Heute in den Feuilletons

Die Hybris der Kritiker und Bepreiser

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
02.05.2008. In ihrem Blog antwortet Jagoda Marinic auf einen FAZ-Artikel, der statt der Förderung der Autoren die Förderung von Hunger bei Autoren forderte. Indiskretion Ehrensache kritisiert den Verzicht auf jeden Anschein von Recherche bei einer ARD-Sendung über "Quoten, Klicks und Kohle". Der Urheberrechtsexperte Thomas Hoeren erklärt in einem Juristenblog, warum ihn die Forderung der Musikindustrie nach Netzsperren ärgert. Die FAZ verabschiedet den letzten Widerstandskämpfer des 20. Juli, Philipp von Boeselager. Die SZ bringt eine Seite über Blogs in repressiven Ländern - aber stellt nichts online.

Aus den Blogs, 02.05.2008

Oliver Jungen hat in einem Debattenartikel der FAZ über die Lage der Literatur die Abschaffung kleiner Literaturpreise gefordert, um so statt der Autoren den Hunger der Autoren zu fördern und deren Wut - die er hiermit in einem Blogeintrag der Schriftstellerin Jagoda Marinic zurückbekommt: "Die Hybris der Kritiker und Bepreiser, die sich in der Vorstellung äußert, dass alles, was der arme junge Autor schafft, und wie er es schafft, von ihnen abhängt, dass der Autor nur Sätze aneinanderreiht, weil ihm dann und wann 2000 Euro rübergestreckt werden und weil dann in der Zeitung steht: Pressemeldung, Preis im Kaff X erhalten, der tote Autor Y ehrt den jungen Autor Z. Hallelujah, dafür und davon leben wir, genau!"

(Via Heise) Im Juristenblog des C.H. Beck-Verlags erklärt der Urheberrechtsexperte Thomas Hoeren, warum er sich über den Offenen Brief der Musikindustrie ärgert, der Internetüberwachungen und Netztsperren gegen Raubkopierer forderte. "Jede differenzierte Auseinandersetzung fehlt: Hat nicht der Gewinneinbruch in der Musikindustrie noch andere Gründe als P2P? Kann die TK-Industrie überhaupt effektiv den Zugang zu Websites sperren? Ist nicht Urheberrecht geprägt durch eine komplexe Suche nach einem Gleichgewicht zwischen schützenswerten Urheber-, Verwerter- und Nutzerinteressen? Man will in der Musikindustrie nicht differenziert denken. Man will schlagen, hauen, klotzen."

Thomas Knüwer attackiert den ÖR-Fernsehjournalisten Thomas Leif, eines der prominentesten Mitglieder des für seine hehren Prinzipien bekannten (und von Paten wie Gerhard Schröder besungenen) "Branchengeheimbunds" Netzwerk Recherche. Seine Sendung "Quoten, Klicks und Kohle" sei reine Propaganda gewesen: "Journalismus darf unter diesen Voraussetzungen nicht erwartet werden. Es war ein voreingenommenes Bejubelungsstück der öffentlich-rechtlich subventionierten Privatsender. Dazu gehört es auch den Antichrist aller TV-Magazinmacher zu verdammen: Profite. Nie macht jemand Gewinne, es sind immer Profite, das klingt ekliger."

Welt, 02.05.2008

Alfred Brendel ist auf Abschiedstournee. Manuel Brug fragt: Warum liebt das Publikum ihn so? "Brendel ist nicht schön und nicht sexy, dafür aber klug und skurril. Brendel ist kein felsenfester Techniker, ein dampfender Virtuose schon gar nicht. Seine Repertoirewahl ist übersichtlich, in den letzten Jahren schrumpfte sie noch mehr. Er ist solide, - bis auf das Husten im Konzertsaal - ohne Allüre, selten krank. Dieser Pianist ist so jenseits jeder Mode und in seiner Uneitelkeit schon fast wieder eitel, dass man solches für eine Masche und Marke halten würde, wenn man vor Jahrzehnten schon in Marketing-Kategorien gedacht und globale PR-Kampagnen geplant hätte."

