2008

Auf den Kulturseiten porträtiert Dirk Knipphals den in New York lebenden Schriftsteller Junot Diaz, der jetzt den Pulitzer-Preis für Belletristik erhielt. Sonja Eismann berichtet über ein dreitägiges Gender-Pop-Festival, das unter der Schirmherrschaft des Goethe-Instituts in Athen stattfand.

Besprochen werden Felicitas Bruckers Inszenierung von Thomas Freyers "Amoklauf mein Kinderspiel" am Thalia Theater Hamburg und Sidney Lumets Film "Before the Devil Knows Youre Dead - Tödliche Entscheidung".

Auf den Tagesthemenseiten stellt Brigitte Werneburg den designierten Leiter der 53. Kunstbiennale von Venedig, Daniel Birnbaum, vor. Und auf der Meinungsseite kommentiert Kerstin Decker den Fall von Thomas Leinkauf, Redakteur der Berliner Zeitung, dessen IM-Vergangenheit ihn jetzt einholte: "Es gibt Fälle, da klingt alles, was man sagt, anders falsch, und dies ist wohl einer."

Und hier Tom.

SZ, 09.04.2008

Das SZ-Feuilleton bringt eine ganze Seite über Simbabwe. Der senegalesische Autor Chido Makunike äußert ein gewisses Verständnis für Robert Mugabes Problem mit der Machtübergabe an die bisherige Opposition in Simbabwe. Den Briten - den einstigen, spät abgeschüttelten Kolonialherren - wirft er Häme vor: "Es geht um die Solidarität mit den weißen Farmern, die enteignet wurden. Und um Mugabes Sticheleien gegen die Briten und ihre fehlgeschlagenen Versuche, wieder in Simbabwe Fuß zu fassen. Aus all diesen Gründen ist Großbritannien erpicht darauf, Mugabe untergehen zu sehen, den sie so leidenschaftlich zu hassen gelernt haben wie er sie."

Die simbabwische Autorin Petina Gappah (hier ihr blog) fragt sich, wann und womit der Niedergang nach dem euphorischen Moment der Befreiung von den Briten begann: "Begann er mit den Landreformprogrammen? Dem Krieg im Kongo? Den Renten, die ohne dass die Mittel dafür vorhanden gewesen wären, an die Veteranen der ehemaligen Guerilla gezahlt wurden?"

Außerdem: Der Journalist Percy Zvomuya erzählt Witze, die in Simbabwe kursieren. Weitere Kommentare kommen von den Journalisten Trevor Ncube und Jason Moyo.

Weitere Artikel: Im Aufmacher schreibt Christiane Schlötzer über die Türkei, die in europäischen Kultur- und Wirtschaftskreisen immer mehr in Mode komme. Lothar Müller ergründet die Symbolik der abgebrochenen Fackelläufe in London und Paris. Reinhard J. Brembeck berichtet, dass Luciano Pavarotti bei seinem letzten Auftritt 2006 bei den Winterspielen in Turin nur noch markiert haben soll. Alexander Kissler fragt, ob die embryonale Stammzellforschung eine Zukunft hat. Gottfried Knapp gratuliert dem Architekten der Oper von Sydney, Jörn Utzorn, zum Neunzigsten.

Auf der Literaturseite berichtet Roswitha Budeus-Budde über die Kinderbuchmesse in Bologna. Besprochen wird unter anderem Silvia Bovenschens Buch "Verschwunden". Martin Z. Schröder feiert die Aufnahme des großen "ß" in das Unicode-Alphabet. In einer Kurzmeldung wird auf die Debatte zwischen Jochen Hörisch, Georg Klein und Burkhard Müller im Perlentaucher hingewiesen - hier Burkhard Müllers Erwiderung auf den Offenen Brief, mit dem Jochen Hörisch auf Müllers Kritik seines letzten Buchs in der SZ reagierte.

Besprochen werden eine Dramatisierung von Orhan Pamuks "Schnee" in Freiburg, Scorseses Film über die Stones und der Film "Der rote Baron".

Wir empfehlen außerdem die qualitätsjournalistische Bildstrecke über "die Frau hinter den Brüsten" (so steht's da) Pamela Anderson.

FAZ, 09.04.2008

Die Journalistin Marianne Schmidt war im Jahr 1967 ein Jahr lang in der Berliner Kommune 1 zu Gast. Allerdings ging es da ganz anders zu, berichtet sie nun, als alle Welt bis heute glaubt: "Die Auskunft, dass in der Kommune I nicht wie verrückt herumgebumst wurde, wie man damals sagte, führte bei der Redaktion zu Missvergnügen. Ich kam nach München, zeigte den Bericht von meiner Recherche, und Will Tremper sagte, das habe keine Erotik, das prickle nicht. Die Geschichte wurde nie gedruckt. Ich habe das nicht verstanden, ich fand sie nämlich besonders toll, weil es eine andere Geschichte war als die, für die man mich losgeschickt hatte und die alle erwarteten. Sie erzählte nichts von freier Liebe, sondern bloß von einer anderen Spießigkeit."

Weitere Artikel: Peer Steinbrücks Forderung, in Zukunft solle ein "Profi" der Bank für Wiederaufbau vorstehen, inspiriert Nils Minkmar zu zutiefst profiskeptischen Überlegungen. In der neuen Hirnserie erläutert der Mediziner Nils Birbaumer, wie Menschen nach einem Schlaganfall lernen können, gelähmte Körperteile per Neurofeedback wieder zu bewegen. In der Glosse geht's, in unbestimmter logischer Ordnung, um Bernard Sobel und Allemagne und das S. Gerd Roellecke präsentiert eine Gegenmeinung zum badischen Kulturgüterstreit. Beim Blick in französische Zeitschriften hat Jürg Altwegg mancherlei über den Mai 68 gelesen. Annika Müller porträtiert den Komponisten Dror Feiler, dessen Komposition "Halat Hisar" in München jetzt nicht zur Aufführung kommt, weil sie zu laut ist. Edo Reents gratuliert Bob Dylan zum Pulitzerpreis, den er nun - wenn auch nur in einer Verlegenheitsversion - erhält. Dieter Bartetzko gratuliert dem Architekten Jorn Utzon zum Neunzigsten.

Und dann noch eine frohe Botschaft: Die nächste Berlinale wird, wie die FAZ mit offenbar guten Gründen spekuliert, mit dem designierten Widerstandsmeisterwerk "Walküre" eröffnen.

Auf der Medienseite informiert Jörg Bremer über die Schließung des angeblich ohne Lizenz arbeitenden israelischen Rundfunksenders RAM-FM - warum allerdings sieben Mitarbeiter in Haft genommen wurden, haben die zuständigen Stellen bisher noch nicht erklärt.

Besprochen werden Inszenierungen von Mark Ravenhills Kurzstückserie "Shoot/Get Treasure/Repeat" in London, ein Leizpziger Abend mit drei Einaktern von Arnold Schönberg, Christiane Pohles Münchner Inszenierung von Ödön von Horvaths "Zur schönen Aussicht", ein Berliner Konzert von Simone White, Nikolai Müllerschöns "Heldenschnulze" - so Bert Rebhandl - "Der rote Baron", und Bücher, darunter Heinz Budes soziologische Studie "Die Ausgeschlossenen" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).