Heute in den Feuilletons

Riesige Filtztiere behindern das Durchkommen

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
04.06.2008. Die Welt hat in einer Ausstellung über ein Massaker vor 7.100 Jahren festgestellt: Die edlen Wilden waren zwar wild, aber nicht edel. In der FAZ erinnert sich Marcel Reich-Reinicki an die drückende Atmosphäre in der Bundesrepublik vor 50 Jahren. Die FR meint: Kunstpreise sinken nicht, solange die Globalisierung steigt. Die Berliner Zeitung klagt über Schwabenhass. In der taz stellt Bahman Nirumand den iranischen Philosophen Abdolkarim Soroush vor, der die Autorschaft des Korans in Frage stellt. 

FR, 04.06.2008

Zum Start der Art Basel kann Elke Buhr keinerlei Anzeichen erkennen, dass die Preise auf dem Kunstmarkt demnächst abstürzen könnten: "Denn der Wachstum auf dem Kunstmarkt beruht eben nicht nur auf heißer Luft, sondern auf einer stabilen Verbreiterung der Nachfrage: Die Zahl der ernst zu nehmenden Kunstsammler hat sich in den letzten zehn Jahren vervielfacht. Die neuen Globalisierungs-Gewinnler von Moskau über Shanghai bis Mumbay wollen ihre frisch verdienten Millionen anlegen, genauso wie die jungen Investment-Banker in London oder New York, die deutlich mehr Millionen im Jahr loswerden müssen als Josef Ackermann. Für diese Klientel ist die Kunst als Anlageform in den letzten Jahren unschlagbar attraktiv geworden: als exklusivster Ausdruck von Modernität, Stil und Risikobereitschaft."

Weiteres: Christian Thomas sinniert über die Koinzidenz, dass ausgerechnet die Symbole der ungeliebten architektonischen Moderne die höchste Banknote zieren, den 500-Euro-Schein. Julia Kospach ist eigens ins niederösterreichische Deutsch Brodersdorf gefahren, wo die als Sportrasen sehr geeignete Wiesenrispe gezüchtet wird. In Times Mager kommt Hans-Jürgen Linke ins Schwitzen angesichts all der Themen, die - von den Vorwahlen bis zur Milchkrise - vor dem EM-Start noch journalistisch bewältigt werden müssen. Christian Schlüter schreibt zum Tod des Rock'n'Roll-Musikers Bo Diddley. Besprochen wird Jörn Arneckes und Falk Richters Musiktheaterstück "Unter Eis" in der Oper Frankfurt.

Harry Nutt vernimmt auf der Medienseite hinter Friedbert Pflügers Angriff auf Anne Will ein "stärker werdendes Hintergrundrauschen im Machtgebälk der ARD".

Berliner Zeitung, 04.06.2008

Eine Welle des Schwabenhasses überflutet Berlin, berichtet Jens Balzer: "In der 'autonomen' Linken wird der Antikapitalismus inzwischen als Antischwabismus buchstabiert; mit dieser Umdeutung eines eigentlich sozialen Anliegens zu einer ethnischen Frage offenbaren sich die 'Autonomen' einmal mehr als Gedankengeschwister des Neofaschismus."

Auf der Medienseite bezieht Willi Germund einen dritten Standpunkt in der Burma-Debatte zwischen Matthias Matussek und Alice Schwarzer: "Keine der beiden sich aufplusternden Birma- Koryphäen erwähnt, dass die im Hausarrest eingesperrte Oppositionspolitikerin und Friedensnobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi nicht nur zu Sanktionen gegen die Generäle aufgerufen hat. Sie verlangt auch einen Tourismusboykott, weil die Militärs und ihre Privatwirtschaftskumpel kräftig Kasse mit dem Fremdenverkehr machen."

Tagesspiegel, 04.06.2008

Der Publizist Friedrich Dieckmann verteidigt den von Richard Paulick kurz nach dem Krieg neu gestalteteten Zuschauersaal der Berliner Staatsoper, der möglicherweise zugunsten eines modernern Saals abgerissen werden soll: "Man stelle sich vor, dass in Wien die Besucher der preiswerten hinteren und oberen Staatsopernplätze bei Gelegenheit einer bautechnischen Sanierung darauf dringen würden, diesen gleichzeitig mit der Berliner Bühne neu errichteten Saal zu demolieren, um einen 'modernen' Saal mit den Sichtverhältnissen eines Großkinos zu gewinnen."

NZZ, 04.06.2008

Lukas Wick berichtet von der heftigen Debatte in Frankreich (mehr hier und hier), die der Mediävist Sylvain Gouguenheim mit seinem Buch "Aristote au Mont-Saint-Michel - Les racines grecques de l'Europe chretienne" ausgelöst hat. "In dem Buch äußert der bis anhin unbescholtene Professor der Universität Lyon Zweifel an der Bedeutung der arabisch-islamischen Zivilisation für die Entwicklung der europäischen Kultur. Die Vorstellung eines in Ignoranz versunkenen mittelalterlichen Europa, das nur dank der arabisch vermittelten Wiederentdeckung der Antike in Schwung gekommen sei, sei vor allem ein Mythos. Einen Bruch mit der griechischen Antike habe es nämlich im ganzen Mittelalter nie gegeben, auch wenn dies Historiker verschiedentlich behauptet hätten."

