Heute in den Feuilletons

Sterben live, die Auflösung der Kunst

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
21.04.2008. Jetzt, wo Eva & Katharina durch sind, könnte Wolfgang Wagner doch wirklich abtreten, drängt die SZ. In der NZZ meint Amitav Ghosh: Harvard ist ja okay, aber versuch' mal, in Delhi angenommen zu werden. In der Welt erklärt Benjamin Barber: Zuviel Kapitalismus verdirbt die Demokratie. Ebenfalls in der Welt erklärt Gregor Schneider, wie er sterben will, "in einem von mir ausgewählten Raum, in einem privaten Bereich des Museums". Erstmal will er aber jemand anders öffentlich sterben lassen und wird dabei ohne die Approbation der FAZ auskommen müssen. Die FR geht mit Dietmar Dath in den Widerstand.

TAZ, 21.04.2008

Der Videokünstler Zhao Liang zeigt auf der Berlin Biennale skurrile, aber authentische Szenen, die er in Peking über Jahre hinweg mit der Handkamera aufgenommen hat. Vera Tollmann und Kito Nedo sprechen mit Liang über die "City Scenes", die chinesische Version der "Symphonie einer Großstadt". "Nein, man kann diese Situationen nicht vorhersehen. Erinnern Sie sich an die komische Szene, in der sich zwei Typen unten auf der Straße mit Steinen bewerfen: Den Streit habe ich vor einigen Jahren im Frühling von meinem Wohnungsfenster aus aufgenommen. Eigentlich wollte ich vorbeifliegende Plastiktüten filmen. Nur als ich den Abriss eines Hauses gefilmt habe, hatte ich schon vorher in den Nachrichten gehört, dass es gesprengt werden sollte. Aber leider kam ich zu spät. Also habe ich meine Kamera aufgestellt und die Männer bei der Arbeit gefilmt. Auf einmal kippte der Rest des Gebäudes auf sie zu!"

Weitere Artikel: Vom Kinosessel gerissen hat Dietmar Kammerer das 27. Internationale Istanbul Film Festival nicht, auch weil es so konventionell familiär zuging. Antje Bauer schreibt den Nachruf auf die Ethnologin und KZ-Überlebende Germaine Tillion. In der zweiten taz stellt Klaus Theweleit die wichtigste Musik der 68er zusammen.

Im Medienteil erinnert Sven Hansen die Chinesen, die am Wochenende gegen die Tibet-Berichterstattung der westlichen Medien protestierten, dass in ihrem Heimatland Demonstrationen lebensgefährlich sind.

Besprochen wird Sebastian Baumgartens Inszenierung von Michail Bulgakows "Der Meister und Margarita" im Schauspielhaus Düsseldorf.

Und Tom.

Welt, 21.04.2008

Der amerikanische Politologe Benjamin Barber erklärt im Gespräch, warum der konsumistische Kapitalismus unser Verhängnis ist: "Ich behaupte, dass der Kapitalismus in seiner konsumistischen Phase - also nicht der Kapitalismus an sich - Erwachsene verdirbt, indem er sie zu Kindern macht. Kinder verdirbt, indem er sie zu Konsumenten macht, und die Demokratie verdirbt, indem er uns weismacht, dass ein Konsument schon ein Bürger wäre."

Weitere Artikel: Im Interview meint der wegen seines Projekts, einen Sterbenden auszustellen, umstrittene Künstler Gregor Schneider in eigener Sache: "Ich würde gerne in einem von mir ausgewählten Raum, in einem privaten Bereich des Museums, sterben können - umgeben mit Kunst." Manuel Brug wünscht, dass mit Eva Wagner-Pasquiers Zusage in Bayreuth Ruhe einkehrt und mit den "Lachnummern" erst mal Schluss ist. Eckhard Fuhr berichtet von der Berlin-Premiere eines so "verehrungswilligen" wie "anrührenden" Film-Porträts der im letzten Jahr verstorbenen Schauspielerin Jenny Gröllmann.

Besprochen werden Steve Winwoods neues Album "Nine Lives", Johan Simons' Inszenierung einer Dramatisierung von Joseph Roths "Hiob", zwei Uraufführungen bei der Münchner Musikbiennale und zwei Biografien, eine der Frau und eine des ältesten Bruders von Claus Graf Stauffenberg.

