30.04.2008. Wolfgang Wagner tritt ab. FR und SZ raspeln schon mal Süßholz beim designierten Halbschwesterntandem. In der Zeit nimmt Alfred Brendel tränenlos Abschied vom Konzertleben. Die FAZ hätte die Literatur gern ein bisschen wilder. Die taz findet: Undogmatisches Kino ist bieder.
FR, 30.04.2008
Ganz toll, dass endlich mal Frauen Chefinnen in
Bayreuth werden,
findet Hans-Jürgen Linke die Entscheidung für Katharina Wagner und Eva Wagner-Pasquier (Cosima und Winifred zählen wohl nicht mit). Und auch sonst möchte Linke absolut
nichts Schlechtes sagen: "Insofern ist die Tandem-Lösung, die Wolfgang Wagner den Weg zum freiwilligen Rücktritt geebnet hat, eine
romantische Lösung. Sie bricht Regeln, indem sie ihre Kontinuität verbürgt, sie ist mehrdeutig, lässt divergierende Einschätzungen zu und widerlegt keine. Sie ist wie der
Tristan-Akkord, in den Raum gestellt als harmonisches Wir-werden-schon-sehen. Eine Emanzipation der Dissonanzen, wie Arnold Schönberg sagte, ohne Strebewirkung, richtungslos und ohne klare Entscheidung. Den harmonischen Kontext wird man erst hören, wenn es weitergegangen ist."
Weiteres: Ben Reichardt
stellt den
Argentinier Rafael Spregelburd vor, dessen Stück "Die Sturheit" demnächst am Schauspiel Frankfurt uraufgeführt wird. In Times Mager
fragt sich Judith von Sternburg, warum es in Frankfurt noch
verliebte Paare gibt.
Besprochen werden die
1968-Ausstellung "Kurzer Sommer - lange Wirkung" im
Frankfurter Historischen Museum, die Arno Widmann ausgesprochen dumm findet: "Nicht, weil sie keine Antworten hat. Sie ist dumm, weil sie
keine Fragen stellt." Außerdem
Marco Kellers Dokumentarfilm "Die roten Drachen und das Dach der Welt" und
Jon Faveraus Comic-Verfilmung "IronMan".
Tagesspiegel, 30.04.2008
Christine Lemke-Matwey
sieht die
Bayreuth-Nachfolgeregelung nicht ganz so sentimental wie die Kollegenschaft: "Das Geschäft bleibt bis auf Weiteres in der Familie. Am Persönlichkeitsfaktor indes werden die beiden Mädels noch arbeiten müssen. Eva, die Kultur-Managerin, ist eine Frau der zweiten Reihe und bislang wenig aufgefallen, und Katharina, die Jung-Regisseurin, hat zwar eine erstaunlich
tiefe Stimme und schnelle, freche Schnauze, sehr viel mehr indes noch nicht zu bieten. Aber da ist ja auch noch der Dritte im Bunde, der Dirigent
Christian Thielemann, der der kleinen Kathi den Steigbügel hält und ohne den sie nie so weit gekommen wäre..."
Welt, 30.04.2008
Manuel Brug
kommentiert den annoncierten Abgang
Wotan Wagners und erhofft sich vom designierten Halbschwesternpaar versöhnliche Impulse in Richtung
Cousine: "Warum sollte es - wenn sich die familiären Wogen aus Enttäuschung und Intrige einmal geglättet haben - nicht zu einem Einbezug Nike Wagners in Bayreuth kommen? Sie ist eine kluge, gern provozierende Wagner-Grande-Dame, die man als optische Wiedergängerin Cosimas gerne Symposien leiten und
kluge Essays verfassen sähe."
Weitere Artikel: Sven Felix Kellerhoff erinnert an die Inszenierung des
1. Mai durch die Nazis vor 75 Jahren. Im Kommentar mokiert sich Berthold Seewald über kommentatorische Bewältigungen des Dramas von
Amstetten.
Besprochen werden eine Choreografie
Wayne McGregors in Wolfsburg, eine Ausstellung über 1968 in
Frankfurt,
Rene Polleschs Stück "Darwin-win" an der Volksbühne und einige neue Filme, darunter der Episodenfilm "1. Mai" (mehr
hier), der vor einem Jahr in Kreuzberg gedreht wurde.