Philipp Meier führt durch die Art Basel, die ihm - vor allem angesichts von Thomas Hirschhorns Arbeit "Hotel Democracy" - wie ein "elitäres Luxushotel" vorkam. Auch eine Tendenz zu markanten Künstlerauftritten macht er aus: "Vermehrt zu sehen ist Skulptur, dies zulasten der weniger zahlreich gewordenen Fotokunst. Überall anzutreffen sind Plastiken von Tony Cragg, dessen Werk damit leider unter den Verdacht des allzu Dekorativen gerät. Bei Hauser & Wirth verstellt eine sperrige Riesenplastik von Paul McCarthy die Sicht, bei Ropac stehen drei übermannshohe Lotusblumen von Not Vital bescheiden in einer Ecke. Jamileh Weber gedenkt mit einem regelrechten Skulpturenpark von Metallarbeiten des erst kürzlich verstorbenen Robert Rauschenberg. Cosima von Bonins riesige Filtztiere behindern das Durchkommen am Stand der Galerie Petzel."

Weiteres: Samuel Herzog hat sich die Young Art Fair genauer angesehen, Roman Hollenstein wirft einen prüfenden Blick auf die Design Miami Basel. Manfred Papst schreibt zum Tod des Rock'n'Roll-Pioniers Bo Diddley. Besprochen werden Karl Christs Biografie des Historiker und Dichters Alexander von Stauffenberg sowie Kinderbücher.

TAZ, 04.06.2008

Bahman Nirumand stellt den iranischen Religionsphilosophen Abdolkarim Soroush vor, der konservative Interpreten der Schrift mit seiner These provoziert, nicht Gott, sondern der Prophet Mohammed sei der Autor des Korans, der mithin das historische Bewusstsein und die menschlichen Unzulänglichkeiten seines Autors widerspiegle. "Würde man Soroush folgen, stünde die gesamte islamische Gesetzgebung, die Scharia, von den Benachteiligungen der Frauen bis zu den Strafmaßnahmen auf dem Prüfstand und müsste an die Moderne angepasst werden. Eine derartige Historisierung der Offenbarung und Entheiligung des Korans würden die größte Hürde, die den Weg zu Reformen im Islam versperrt, beseitigen und eine Modernisierung erlauben, ohne den Kern und die geistig-metaphysische Substanz des Glaubens anzutasten."

Weiteres: Didi Neidhardt bereitet auf die Deutschlandtournee der "Mutter aller Schminkebands" vor: Kiss, die es bereits seit 35 Jahren gibt. Julian Weber würdigt im Nachruf den afroamerikanischen Rockgitarristen Bo Diddley.

Und hier Tom.

Welt, 04.06.2008

Fasziniert berichtet Dankwart Guratzsch von einer Ausstellung im Neanderthalmuseum Mettmann, die aus Knochenfunden ein Massaker in Talheim rekonstruiert. Die Angreifer wollten Frauen rauben - und wieder einmal wird der Mythos vom edlen Wilden verabschiedet: "34 Personen - neun Männer, sieben Frauen und 16 Kinder aller Altersstufen - waren regelrecht hingeschlachtet worden. Im Neanderthalmuseum liegen ihre Knochen, Gebisse und eingeschlagenen Schädel gesäubert und angestrahlt wie Reliquien in Glasvitrinen und lassen den Betrachter erschauern: Was sich in Talheim vor exakt 7100 Jahren abgespielt hat, war - modern ausgedrückt - ein Massaker. Und die Brutalität, die dabei waltete, steht Menschheitsverbrechen von heute kaum nach."

Weitere Artikel: Hanns-Georg Rodek stellt den Entwurf für ein neues Filmförderungsgesetz vor. Michael Stürmer bedauert die Lage der Milchbauern. Manuel Brug berichtet über den Wechsel des gefürchteten Netrebko-Agenten Jeffrey Vanderveen zur Universal und spekuliert über Folgen für den E-Musikmarkt. Uwe Schmitt fragt sich, wie die Yale-Juristin Hillary Clinton dazu kommt, den Harvard-Juristen Barack Obama als "elitär" zu kritisieren. Michael Pilz schreibt zum Tod von Bo Diddley.

Besprochen werden der Film "Verdammt,wir leben noch" über den Popstar Falco, ein Buch über die Beziehung zwischen Alfred Flechtheim und George Grosz (mehr hier) und Händels "Belshazzar" an der Staatsoper Berlin.

