Heute in den Feuilletons

Spröde Wettbewerbsbeiträge

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
14.05.2008. Alle Zeitungen werfen einen Blick auf das Programm von Cannes. Die Welt staunt über Gerhard Richters Einfluss in China. Die FR meint: Wenn die Erneuerung des Theaters vom Schauspieler ausgeht, dann heißt er wahrscheinlich Joachim Meyerhoff. Laut NZZ scheint zumindest die kulinarische Versorgung beim Lyrikertreffen von Meran okay gewesen zu sein: "Über Torten und Kuchen spürest du kaum einen Hauch."

Welt, 14.05.2008

Gleich zwei große Ausstellungen deutscher Kunst sind gerade im Pekinger Nationalmuseum zu sehen - eine mit Landschaftsmalerei und eine Retrospektive mit Werken von Gerhard Richter. Richter ist, wie Johnny Erling berichtet, für die chinesische Gegenwartskunst von großer Bedeutung: "Der Pekinger Kunstkritiker Zhu Qi, der Richters Gedanken zur Malerei aus den Jahren 1962 bis 1993 aus dem Englischen übersetzte, datiert Richters Einfluss auf China vom Ende der neunziger Jahre an. Sein 'Fotorealismus und die verwischte Unschärfe' faszinierten eine Generation junger Maler, von denen heute viele zu den Arrivierten gehören. 'Gute Künstler interessieren sich nicht mehr so sehr für den Stil Richters, sondern für das Denken dahinter."

Gerhard Midding erinnert zum Beginn der Filmfestspiele in Cannes an den Abbruch des Festivals vor vierzig Jahren: "Louis Malle, der Mitglied der Jury ist, aber in seiner freien Zeit kein Auge vom Fernseher lässt und sich fragt: 'Was tu' ich hier? Ich muss nach Paris zurück!', ist gespannt auf das, was seine Kollegen zu berichten haben: 'Auf einem Treffen erklärten sie, dass sie das neu gegründete Comite Revolutionnair du Cinema oder so ähnlich repräsentieren', erzählt er später. 'Sie sagten, dass das Festival sofort beendet werden muss. Ich hielt das für eine ausgezeichnete Idee. Das ganze Land befand sich im Streik; es schien uns absurd, dass die Leute im Frack sich Filme angucken sollten, als wäre sonst nichts los, als befänden wir uns in Liechtenstein oder Monte Carlo.'"

Weitere Artikel: Einen Streifzug durch Tel Aviv, "die größte Bauhaus-Siedlung der Welt", hat Jacques Schuster unternommen. Thomas Lindemann kommentiert die dann doch erstaunliche Tatsache, dass die deutsche "Stampf-Techno"-Band "Scooter" gerade Madonna von Platz eins der britischen (sic!) Charts verdrängt hat. Uta Baier schreibt zum Tod des amerikanischen Pop-Art-Künstlers Robert Rauschenberg und zitiert zustimmend dessen Kollegen Jasper Johns: "Rauschenberg war der Mann, der in diesem Jahrhundert nach Picasso am meisten erfunden hat." Nichts Gutes ist derzeit aus Hollywood über Tom Cruises von mehr oder minder Sachverständigen hierzulande im Vorfeld über den grünen Klee gelobten Stauffenberg-Film zu hören: "Mancher sieht schon böse historische Parallelen: Auch der Anschlag auf Hitler, um den es in 'Walküre' geht, wurde zwei Mal verschoben. Und ging am Ende schief."

Besprochen werden das ehrgeizige "Deutschlandsaga"-Projekt der Berliner Schaubühne (mit sehr gemischten Gefühlen hat Eckhard Fuhr das erlebt), die Detmolder Uraufführung von Giselher Klebes satirischer Oper "Chlestakows Wiederkehr", Scarlett Johanssons Debüt als Sängerin "Anywhere I Lay My Head" und eine Ausstellung mit Oskar Kokoschkas Spätwerk in der Wiener Albertina.

NZZ, 14.05.2008

"Über Torten und Kuchen spürest du kaum einen Hauch." Prächtig gelangweilt hat sich Paul Jandl beim 9. Meraner Lyrikwettbewerb. "Meran, das ist zunehmend ein Gespräch über Bäume, über Lyrik gestritten wird hier jedenfalls nicht. Die Debatten, die die Dichter in den letzten Monaten da und dort über ihr Tun geführt haben, kommen hier ebenso wenig zur Sprache wie das poetologische Selbstverständnis der Juroren. Was bleibt, sind die freundliche Zustimmung zum Konventionellen und eine Unsicherheit gegenüber dem Andersartigen."

Weitere Artikel: Franz Haas meldet einen friedlichen Verlauf der Turiner Buchmesse, obwohl die Italiener sich nicht davon hatten abbringen lassen, Israel als Ehrengast einzuladen: "Kurz vor Beginn der Messe hatten der politisch kopfscheu gewordene Philosoph Gianni Vattimo und der unvermeidliche Tariq Ramadan in einem Seminar noch einmal zum Boykott aufgerufen, mit wenig Erfolg, trotz ein paar verbrannten israelischen Flaggen." Peter Hagmann hörte das Abschiedskonzert des Alban-Berg-Quartetts in Zürich ("Das war's. Wir verneigen uns vor einem Ensemble, ohne das die Geschichte des Streichquartetts nicht wäre, was sie ist.") Christoph Egger bereitet uns auf das heute beginnende Filmfestival von Cannes vor. Samuel Herzog schreibt zum Tod des Künstlers Robert Rauschenberg.