FR, 21.04.2008

In leicht mokantem Ton resümiert Christian Schlüter die Lektüre eines der ersten Edition-Unseld-Bände, die Streitschrift "Maschinenwinter: Wissen, Technik, Sozialismus" des ehemaligen FAZ-Redakteurs Dietmar Dath, in der offensichtlich noch eine linke Partei gefordert wird: "Geradezu rührend macht sich Dath dann noch einige Gedanken über die Organisation des linken Widerstands - bloß kein endloses Gremiengenerve, stattdessen politische Aktionen und Agitationen vor Ort, die kadermäßige Bündelung der verstreuten Initiativen, von Kriegsgegnern über Aidsaktivisten bis zu Internetpartisanen, und schlussendlich die 'Freistellung von Hauptamtlichen, wenn das Ganze keine Sisyphosarbeit sein soll'."

Weiteres: In times mager hält Christian Thomas aus aus sicht des BVB-Fans Rückschau auf das Finale des DFB-Pokals. Besprochen werden Johan Simons' Inszenierung von Joseph Roths Roman "Hiob" an den Münchner Kammerspielen, ein Abend mit Tschechow-Texten im Schauspiel Frankfurt, eine Ausstellung mit Büsten aus dem George-Kreis in Marbach und Marlene Streeruwitz Stück "Der Abend nach dem Begräbnis der besten Freundin" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Auf der Medienseite berichtet Ben Reichardt von den Frankfurter Journalistentagen, wo sich die Branche darüber Gedanken machte, wie sie junge Leser findet.

NZZ, 21.04.2008

Der in New York lebende indische Schriftsteller Amitav Ghosh spricht im Interview über die Arbeit an seinem neuen Buch, die Situation in Burma, Barack Obama und die unterschiedlichen Bildungssysteme in Indien und den USA: "In Indien werden andere Schwerpunkte gesetzt; viel Pauken, Auswendiglernen. In vieler Hinsicht finde ich das gut; in Japan versucht man teilweise, das indische System zu kopieren. Was die Schüler hier, in New York, mit 16 durchnehmen, haben sie in Indien schon mit 12 gehabt. Das geht an den Universitäten so weiter. Tatsächlich ist es schwieriger, in meinem ehemaligen College in Delhi angenommen zu werden als in Harvard oder Yale."

Weitere Artikel: Peter Hagmann erkundet die zwei großen Musikhäuser in Barcelona, das Palau de la Musica Catalana und das Gran Teatre del Liceu. Urs Schoettli plädiert für Augenmaß im Umgang mit China. Samuel Herzog erzählt vom Trickdiebstahl eines Hodler-Bildes.

Besprochen werden eine Ausstellung zu Schweizer Videokunst der siebziger und achtziger Jahre im Kunstmuseum Luzern und die Uraufführung von Sabine Harbekes Stück "mundschutz" am Theater Basel.

SZ, 21.04.2008

Nun wo es für die Bayreuther Nachfolge eine Lösung gibt, muss Wolfgang Wagner aber wirklich zurücktreten, meint Reinhard J. Brembeck: "Er muss den Weg jetzt freimachen für sein Dream-Team Eva & Katharina, das ja den Segen des Stiftungsrat hat. Dabei sollte er den Stiftungsrat respektieren, sollte ohne die Zusicherung zurücktreten, dass Eva & Katharina tatsächlich seine Nachfolgerinnen werden. Eine Entscheidung, die er nicht erzwingen, wohl aber be- und sogar verhindern kann."

Die düpierte Wieland-Enkelin Nike sagt dazu im Interview mit Wolfgang Schreiber: "Nun sollen die Festspiele obendrein einseitig von der Wolfgang-Linie dominiert werden. Klüger, angemessener und interessanter wäre eine Zusammenführung der Linien Wieland und Wolfgang Wagner gewesen."

Weitere Artikel: Alex Rühle weist in den "Nachrichten aus dem Netz" auf Videos und Internetadressen hin, wo in Scheidung befindliche Eheleute schmutzige Wäsche waschen. Laszlo Glozer stellt in einem Essay, der einem bald erscheinenden Buch entnommen ist, späte Fotografien Cy Twomblys vor, der in diesen Tagen achtzig Jahre alt wird. Der Theologe Friedrich Wilhelm Graf erinnert an den Theologen und Sozialutopisten Johann Hinrich Wichern, der vor 200 Jahren geboren wurde.