Reinhard Wengierek singt eine Hymne auf den Schauspieler Joachim Meyerhoff, der beim Berliner Theatertreffen als Hamlet reüssieren wird: "Dieser Hornbrillen-Hamlet wütet so schlau wie verzweifelt, ja ohnmächtig sonderlich gegen die eine existenzielle Verunsicherung: nämlich das unerträglich allmächtige Umhergeistern von Shakespeares Hauptfigur - dem Tod."

Weitere Artikel: Thomas Lindemann sieht mit dem Spiel "Grand Theft Auto 4" (hier ein Test bei Golem) eine neue Computerspielära anbrechen. Gerhard Charles Rump kommentiert neueste Querelen in der Leitung der Art Basel. Kai Luehrs-Kaier gratuliert dem Dirigenten Horst Stein zum Achtzigsten.

Besprochen werden ein Musical nach Rocko Schamonis Roman "Dorfpunks" in Hamburg und ein "Siegfried" in der Regie Sven-Eric Bechtolfs in Wien.

Im Forum übernimmt die Welt einen Essay Francis Fukuyamas aus American Interest - er sieht das Wüten Chinas gegen Tibet nicht als Zeichen der Gewalt, sondern gerade der Schwäche des chinesischen Zentralstaats, der den Zugriff auf die Provinzen verliert. Und Maxeiner & Miersch zitieren in ihrer Kolumne einige grauenhafte Sätze gegen Überbevölkerung von Vordenkern wie Konrad Lorenz und stinknormalen Internetkommentatoren, die sie als Zeichen für einen kommenden Ökofaschismus sehen.

TAZ, 02.05.2008

Benno Schirrmeister besucht auf den vorderen Seiten das bis Sonntag andauernde evangelikale Christival, das in letzter Zeit in die Diskussion geraten war. "Roland Werner ist ein breitschultriges Mannsbild, seine Stimme ein hoher Tenor. Man kann, wenn man die Augen schließt, an Didi Hallervorden denken. Aber die Christival-Besucher - 16.000 Gäste, vorwiegend Jugendliche - haben eher Jesus vor Augen. 'Amen!', ruft Werner jetzt mit Nachdruck, und 'Amen!', jubelt die Menge. Junge Männer hüpfen pfeilgerade in die Höhe, Begeisterungspfiffe, Musik. Die Veranstalter beschreiben das Christival gern schlicht als 'Glaubensfest', als 'Kongress junger Christen' oder, in fröhlicher Ignoranz gegenüber dem zwei Wochen später beginnenden Katholikentag, als 'das christliche Großereignis 2008'."

Im Feuilleton schreibt Christian Bröcking zum Tod des amerikanischen Free Jazzers Jimmy Giuffre. In der zweiten taz würdigt Matthias Bröckers den verstorbenen LSD-Entdecker Albert Hofmann.

Besprochen werden die Premiere von Rocko Schamonis "Dorfpunks - Die Blüten der Gewalt" am am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg, die wie eine "Familienfeier" wirkende Ausstellung "Die 68er. Langer Sommer - kurze Weile" im Historischen Museum Frankfurt am Main sowie neue Alben von Gonzales und The Feeling.

Schließlich Tom.

FR, 02.05.2008

Verglichen mit Elfriede Jelinek und Michel Houellebecq bietet Charlotte Roche gerade mal ein Provokatiönchen, schreibt Ina Hartwig über die Moderatorin und Autorin, die mit ihren "Feuchtgebieten" gerade als Titelbild auf dem Stern gelandet ist. "Das einzige, was sie anklagt, ist der weibliche Hygienewahn. Frauen, so die überschaubare Provokation, sollen das Fell da unten sprießen lassen und genauso riechen, wie es den Jungen angeblich immer schon erlaubt war. Konsequent wird von 'Muschi' geredet; nennt so nicht ein früherer bayrischer Ministerpräsident seine Frau? Ob Zufall oder Absicht: Es liegt etwas zutiefst Niedliches, Anschmiegsames über dem Ganzen. Und es passt zur Infantilgesellschaft, die die scharfsichtige Jelinek schon früh diagnostizierte. Roche ahnt vielleicht gar nicht, was sie der großen Österreicherin verdankt. 'Wir sind lockvögel, baby!' hieß programmatisch deren Poproman von 1970. Das war acht Jahre vor Charlotte Roches Geburt. Das Lockvögelchen ist jetzt sie."