Besprochen werden Bücher, darunter Martin Gilberts bisher nur auf Englisch erschienenes Buch über "Churchill and the Jews" und Mariusz Szczygiels Reportagen aus Tschechien in dem Band "Gottland" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FR, 14.05.2008

Beim Theatertreffen ist er gerade als "Hamlet" zu bewundern, aber überhaupt ist Joachim Meyerhoff ein Theatergesamtkunstwerk, meint ein begeisterter Peter Michalzik, der dem Darsteller ein großes Porträt widmet: "Meyerhoffs Fähigkeit, den Menschen angenehm zu sein, ist so groß, dass ihn sogar die lieben, die seine Art Theater zu spielen verachten. Er ist ein Protagonist des neues Theaters, des Ungestümen, des Bedingungslosen und Krassen, aber ihn lieben auch die, die Einfühltheater und Schöne-Seelen-Schauspiel wollen. Wo Meyerhoff auftritt, ist das Theater da, und es ist unwiderstehlich. Ein anderer großer Schauspieler, Sepp Bierbichler, hat vor ein paar Jahren gesagt, wahrscheinlich müsse die Erneuerung des Theaters vom Schauspieler ausgehen. Er muss an Meyerhoff gedacht haben."

Weitere Artikel: Heute eröffnet das Festival in Cannes - Daniel Kothenschulte befasst sich in seinem Vorab-Bericht allerdings in erster Linie mit einem Online-Verräter, der jetzt allerlei Geheimnisse über den neuen "Indiana Jones"-Film ausgeplaudert hat. Ein sehr philosophisch gestimmtes Abschiedsporträt "eines der weltweit größten Mängelwesen", nämlich des Über-Torhüters Oliver Kahn, hat Christian Thomas verfasst. In einer Times Mager von Daland Segler geht es, zwanglos verbunden, um schlecht erkennbare Radwege und die Weltfremdheit von Feuilleton-Redakteuren. Auf der Medienseite gibt Bruno Ganz in einem langen Interview über seine Rolle in dem Fernseh-Familiendrama "Copacabana".

Besprochen wird eine 34-CD-Sammlung mit Tondokumenten von 1968, die Arno Widmann sehr empfiehlt: "Ich weiß noch, wie sehr mich das Schwäbische bei Max Horkheimer verblüffte, wie ich beim Hören von Bloch lernte, dass auch Propheten, die dem universalen Gott so nahe stehen wie niemand sonst, aus Ludwigshafen kommen können."

TAZ, 14.05.2008

Alexander Cammann liest sich durch die jüngsten Ausgaben von Merkur und Literaturen, die sich beide 1968 widmen. Klaus Englert besuchte die glanzvolle Ausstellung "Goya in Zeiten des Krieges" im Madrider Prado. Christina Nord stellt den Eröffnungsfilm der heute beginnenden 61. Filmfestspiele von Cannes vor: "Blindness", vom brasilianischen Regisseur Fernando Meirelles.

Und Tom.
Stichwörter: Prado, Eröffnungsfilm

SZ, 14.05.2008

Peter Laudenbach verabschiedet den "unauffälligsten deutschen Groß-Intendanten - und einen der erfolgreichsten", Bernd Wilms, der das Deutsche Theater in Berlin nach sieben Jahren verlässt: "Was ihm von Kritikern in den ersten Jahren öfter vorgeworfen wurde, dass sein Theater ein wenig kontur- und ziellos wirke, hat sich als Stärke herausgestellt: Wenige Theater und keines in Berlin zeigen so unterschiedliche, markante Handschriften. Das sorgt nicht, wie von ideologisch interessierten Wilms-Kritikern wie etwa dem früheren Berliner Kultursenator Flierl unterstellt, für einen Supermarkt der Beliebigkeit, sondern für erfreuliche Vielfalt."

Weitere Artikel: Tobias Kniebe wirft einen Blick auf das heute beginnende Festival von Cannes, wo unter anderem Wim Wenders' neuer Film "Palermo Shooting" mit Campino als existenziell getriebenem Modefotografen läuft. Stefan Koldehoff erzählt die wirre Geschichte von Hans Hoffmanns Zeichnung "Der Feldhase" von 1582, die jetzt möglicherweise durch eine Versteigerung an die Bremer Kunsthalle zurück gelangt. Gottfried Knapp bringt die Meldung vom Tod des Künstlers Robert Rauschenberg (ausführlicher Nachruf folgt). Alex Rühle hat sich das Video der französischen Band Justice angesehen, das wegen besonderer Brutalität ins Gespräch kam. Wolfgang Schreiber sah bei den Wiener Festwochen einen Teil des sperrig-gigantischen "Licht"-Zyklus von Karlheinz Stockhausen und zeigt sich fasziniert: "Die Bezauberung des Hörens und Sehens ist unteilbar." Oliver Herwig meditiert über die architektonische Mode der Begrünung von Dächern und Fassaden. Alexander Menden begutachtet die "hinreißend restaurierte" Kirche St. Martin-in-the-Fields am Londoner Trafalgar Square.