NZZ, 30.04.2008
Eine große Ausstellung zu feministischer Kunst, "WACK! Art and the Feminist Revolution", hat sich Gabriele Schor im New Yorker
Kunstzentrum P.S.1 angesehen. Großes Thema ist natürlich Sex: "
Judy Chicago zeichnet mit biomorphen Elementen eine
farbenprächtige Ikonografie der Vulva und kommentiert diese autobiografisch. Weibliche Sexualität und Lust greift auch
Barbara Hammers Video 'Multiple Orgasm' (1976) auf, indem sie jenseits voyeuristischer Attitüden die Stimulierung einer Klitoris vorführt. Doch man sollte nicht glauben, dass das Feld der Kunst von Frauen homogen gewesen wäre. So sah sich
Hanna Wilke, deren Vulva-Skulpturen aus Latex bekannt sind, mit dem Vorwurf ihrer Kolleginnen konfrontiert, sie instrumentalisiere ihren erotischen Körper für ihre Kunst. Darauf konterte sie 1977, ausgerechnet am Höhepunkt der feministischen Bewegung, mit dem provokativen Plakattext 'Beware of Fascist Feminism'."
Weiteres: Joachim Güntner
entwirrt all die Strippen, die von Politik, Stiftungsrat und Familie Wagner gezogen worden sind, um die
Bayreuther Dynastie von Wolfgang Wagner in die Hände seiner Töchter Katharina und Eva Wagner Pasquier zu übergeben. Besprochen werden der "Siegfried" aus der neuen
Ring-Inszenierung an der Wiener Staatsoper,
Jerzy Jedlickis Buch zur Kulturkritik "Die entartete Welt",
Georges-Arthur Goldschmidts "Die Faust im Mund" und
Michael Hatrys "Ich will malen!"
Die Filmseite widmet sich
Dennis Gansels Film "Die Welle" und
Stefan Jägers toskanischen
Improvisationen "Il pugno di Gesu".
TAZ, 30.04.2008
Cristina Nord
weist auf eine umfangreiche
Retrospektive zu 68 im Berliner Kino
Arsenal hin, zu sehen sind unter anderem Godards "La Chinoise", Bertoluccis "Partner" oder Pasolinis "Teorema". "Das ist ein
Wuchern, wie man es im Kino von heute vergeblich sucht. Der erhitzte politische Augenblick mit seinen klaren Fronten, seinen eindeutigen Imperativen und seinen Dogmen hat ein Kino hervorgebracht, das sich unentwegt selbst
ins Wort fällt. Die
Gegenwart dagegen, die undogmatische, postideologische, der Lagerbildungen überdrüssige Gegenwart, bringt, von Ausnahmen abgesehen, ein eher
biederes Kino hervor."
Johanna Schmeller
porträtiert die Theaterregisseurin
Jette Steckel, die mit "Gerettet" das Festival
"Radikal jung" in München eröffnet. Unterhaltsam, aber auch tückisch
findet Dirk Knipphals Jan Favreaus Verfilmung der Comicserie
"Iron Man".
In tazzwei
geben Schauspieler, Musiker, Regisseure und Historiker Antwort auf die Frage, ob und warum es den 1. Mai als
Tag der Arbeit noch braucht; hingewiesen wird dabei auch auf den Episodenfilm "1. Mai" von Sven Taddicken, Jakob Ziemnicki, Carsten Ludwig und Jan-Christoph Glaser, der heute anläuft.
Und
hier Tom.
SZ, 30.04.2008
Reinhard J. Brembeck
ist entzückt über die Rücktrittserklärung Wolfgang Wagners und blickt -
Nike Wagner, diese Vertreterin "veralteter" Regiekonzepte entschlossen
hinter sich lassend - optimistisch in die Zukunft: "Eine Lösung, die nicht nur für Wolfgang Wagner und für den Großteil der im Stiftungsrat vertretenen Fraktionen (Bund, Bayern, Bayreuth, Festspielfreunde, Wagner-Familie) tragbar ist, sondern auch
künstlerisch überzeugt. Weil sie den Realitäten eines Festspielbetriebs im 21. Jahrhunderts entspricht. ...
Nur auf den ersten Blick erscheint sie als dynastisch und politisch motiviert. Diese Lösung, die eine Sängerexpertin (Eva) mit einer bekennenden Regietheaterfrau (Katharina) zusammenspannt, markiert vor allem eine
Neuorientierung im Operngeschäft, die derzeit in ganz Deutschland zu beobachten ist."
(Stephan Speicher hatte das gestern in der
SZ noch "
Erpressung"
genannt.)