SZ, 04.06.2008

Das Jüdische Filmfest in Berlin wurde mit einer Fernsehserie eröffnet, die in Israel ein Hit war, berichtet Anna Kemper. Der Held in Sayed Kashuas "Awoda Arawit" ist ein arabischer Israeli: "Amjad ist der Held der israelischen TV-Sitcom 'Awoda Arawit', oder besser ihr Anti-Held, denn er könnte glatt einem Woody-Allen-Film entnommen sein: Der Journalist ist voller Neurosen, er will Großes, scheitert schon im Kleinen und wäre ohne seine Frau völlig aufgeschmissen. Amjad ist Israeli, Araber, Moslem, und da das alles nicht gut zusammenpasst, weiß er meistens gar nicht, wer oder was er eigentlich ist. Palästinensischer Israeli? Israelischer Araber? Muslimischer Israeli? Sein Schöpfer hat diese Frage der Identität längst für sich geklärt: 'Ich bin einfach nur ein ganz normaler Mistkerl.'"

Weitere Artikel: Cord Riechelmann erklärt, welch besonderer Saft Milch ist. Zig. widmet sich dem Aroma von grünem Tee, mit dem die Amerikaner in China Hühnerfüße süßsauer verdrängen. Stefan Koldehoff stellt den neuen Generaldirektor der Bayerischen Staatsgemäldesammlungen vor, Klaus Schrenk, bisher Leiter der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe. Christian Jostmann besuchte eine Tagung über den vor 800 Jahren wegen seiner Heiratspolitik ermordeten Philipp von Schwaben. Volker Breidecker erzählt von 1968 und der Musik beim Festival auf Burg Waldeck und den Essener Songtagen.

Auf der Medienseite meint Stefan Klein über Alice Schwarzers Burma-Text: "grober Unfug".

Besprochen werden Thomas Roths Film "Falco - Verdammt, wir leben noch!", Günter Krämers Inszenierung von Gian Francesco de Majos Oper "Alessandro nell'Indie" in Mannheim, eine Ausstellung mit "Entarteter Kunst" aus den Beständen, die Händler für Goebbels im Ausland verkauften, im Kulturhistorischen Museum und in der Kunsthalle Rostock, die Uraufführung von Soeren Voimas "Eos" am Schauspiel Stuttgart, eine Klanginstallation von David Byrne in New York und Bücher, darunter Sonia Simmenauers Buch über das Leben mit einem Streichquartett "Muss es sein?" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FAZ, 04.06.2008

Vor fünfzig Jahren kam Marcel Reich-Ranicki in die Bundesrepublik. Aus diesem Anlass unterhält sich Frank Schirrmacher mit ihm, nicht nur, aber vor allem über diese Jahre: "Meine Frau und ich haben jedenfalls ziemlich deutlich gesehen, wie die Atmosphäre ausschaute in diesem Land. Wir waren hier in Frankfurt von Kollegen zum Abendessen eingeladen und Ähnliches. Es war alles ganz angenehm bis gegen elf Uhr; da änderte sich die Stimmung. Man fing von der Vergangenheit an, von der Ost- und Westfront. Die haben draufloserzählt und erinnerten sich plötzlich daran, dass wir da waren, und mit Rücksicht auf uns beherrschten sie sich und erzählten nicht weiter."

Weitere Artikel: Hubertus Butin hat in einer Pariser Galerie ein Bild Gerhard Richters entdeckt, das - basierend auf einer Fotografie aus dem Spiegel - den 11. September thematisiert. Elise Cannuel beschreibt schwierige Debatten über das Thema Sklavenhandel in Nantes und ganz Frankreich. Katja Gelinsky porträtiert Benjamin Todd Jealous, den neuen, erst fünfunddreißig Jahre alten Präsidenten der Bürgerrechtsorganisation "National Association for the Advancement of Colored People" (NAACP). Der Berliner Oppositionspolitiker Friedbert Pflüger, der die Absetzung (sic!) von Anne Wills Talkshow fordert, wird von Frank Schirrmacher aufs Korn genommen. Der Mediävist Peter Wapnewski fordert in Sachen Bayreuth: "Das ganze uns werte Festspiel muss einer kritischen Totalrevision ausgeliefert werden" - was jetzt aber auch wieder radikaler klingt, als er es der weiteren Erläuterung nach meint. In der Glosse verabschiedet sich Andreas Rossmann von der Essener "Baedeker"-Buchhandlung, die jetzt zur "Thalia"-Kette gehört. Beim Blick in französische Zeitschriften stellt Jürg Altwegg fest, dass nach wie vor inspiriert über den Mai 1968 debattiert wird. Timo John hat sich das neue Gebäude der Landesbank Baden-Württemberg in Karlsruhe angesehen. Edo Reents schreibt den Nachruf auf den im Alter von neunundsiebzig Jahren verstorbenen Rockmusiker Bo Diddley.

Besprochen werden Christof Nels Inszenierung von Händels Oratorium "Belshazzar" an der Berliner Lindenoper ("grobes Mittelmaß" attestiert Julia Spinola, auch die musikalische Ausführung betreffend), ein Konzert von Bob Dylan in Odense, das - wie Heinrich Detering berichtet - zur Empörung weiter Teile von Publikum und Kritik mal wieder nur "funkelnd intelligente Songs für Erwachsene" bot, die Ausstellung "Die Mörder sind unter uns - der Ulmer Einsatzgruppenprozess 1958" in Ulm und Bücher, darunter James Canons Roman "Der Tag, an dem die Männer verschwanden" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).