Besprochen werden Francesco Lucentes Film "Badland" und eine laut Gottfried Knapp mit erstklassigen Exponanten ausgestatette Ausstellung über den Burgunderherzog Karl den Kühnen in Bern. Auf der Literaturseite geht's unter anderem um Friederike Mayröckers Briefbuch "Paloma" und um die ersten Bände einer politischen Debattenreihe bei Wagenbach.

FAZ, 14.05.2008

Vierzig Jahre nach dem inmitten der Studentenunruhen abgebrochenen Festival ist in Cannes derzeit keinerlei politische Unruhe zu befürchten - nicht zuletzt deshalb, weil Cannes in jeder Hinsicht auf der Höhe der Zeit ist, wie Verena Lueken findet: "Natürlich ist Cannes weiterhin eine kommerzielle Veranstaltung, aber eben nicht nur. Wie sonst ließen sich die spröden Wettbewerbsbeiträge etwa der Dardenne-Brüder aus Belgien erklären, die in diesem Jahr schon zum wiederholten Mal an der Croisette zu Gast sind..., oder von Atom Egoyan, der 'Adoration' zeigt? Wie käme ein animierter Dokumentarfilm über den Libanesischen Bürgerkrieg ('Waltz with Bashir' von Ari Folman) ins Wettbewerbsprogramm, der neue Wim-Wenders-Film oder ein Viereinhalbstundenwerk über Che, auch wenn der Regisseur Steven Soderbergh heißt? Und wie 'La frontiere de l'aube' von Philippe Garrel, einem der Wortführer der Neuen Welle im französischen Kino, die Cannes damals überrollte?"

Weitere Artikel: In der Glosse fragt sich Mark Siemons, ob das Beben in China, wie es Tradition ist, als böses Omen begriffen oder diesmal rational als Naturkatastrophe behandelt und per Krisenmanagement angegangen wird. An Propaganda und Proteste rund um die Olympischen Spiele 1936 erinnert Ewald Grothe. Jürg Altwegg referiert die Thesen des Ex-Maoisten Morgan Sportes, der den intellektuellen Protagonisten der 68er "Gauche Proletarienne" wie Foucault und Glucksmann in einem Buch vorwirft, den Arbeiter Pierre Overney kaltblütig als Kanonenfutter in den Kampf geschickt zu haben, in dem sie sich die Finger nicht schmutzig machen wollten. In südosteuropäischen Zeitschriften liest Joseph Croitoru von Korruption in Bulgarien und Gewalt in Rumänien. Oliver Jungen hat den österreichischen Aktionskünstler Hermann Nitsch bei seinem rituell begangenen Pfingstfest besucht. Jordan Mejias informiert darüber, dass Philadelphia jetzt doch genug Geld zusammenbekommen hat, um Thomas Eakins' eng mit der Stadt verbundenes Gemälde "The Gross Clinic" in der Stadt behalten zu können.

Warum eine Ausstellung zu Leben und Werk des Venezianers Antonio Vivaldi jetzt ganz zu Recht in Turin ihren Ort hat, erklärt Dirk Schümer. Kersten Knipp porträtiert den marokkanisch-französischen Erfolgsschriftsteller Abdellah Taia. Mark Siemons weiß von schon stattfindenden und geplanten Kooperationen chinesischer mit deutschen Kunstmuseen. Gina Thomas stellt knapp die Kandidatinnen und den Kandidaten für den Turner-Preis vor. Freudig, nehmen wir an, wird vermeldet, dass es die Bibel und sämtliche päpstlichen Enzykliken jetzt auf der Website des Vatikan in lateinischer Sprache zu lesen gibt. Für die Medienseite hat sich Michael Hanfeld die über Pfingsten online gegangene ARD-Mediathek angesehen und muss feststellen: "Worüber die Politiker noch reden - Sendungsbezug hin, 'elektronische Presse' her - es ist alles längst da, und zwar nicht erst mit dem Start der 'Testversion' der ARD zu Pfingsten."

Auf der DVD-Seite werden unter anderem Editionen von Ariane Mnouchkines Klassiker "Moliere", Sergio Sollimas Italo-Western-Thriller "Der Gehetzte der Sierra Madre" und der Fernsehserie "Robbi, Tobbi und das Fliewatüüt" empfohlen.

Besprochen werden die Aufführung von Karlheinz Stockhausens "Michaels Reise um die Erde" (der zweite Akt des "Donnerstag" seines "Licht"-Zyklus) in Wien, Elmar Goerdens Bochumer Inszenierungen der "Geschichten aus dem Wiener Wald", Gus van Sants Film "Paranoid Park" und Bücher, darunter Rohan Kriwaczeks "Unvollständige Geschichte der Begräbnis-Violine" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).