Heute in den Feuilletons

Auf Nostalgie getrimmte Spezialeffekt-Tüte

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
19.05.2008. Nicht alle haben es geschafft: Die Kritiker mussten schnell schreiben, um Indiana Jones IV in die heutigen Zeitungen zu bringen. Die meisten maulen: Man rettet sich doch nicht in einem Kühlschrank vor einem Atomtest! In der FAZ schimpft Richard Wagner über den heutigen Zustand der Literaturkritik, die über den heutigen Zustand der Literatur schimpft. Die Blogs schimpfen über Medien und über Blogs, die über Medien schimpfen.

Welt, 19.05.2008

Der neue "Indiana Jones" hat Hanns-Georg Rodek nicht gerade vom Kinosessel gerissen: "Diese auf Nostalgie getrimmte Spezialeffekt-Tüte wird, wenn nicht alles täuscht, der letzte Blockbuster des Vaters aller Blockbuster sein." Die anderen Wettbewerbsbeiträge von Woody Allen und Andreas Dresen hinterlassen bei Rodek den Verdacht, dass heitere Filme in Cannes nicht ernst genommen werden.

Weiteres: Uta Baier besucht das Gerhard-Richter-Archiv in Dresden. Paul Fückinger meldet, dass in Polen zwar der Buchmarkt floriert, aber nicht unbedingt die Warschauer Buchmesse, die offenbar recht schlecht besucht war. Manuel Brug stellt verwundert fest, wie unerschüttert sich Daniel Barenboim bei der Präsentation des neuen Spielplans am Freitagabend in Berlin gezeigt hat: "Mögen auch neben ihm die Feinde im Staub liegen, für den vom Senat angebeteten Weltstar leuchtet die Berliner Opernsonne nach wie vor strahlend hell." Zu lesen ist auch Wolf Lepenies' Rede zur Eröffnung der Ausstellung "Verstummte Stimmen" über die Vertreibung jüdischer Künstler durch die Nazis.

Besprochen werden Jan Bosses Inszenierung der "Anna Karenina" mit einem "luxuriosen Ensemble" bei den Ruhrfestspielen und Andreas Kosserts Studie zur Geschichte der Vertriebenen in Deutschland "Kalte Heimat".

NZZ, 19.05.2008

Der kolumbianische Journalist Hector Abad Faciolince erzählt, wie es sich als Kolumbianer in einer globalisierten Welt lebt - nicht so gut, aber man kann andere glücklich machen: "So viele Kolumbianer beantragen ein Visum für die Vereinigten Staaten, dass die bloße Bearbeitung dieser Anträge zu einem Geschäft geworden ist, das einen guten Teil der Unterhaltskosten der US-amerikanischen Botschaft in Bogota abdeckt. Täglich werden dort an die 1500 Personen abgefertigt, die zuvor einen Termin beantragt und dafür eine Bearbeitungsgebühr (die nicht zurückerstattet wird) in Höhe von 156 Dollar bezahlt haben. Das heißt, Tag für Tag übergeben kolumbianische Bürger den USA 234.000 Dollar - ergo 4,5 Millionen Dollar im Monat beziehungsweise über 50 Millionen im Jahr -, nur um einen Termin zu bekommen, an dem sie ein Visum beantragen können (was noch lange nicht heißt, dass diese Leute auch ein Visum erhalten). Ein zusätzlicher Reiz des Geschäftes besteht darin, dass es sich hierbei zumeist um großzügige Vorauszahlungen handelt, schließlich werden die Termine Monate, ja bis zu einem Jahr im Voraus vergeben."

Weitere Artikel: Christoph Eggers schreibt aus Cannes. Für einen "Schauplatz Berlin" besichtigt Sieglinde Geisel die unterirdischen Bunker und die Albert Speer-Ausstellung. Georg-Friedrich Kühn war dabei, als Daniel Barenboim auf einer Pressekonferenz den Bruch mit dem Intendanten Peter Mussbach als "nicht unvermeidbar" bezeichnete.