Besprochen werden erste Produktionen der Münchner Biennale, Joseph Roths "Hiob" an den Münchner Kammerspielen in der Regie Johan Simons' mit Andre Jung, Konzert-DVDs mit Sergiu Celibidache und Bücher, darunter ein Erzählband der amerikanischen Künstlerin Miranda July (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Aus den Blogs, 21.04.2008

Christiane Schulzki-Haddouti verteidigt in einem bemerkenswerten Artikel in der Gewerkschaftszeitschrift M das Bloggen und findet, dass Journalisten von Blogs lernen sollten. So könnten neue journalistische Formate entstehen. Blog bieten zumn Beispiel "Raum für eine Art 'Reporting Track', der etwa auch für investigativ arbeitende Journalisten ideal wäre. Ein solcher Platz steht jedoch in den etablierten Zeitungsformaten meistens nicht zur Verfügung. In einem 'Reporting Track' könnten sie kleine Zwischenschritte einer großen Geschichte dokumentieren und über die Veröffentlichung einzelner Details auch die Recherche selbst vorantreiben. Denn oftmals ergeben sich weitere Hinweise erst über Leser bzw. über die Reaktionen von beteiligten Personen und Organisationen."
Stichwörter: Blogs

FAZ, 21.04.2008

Keine Scherze mit dem Tod macht der Künstler Gregor Schneider - da vergeht Peter Richter das Lachen: "Als wir vor einigen Wochen in 'The Art Newspaper' Gregor Schneiders Ankündigung lasen, er suche einen Freiwilligen, dessen Sterben er als Kunstwerk ausstellen wolle, da hielten wir das - es war die April-Ausgabe - natürlich erst einmal für einen Scherz. So schlecht kann es ihm gar nicht gehen, dachten wir, dass er nun so etwas nötig hat - die Ankündigung eines Skandalkunstwerks, Sterben live, die Auflösung der Kunst in die Echtzeitdokumentation... Jemandem die Würde zu nehmen, auch einem Freiwilligen, ist keine Kunst. Es ist schon schockierend genug, dem Künstler in Gregor Schneider bei seinem Dahinsiechen zuschauen zu müssen."

Weitere Artikel: Niklas Maak erklärt, warum ein graffitiesker Begleitzaun (Foto) für ein Luxuswohngebäude der Architekturstars Herzog de Meuron in der New Yorker Bowery für Emörung sorgt. In der Glosse weiß Jordan Mejias zu berichten, was seiner Heiligkeit Benedikt in Washington musikalisch zugemutet wurde. Alexander Kosenina informiert über neues Material zum Fall der Kindsmörderin Johanna Höch, die 1783 nicht zuletzt aufgrund eines Votums von Johann Wolfgang Goethe hingerichtet wurde. Der Südafrika-Korrespondent Thomas Scheen stellt "sein Johannesberg" vor. Gina Thomas porträtiert Nigel Lawson, Finanzminister unter Margaret Thatcher, der in seinem jüngsten Buch "Ein Appell an die Vernunft" mit dem "Ökofundamentalismus" abrechnet. Karen Krüger gratuliert dem Migrationsforscher Faruk Sen zum Sechzigsten.

In der Sonntags-FAZ findet sich ein gekürzter Nachdruck des Village-Voice-Artikels, in dem der US-Dramatiker und Filmregisseur David Mamet erklärt, dass er "kein hirntoter Linker" mehr ist.

Besprochen werden Johan Simons' Münchner Theater-Version von Joseph Roths "Hiob"-Roman, die ersten beiden musiktheatralischen Uraufführungen auf der Münchner Musikbiennale: Enno Poppes "Arbeit Nahrung Wohnung" und Klaus Langs "Architektur des Regens", das Mireille Mathieu-Konzert in der Alten Oper in Frankfurt, Jessica Woodworths und Peter Brosens' Mongolei-Film "Khadak" und Bücher, darunter der Hans-Wollschläger-Gedächtnisband "Anderrede vom Weltgebäude herab" und Gustav Seibts Essays "Deutsche Erhebungen" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).