Außerdem: Ina Hartwig schreibt auch zum 80. Geburtstag des Schriftstellers und Übersetzers Georges-Arthur Goldschmidt. Besprochen werden Aufführungen von Kleists "Penthesilea" - inszeniert Luk Perceval in Berlin (hier ein Video bei Youtube) und Karin Henkel in Stuttgart -, die Uraufführung von Walter Braunfels' Opter "Jeanne d'Arc" an der Deutschen Oper Berlin, die neue CD von The Feeling und Wayne MacGregors Choreografie "Entity" in Wolfsburg.

NZZ, 02.05.2008

Auf der Medien- und Informatikseite beschreibt Thomas Schuler den Angriff Robert Murdochs auf die New York Times. Dazu benutzt Murdoch vor allem sein Wall Street Journal: "Der Inhalt der Nachrichten wurde politischer, und die Zeitung bekam einen Sportteil. Murdoch will die Redaktion in der New Yorker Zentrale verkleinern und in Washington verstärken. Die Artikel wurden kürzer." (Murdochs Strategie hatte vor kurzem der Ex-Chefredakteur der New York Times, Howell Raines genauer beschrieben.)

Außerdem: H.Sf. stellt eine digitale Chronik des 20. Jahrhunderts vor. Und ras. informiert uns über 1968 im Schweizer Fernsehen.

Im Feuilleton denkt Uwe Justus Wenzel über das Phänomen Bastian Sick nach. Markus Jakob erinnert an den Madrider Volksaufstand am 2. Mai 1808. Derek Weber nimmt Abschied vom Alban-Berg-Quartett, dass gerade auf seiner letzten Tournee war.

Besprochen werden eine Ausstellung über Karl den Kühnen im Historischen Museum Bern, die Uraufführung von Walter Braunfels' Oper "Jeanne d'Arc" in Berlin, die Uraufführung von Simon Froehlings Stück "Feindmaterie" in Solothurn, Aufnahmen des Alban-Berg-Quartetts und Bücher, darunter drei französische Bücher zum Mai 1968 und Igal Avidans Buch über "Israel" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FAZ, 02.05.2008

Mit Philipp von Boeselager ist das letzte Mitglied des Kreises der Hitler-Attentäter gestorben. Frank Schirrmacher hat nicht nur einen Nachruf geschrieben, veröffentlicht wird auch das letzte Interview, das er mit von Boeselager geführt hat. Darüber schreibt Schirrmacher: "In einer Welt, in der das Gefühl, eine Chance verpasst zu haben, sich auf Ebay-Schnäppchen und den falschen Hypothekenkredit beschränkt, schien die Zeitgenossenschaft mit Philipp von Boeselager ans Phantastische zu grenzen."