Besprochen werden zwei Ausstellungen über James-Bond-Autor Ian Fleming in London, ein Chopin-Konzert des Pianisten Yundi Li in Zürich und eine Aufführung von Rossinis Oper "Comte Ory" in Stuttgart.

FR, 19.05.2008

Der schönste Liebesfilm in Cannes kam bis jetzt von Woody Allen, schreibt ein rundum glücklicher Daniel Kothenschulte: "Mit 'Jules und Jim' gibt er sich nicht zufrieden, eine Menage a quatre sollte es schon sein. Die schönste Liebesszene aber hat nur drei Mitwirkende: Scarlett, Penelope und eine Dunkelkammer. Alles an diesem Film ist vorhersehbar, aber was ist dagegen zu sagen? Es ist die Vorhersehbarkeit eines Weihnachtsfestes, an dem Santa Claus ausnahmsweise den gesamten Wunschzettel gelesen hat." Sehr gut aufgenommen, lesen wir, wurde auch Andreas Dresens Liebesfilm "Wolke Neun", mit Ursula, Horst und Steffi.

Weitere Artikel: Amüsiert hat sich Daniel Kothenschulte außerdem bei der Premiere und anschließenden Pressekonferenz von Spielbergs "Indiana Jones IV". 60 Jahre nach Kriegsende hat die Göttinger Universitätsbibliothek "beträchtliche Bestände sogenannter 'Beuteliteratur'" in ihrem Haus entdeckt, berichtet Heidi Niemann. Die Universitätsleitung versprach umgehend "eine Anschubfinanzierung für die wissenschaftliche Aufarbeitung". Jürgen Otten berichtet von der Pressekonferenz Daniel Barenboims zur Nichtkrise der Berliner Staatsoper.

Besprochen werden Frank Castorfs Inszenierung von Wolfgang Rihms Oper "Jakob Lenz" in Wien, Jan Bosses Inszenierung der "Anna Karenina" mit Fritzi Haberlandt bei den Ruhrfestspiele (und demnächst im Berliner Maxim-Gorki-Theater) und Hans-Ulrich Treichels Roman "Anatolin" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Aus den Blogs, 19.05.2008

Es gibt jetzt auch ein tazblog. Hans Pfitzinger widmet sich dieser Zeitung mit einer Hingabe, die man ihr zuletzt wahrscheinlich in den Achtzigern angedeihen ließ. Über die Kulturseiten der taz steht da zu lesen: "Die Kulturseiten der taz werden nicht für den Leser gemacht, sondern für die Feuilletonredakteure der FAZ, der Süddeutschen Zeitung und der Berliner Blätter. Die Musikredakteure schreiben für andere Musikredakteure, oder für die Minderheit, die sich mit der gleichen Hingabe dem winzigen Ausschnitt aus der Vielfalt des Popgeschehens widmen wie die Autoren. "

Rainald Goetz beklagt dagegen die Boulevardisierung des Kulturjournalismus, besonders auch in Gestalt Frank Schirrmachers: "Aus den spießigsten und vernageltsten Hochkulturallüren, noch 94 grölte Schirrmacher das Deppenprinzip Handwerk seitenweise in seine Tiefdruckbeilage, ist eine genauso abgeschaute, unverstandene, uneigenständige Affirmation der Affirmationen von Populärkultur, Verkaufe, Charts, Quote, Bestsellertum geworden. Dass er sich heute bei einem Volltrottel wie Tom Cruise genauso anbiedert, wie früher bei Fest und Reich-Ranicki, ist Ausdruck von Verfall und zugleich der Konstante dieser Vita: ANGST, da nicht dabei zu sein, wo Macht zu spüren ist."