Jörg Königsdorf folgt im Streit um die
Berliner Staatsoper den Berliner Machtverhältnissen: Wenn Intendant Mussbach und Dirigent Barenboim sich nicht über das Konzept des Hauses einigen können, für das der Berliner Senat 10 zusätzliche Millionen bereitgestellt hat,
ist Mussbach zu opfern: Da "kaum ein Politiker es riskieren wird, die weltberühmte Symbolfigur Barenboim zu verprellen, bleibt nur eine Lösung: Mussbach gegen eine gehörige Abfindung zu einer
sofortigen Amtsaufgabe zu bewegen und stattdessen einen Barenboim-Kandidaten als kommissarischen Intendanten einzusetzen. Und das Problem mit den zehn Millionen wäre dann auch schon fast von selbst geregelt."
Weitere Artikel: Fritz Göttler annonciert das
23. Dokumentarfilmfestival in München, das heute beginnt. Ein "Lod." zeichnender Autor stellt fünf Filme vor, die auf dem Festival gezeigt werden. Die Publizistin
Svenja Flaßpöhler weist am Beispiel von
Charlotte Roches Buch "Feuchtgebiete" die Vorstellung zurück, Frauen, die
sexuelle Unterwerfungsphantasien haben, wären auch auf anderen Gebieten unterwürfig. Michaela Schlagenwerth stellt den Choreografen
Wayne McGregor vor, der mit seiner eigenen Company Random Dance und seinem neuesten Stück "Entity" zum Tanzfestival Movimentos in Wolfsburg kommt. Harald Eggebrecht schreibt zum Tod des Musikwissenschaftlers
Ulrich Dibelius.
Besprochen werden der Episodenfilm
"1. Mai",
Johannes Schmids Jugendfilm
"Blöde Mütze!", zwei Aufführungen bei den Schwetzinger Festspielen: die zeitgenössische a-cappella-Komposition "Hybris / Niobe" von
Adriana Hölszky und "unmittelbar anschließend" die Oper "Niobe" des Barockkomponisten
Agostino Steffani ("Beides Objekte der Freude und der Anstrengung, des Optimismus und des Durchhaltevermögens", so Helmut Mauro), und Bücher, darunter
Lukas Bärfuss' Roman über den Bürgerkrieg in Ruanda "Hundert Tage" (mehr in unserer
Bücherschau heute ab 14 Uhr).
FAZ, 30.04.2008
Erst einmal nur online
kommentiert Julia Spinola die "Komödie des Rücktricks" von
Wolfgang Wagner. Für sie "kann das Erleichterungsgefühl ... nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Rücktritt des Enkels von Richard Wagner bloß ein Schachzug ist in einem
durch und durch korrupten Spiel. Eröffnet wurde es von den Ministern
Goppel und
Neumann, indem sie dem alten Wagner die Erfüllung seiner Wunschlösung versprachen: die Entscheidung für ein Nachfolgeduo, das die Logik der Alleinherrschaft des Wolfgang-Wagner-Stammes fortsetzt, indem mit den beiden leiblichen Töchtern Eva Wagner-Pasquier und Katharina Wagner auch künftig nur Wolfgang Wagners eigen Blut regieren soll. Der Familien-Stamm von Wolfgangs 1966 gestorbenem Bruder
Wieland, dem entscheidenden Protagonisten des "neu-bayreuthischen" ästhetischen Befreiungsprozesses der durch die Verstrickungen während der NS-Zeit arg kompromittierten Festspiele, würde in Falle dieser Lösung,
endgültig enterbt."
Weil die Flut der Literaturpreise nur
domestizierte Literatur produziert, gehören die kleinen Preise und Stipendien abgeschafft. Die Literatur nämlich,
findet Oliver Jungen, braucht den
Killerinstinkt: "Genau da, wo Gefahr ist, wächst bekanntlich das Rettende auch. Aus den
dunkelsten Epochen leuchten uns die überragendsten Dichtungen entgegen; im Finstern wohnen die Adler. Nichts spricht gegen die historische Einkleidung des Gedankens, aber gefährlich aktuell muss er sein, dieser Gedanke, soll kein Stillleben entstehen." (Naja, und dann müsste das noch die Gnade der Rezensenten finden, die
in den Jurys für die Literaturpreise sitzen.)
Weitere Artikel: In der Glosse
macht Gina Thomas darauf aufmerksam, dass die Akten des berühmten Londoner Strafgerichts "
Old Bailey" aus den Jahren 1674 bis 1913 jetzt im Internet
einzusehen sind. Von einer Kiewer Diskussion der vier Schriftsteller
Jurij Andruchowytsch,
Viktor Jerofejew,
Wojciech Kuczok und
Franz Hodjak berichtet Thomas Medicus. Martin Thoemmes befasst sich mit der Geschichte deutscher
Mailieder. Annika Müller hat die
Wiener Sängerknaben besucht, die jetzt auch mit Weltmusik reüssieren. Wolfgang Sandner schreibt zum Tod des Jazzmusikers
Jimmy Giuffre, Gerhard R. Koch hat den Nachruf auf den Musikpublizisten
Ulrich Dibelius verfasst. Auf der
DVD-Seite werden Editionen von Kurzfilmen der
Brothers Quay, der Straub/Huilletschen Kafka-Verfilmung "Klassenverhältnisse" und von
Monte Hellmans "Two-Lane Blacktop" empfohlen. Dominik Graf schwärmt für den tschechischen Regisseur
Zbynek Brynych, der noch dem ZDF-Freitagskrimi der siebziger Jahre seine "Genialität" einzuhauchen verstand.