Weitere Artikel: Über Streit um das Erbe des Bauhaus-Künstlers Oskar Schlemmer informiert Hans-Joachim Müller. Eduard Beaucamp denkt in seiner Kolumne über das Verhältnis der Kunst zum Mai 1968 nach. Im Gespräch beklagt der Plagiatsforscher Stefan Weber eine vom Internet hauptverursachte Verluderung der Sitten in Sachen geistiges Eigentum. Von Joseph Hanimmann erfahren wir, dass Michel Houellebecqs geschmähte Mutter Lucie Ceccaldi jetzt nur unwesentlich freundlicher zurückgeschrieben hat: in ihren Erinnerungen mit dem Titel "L'innocente". In der Glosse berichtet Jürg Altwegg, dass sich in Frankreich neuerdings die "Neger" - also die Ghostwriter der Politiker - zu ihren Werken unter fremden Namen bekennen - für manchen ein schockierender Kulturbruch. Außerdem gratuliert Altwegg dem Essayisten und Übersetzer Georges-Arthur Goldschmidt zum Achtzigsten. Lorenz Jäger schreibt zum Tod des LSD-Erfinders Albert Hofmann. Auf der Medienseite spricht der ZDF-Chefredakteur Nikolaus Brender unter anderem über die guten Vorsätze des Senders zur Olympia-Berichterstattung: "Wir berichten über die sozialen und wirtschaftlichen Fortschritte, aber auch über die Schatten einer Diktatur, über die Einschränkung der Meinungsfreiheit, über Zwangsarbeit und über mögliche Doping-Vergehen bei den Spielen."

Besprochen werden Olaf Altmanns Frankfurter Inszenierung von August Strindbergs "Rausch" und Bücher, darunter Hwang Sok-yongs Roman "Der Gast" und Katja Mutschelknaus' Geschichte des "Kaffeeklatsch" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

SZ, 02.05.2008

Zum Tag der Pressefreiheit hat die Feuilletonredaktion einige Blogger aus repressiven Ländern angeschrieben - und sie haben geantwortet. "Neulich wurde ich sehr traurig, als ich einen Bericht über den Tod eines Mannes namens Kyaw Zin Naing las, der sich selbst angezündet hatte, um gegen die steigenden Lebenshaltungskosten in Birma zu protestieren", schreibt ein birmesischer Blogger mit dem Pseudonym Thway Ni. Und Beppe Grillo (hier sein Blog) berichtet über etwas, über das die italienischen Zeitungen nicht berichtet haben (und worüber die deutschen Zeitungen in ähnlicher Lage womöglich auch nicht berichtet hätten), eine Reihe von Großdemonstrationen zum Thema der freien Information in den italienischen Städten, bei denen unter anderem ein Ende der Millionensubventionen für die italienischen Zeitungen gefordert wurde: "Was bleibt? Das Netz, das Internet, die Blogs. Ich weiß aber nicht, wie lange noch." Zitiert wird auch der saudiarabische Blogger Ahmed Al-Omran. Und die Islamwissenschaftlerin Jasmin Tiefensee schreibt über Blogs im Iran. Leider steht nichts davon online.

Weitere Artikel: Im Aufmacher schürt Christine Dössel große Erwartungen für das beginnende Berliner Theatertreffen. Jonathan Fischer fürchtet, dass Barack Obama beim Kampf um den weißen Mainstream an Rückhalt in den schwarzen Gemeinden verliert. Susanne Klingenstein verfolgte einen Vortrag von Ayaan Hirsi Ali an der Harvard Universität. Christine Dössel schreibt zum Tod des Theaterkomponisten Laurent Simonetti. Johannes Willms berichtet über den Aufruhr um die demnächst als Buch erscheinende Abrechnung der Mutter Michel Houellebecqs, Lucie Ceccaldi, mit dem aus der Art geschlagenen Sohnemann - Le Monde widmete dem Thema eine ganze Seite. Franziska Augstein resümiert eine Tagung über Alexander Mitscherlich. Alex Rühle schreibt zum Tod des LSD-Erfinders Albert Hofmann.

Auf der Literaturseite gratuliert Joseph Hanimann dem Autor Georges-Arthur Goldschmidt zum Achtzigsten. Besprochen werden Feuchtwangers Roman "Erfolg" als Hörbuch und eine Studie zu Kierkegaard - und außerdem der Film "Iron Man" mit Robert Downey Jr. (der aus Anlass dieser Comicverfilmung auch interviewt wird), Jens Joneleits Oper "Piero - Ende der Nacht" bei der Münchener Biennale, eine Dramatisierung von Rocko Schamonis Autobiografie "Dorfpunks" am Schauspielhaus Hamburg und Roland Schimmelpfennigs Stück "Die arabische Nacht" in Essen.