Don Alphonso fallen in seinem Italien-Urlaub ein paar selbstkritische Gedanken über die wenig geerdete Bloggerei ein: "Tatsächlich fällt mir kaum ein Blog ein, in dem 'Draußen' sowas wie ein bestimmendes Thema ist. Eine ganze Reihe 'führender' deutscher Blogs bezieht seinen Inhalt weitgehend sekundär, schreibt Zeitungen ab und sucht irgendwelchen Entertainmentmüll im Internet. Oder beschwert sich über Medien, was genauso gut und populistisch ist, wie über den Benzinpreis zu jammern."

TAZ, 19.05.2008

Katrin Bettina Müller hat beim diesjährigen Theatertreffen, das am Wochenende in Berlin zu Ende ging, nur zehn Minuten geschlafen. Eine respektable Quote, wie sie meint. "Am Ende kann man sagen, das war ein guter Jahrgang des deutschsprachigen Stadttheaters, wenn auch mehr unterhaltsam als kontrovers. Die Klage darüber, dass alles ein wenig zu sicher und gut geölt schien und das Sperrige oder Überfordernde fehlte, kann sich eben auch nur leisten, wer von einem System wie dem deutschsprachigen Theater verwöhnt ist. So litt das Festival eigentlich nur unter einem Phantomschmerz, dem Bewusstsein der Grenzen der eigenen Gattung. Denn natürlich umfasst die Welt des Theaters mehr als das, die Szene jenseits der städtischen Institutionen hat sich erweitert und internationalisiert."

Weiteres: Cristina Nord sieht in Cannes Matteo Garrones Film "Gomorra", der Szenen aus Roberto Savianos gleichnamiger Großreportage über die Camorra von Neapel umsetzt. In der zweiten taz unterhält sich Hanna Gersmann mit der Krimiautorin Leena Lehtolainen, Schöpferin der ersten literarischen Kommissarin Finnlands, über die auch im hohen Norden noch nicht ganz vollendete Gleichberechtigung. "Locker und luftig" findet Lana Stille das neue junge Parteiblatt der Linken, das sich tatsächlich prager frühling nennt (und nicht etwa "russische panzer").

Besprochen werden die Ausstellung "Here We Dance" über die Beziehung zwischen dem Körper und dem Staat in der Londoner Tate Modern.

Und Tom.

SZ, 19.05.2008

Tobias Kniebe hat ihn also gesehen, in Cannes, "Indiana Jones IV", und er ist nicht ganz so mitgerissen, wie er gerne wäre. Zum Beispiel, wie sich Indy im Jahr 1957 aus einer Atomteststadt in Nevada rettet, zehn Sekunden vor dem Test: "Was Indy in solchen Situationen einfiel, ließ einem früher vor Freude manchmal das Herz hüpfen. Jetzt steigt er einfach in einen Kühlschrank, mit dem er dann kilometerweit durch die Luft geschleudert wird, klettert unverletzt heraus und bestaunt aus nächster Nähe einen Atompilz. Tja."

Weitere Artikel: Auch Susan Vahabzadeh berichtet aus Cannes, wo sie die neuen Filme von Woody Allen, Andreas Dresen und Arnaud Desplechin gesehen hat. Franziska Augstein erinnert im Aufmacher an den "Ulmer Einsatzgruppenprozess", bei dem vor genau fünfzig Jahren erstmals die Ermordung der Juden im Mittelpunkt eines großen Prozesses stand. Wolfgang Schreiber unterhält sich mit Hans Werner Henze, dessen "Bassariden" von 1966 an der Bayerischen Staatsoper heute Premiere haben, über Luigi Nono ("das lag an Gigi, das hat mir sogar sehr weh getan", sagt er über den Bruch mit dem Kollegen), Mahler und das Komponieren von Spätwerken. Johan Schloemann hat in den online auf oldbaileyonline.org publizierten Gerichtsakten nachgesehen: 53 Todesstrafen wurden in London von 1674 bis 1913 von den Jurys für "Sodomie" verhängt. Christine Dössel bringt einen ausführlichen Bericht von den Ruhrfestspielen. Vasco Boenisch bespricht Gabriele Kögls neues Stück "Fressen, Kaufen, Gassi Gehen", das ebenfalls in Recklinghausen Premiere hatte. Fritz Göttler hat Entertainment Weekly gelesen, wo Oliver Stone einiges über seinen nächsten Film, ein Biopic über George W. Bush, verraten hat, der noch vor dem Ende der Amtszeit Bushs herauskommen soll.