Auf der Medienseite informiert Dirk Schümer über das vom Anti-Politiker
Beppe Grillo angestrengte Volksbegehren gegen Staatsknete für die italienische Presse.
Besprochen werden New Yorker
Olafur-Eliassoniana, Wolfgang Engels letzte Inszenierung in Leipzig, und zwar von Michael Bulgakows "Moliere oder Die Verschwörung der Heuchler", die von
Christof Schlingensief skizzierte
Inszenierung von
Walter Braunfels" Oper "Szenen aus dem Leben der Heiligen Johanna", eine Karlsruher Ausstellung zum Architekten
Friedrich Weinbrenner, ein Kölner Konzert der
"Blood Red Shoes", der deutsche Gemeinschaftsfilm "1.Mai" und Bücher, darunter
Uzodinma Iwealas Kindersoldaten-Roman "Du sollst Bestie sein!" (mehr dazu in der
Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).
Zeit, 30.04.2008
"Ich sehe das Ende
klar und tränenlos", sagt der
Pianist Alfred Brendel im Gespräch mit Christof Siemes und Claus Spahn über seinen bevorstehenden Abschied vom Konzertleben. Abgesehen von dem einen oder anderen Wunderkind sieht er die Pianisten von heute allerdings nicht gut aufgestellt, schon gar nicht im Vergleich mit
Geigerinnen wie Lisa Batiashvili, Julia Fischer und Hilary Hahn: "Was da für ein
ernsthaftes Niveau zu finden ist! Und man hat nicht den Eindruck, das sei jetzt die russische Geigenschule oder die Produktion von Dorothay Delay aus New York, sondern man hört die Musik. Unter den jungen Pianisten, die derzeit bekannt sind, ist es - bitte, es gibt immer Ausnahmen - ganz anders. Ich würde nicht sagen, dass da viele imstande sind, ein
gutes Beethoven-Konzert zu spielen oder ein gutes Mozart-Konzert. Denen geht es um andere Sachen - um Selbstdarstellung."
Der Anthropologe
Constantin von Barloewen erklärt, warum
Lateinamerika - gerade als Kontinent, der sich immer der Moderne widersetzt hat - nun zum Hoffnungsträger der Weltzivilisation werden kann: "Auch mit jener
Kreolisierung, der kulturellen Durchmischung, die ja nicht mehr nur für Lateinamerika bezeichnend ist, sondern für die Weltgesellschaft überhaupt. Der Treibsatz der Kreolisierung steckt in den ethnisch-religiösen Konlikten Indiens, Chinas, Afrikas und der islamischen Welt. Das heißt: Während der Westen sich bei seinem Blick auf den Globus noch von einem anachronistischen, 'kontinentalen' Denken leiten lässt, verwandelt sich die Weltgesellschaft immer stärker in
Archipele, in ein
Multiversum, in dem die Kulturen ihre Identität nicht mehr aus einer Wurzel beziehen, sondern aus einem 'Wurzelgeflecht'."
Weiteres: Zum bevorstehenden 60. Jahrestag der Gründung
Israels erinnert sich der
Nobelpreisträger Elie Wiesel an den denkwürdigen Tag: "Ein bärtiger alter Mann mit fiebrigen Augen erklärt mir: Das haben wir
durch Beten erreicht, das ist wichtiger als Politik." Besprochen werden
Madonnas neues Album "Hard Candy", das demnächst auch bei den Ruhfestspielen gezeigte Londoner Stück
"Speed-the-Plow" mit Kevin Spaces und Jeff Goldblum und
Werner Braunfels' "Jeanne d'Arc" nach Christoph Schlingensief in Berlin.
Im Aufmacher des Literaturteils schreibt Jens Jessen über
Sherko Fatahs Gotteskrieger-Roman
"Das dunkle Schiff". Daniel Kehlmann schreibt zudem über
J.M. Coetzees "Tagebuch eines schlimmen Jahres".
Für das Magazin hat sich
Günter Wallraff undercover als Niedriglöhner in einer Brötchenfabrik verdingt.