Auf der Medienseite porträtiert Caspar Busse den unauffälligen Medienmanager Bernhard Burgener, der zusammen mit einem gewissen Leo Kirch ein neues Medien-Imperium schmiedet.

Besprochen werden außerdem die große Lucian-Freud-Retrospektive in Den Haag, neue DVDs und Bücher, darunter zwei Studien zum Sport in der Nazizeit.

FAZ, 19.05.2008

Der Schriftsteller Richard Wagner beklagt sehr beredt, dass der Kritik von heute jene Maßstäbe abhanden gekommen sind, die er selbst offenbar kennt, aber eher vage nur solche des Stils nennt: "Eine lethargische Gemeinschaft, die mit Hysterien wie mit kollektiven Elektroschocks traktiert wird, um sie zum Leben zu erwecken, entwickelt eine Grundhaltung der Simulation, die sich die Form der moralischen Empörung gibt. Was ist die neuerlich von der Kritik eingeforderte Realitätsverpflichtung in einer Gesellschaft wert, die schon seit Jahrzehnten unter einem Problem zu leiden angibt, das sie grosso modo 'Konsumzwang' nennt? ... Wer zwingt hier wen? Ob die Dame Roche stinken möchte oder nicht, sollte das nicht privat sein und auch privat bleiben? ... Wer keine Freude mehr an der Erkenntnis hat, dem schrumpft das Interesse zur bloßen Neugier. Wo diese aber zur Geschäftsgrundlage wird, kommt die Verwertung der Entwertung gleich. Der Spaß mag garantiert sein und das politisch Korrekte ebenso wie das politisch nicht Korrekte gesichert, es sind aber auch die stilistischen Grenzen gesetzt, und stilistische Grenzen sind stets auch Grenzen des Horizonts."

Weitere Artikel: Eine ganze Reihe sehr ansprechender Filme, von Woody Allen bis Jia Zhang-ke, hat Verena Lueken am Wochenende in Cannes gesehen. Wie es dazu kam, dass in Dänemark nun religiöse Kleidungsstücke und Symbole aller Art für Richter strengstens verboten sind, weiß Martin Otto. In der Glosse befasst sich Oliver Jungen mit dem "Synonymsuchmaschinenmarkt". Ingeborg Harms war auf einer Wiener Tagung zum Thema "Vaterlosigkeit", deren Vorträge sie nun mit Sigmund Freud und Rene Girard zu einem Deutungsversuch des "Gottvaters" (Elfriede Jelinek) von Amstetten kombiniert. Martin Wilkening war dabei, als Daniel Barenboim auf einer Pressekonferenz nach der Suspendierung ihres Intendanten Peter Mussbach keine künstlerische Krise an der Berliner Staatsoper unter den Linden erkennen konnte. Wie der Künstler Massimo Furlan als Hans Krankl ganz im Alleingang und sogar ohne Ball noch einmal Deutschland besiegte, hat Jochen Hieber mit eigenen Augen gesehen. In Moskau soll das Narkomfin-Haus (Bild), Musterbeispiel avantgardistischer Architektur, informiert Kerstin Holm, saniert werden. Ulrich Olshausen berichtet vom Mai-Jazz-Festival in Stavanger. Renate Schostack schreibt zum Tod des Kulturpolitikers Jürgen Kolbe. Auf der Medienseite gratuliert Michael Hanfeld dem "Tatort" zum Siebenhundertsten.

Besprochen werden die konzertante deutsche Erstaufführung von Matthias Pintschers Rimbaud-Musiktheaterstück "L'espace dernier", Jan Bosses "Anna Karenina"-Inszenierung bei den Ruhrfestspielen, und Bücher, darunter Lea Singers Roman "Mandelkern" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).