Heute in den Feuilletons

Herz und Stimme zittern mit

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
07.06.2008. In der NZZ findet der in Peking bauende Architekt Jacques Herzog, dass man China die Demokratie nicht aufzwingen dürfe. In der FR will der Schriftsteller Ma Jian trotzdem nicht das Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens vergessen. In der Welt erzählt Ruth Westheimer, wie sie Scharfschützin der Haganah wurde. Die SZ erklärt, wie man aufmerksamkeitsökonomisch den großen Reibach macht. Die taz beklagt die Metaphernautomatisierung Walter Benjamins. Und in der FAZ porträtiert Sarah Khan einen kommenden Fußballstar.

FR, 07.06.2008

Der in China verbotene Schriftsteller Ma Jian findet es ganz verkehrt, angesichts der Erdbebenkatastrophe nicht an das Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens zu erinnern. Vielmehr mache die Reaktion darauf die Notwendigkeit des Trauerns erst recht deutlich: "Die Regierung muss die Wahrheit über die tragischen Ereignisse enthüllen und sich bei den Opfern und ihren Familien entschuldigen; sie muss die etwa hundert Menschen, die wegen ihrer Verbindung zu der Demokratiebewegung noch immer im Gefängnis sitzen, freilassen, genauso wie Zehntausende anderer politischer Gefangene, die ihre Tage in Gefängnissen und Arbeitslagern fristen; und sie muss demokratische Reformen einleiten. Dem chinesischen Volk wurde durch das Erdbeben klar, dass Menschenleben unersetzlich sind und dass der Toten gedacht werden muss. Diese Einsicht zeugt von einer entscheidenden Veränderung in der politischen und moralischen Landschaft der Nation."

Weitere Artikel: Marcia Pally weiß, warum Hillary Clinton gescheitert ist: "Sie musste ... als Mann antreten, allerdings als ein Mann ohne Charisma gegen einen Mann, der charismatischer kaum vorstellbar ist." Elke Buhr war beim Spatenstich zum Baubeginn für die temporäre Berliner Kunsthalle auf dem Schlossplatz.

Besprochen werden Klaus Schumachers "Was ihr wollt"-Inszenierung am Hamburger Schauspielhaus, Christof Nels Inszenierung von Händels dramatischem Oratorium "Belsazzhar" an der Berliner Lindenoper, die Forsythe-Choreografie "Impressing the Czar" in der Version des Königlichen Balletts von Flandern, Christoph Schaub und Michael Schindhelms Olympiastadion-Dokumentarfilm "Bird's Nest", das neue N.E.R.D.-Album "Seeing Sounds".

NZZ, 07.06.2008

In der Beilage Literatur und Kunst befragt Roman Hollenstein ausführlich den Architekten Jacques Herzog über sein Pekinger Olympiastadion und das Engagement von Architekten in China: "Es ist nicht zu leugnen, dass China seit 5000 Jahren eine Herrschaft kennt, die zumindest zeitweise grausam und kaum je demokratisch war und auch heute noch die Menschenrechte missachtet. Das können wir aus unserer schweizerisch-basisdemokratischen Sicht nicht verstehen und auch nicht akzeptieren. Wir sollten aber nicht vergessen, dass es auch in Zentraleuropa bis vor 60 Jahren diktatorisch regierte Länder gab. Anders ausgedrückt: Die Demokratie, wie wir sie verstehen, ist ein rares Gut, zu dem man Sorge tragen muss und das nur in einem langjährigen Prozess entstehen kann. Man kann anderen Ländern Demokratie nicht aufzwingen, schon gar nicht einem so riesigen Land und einer so alten, eigenständigen Kultur wie China."

Außerdem stellt der Kunsthistoriker Jürgen Müller Hans Sebald Behams 'Jungbrunnen' von 1536 vor.Hoo Nam Seelmann überlegt, warum sich in der koreanischen Kultur keine Tradition des Dramatischen entwickeln konnte. Dirk Pilz zeigt, wie unterhaltsam jüngere Regisseure den "Faust" inszenieren. Michael Ostheimer sieht sich an, wie sich die deutsche Literatur nach Ostasien verlegt.

Im Feuilleton fragt Paul Jandl zum Start der Fußball-EM, ob "das Turnier je ein melancholischeres Austragungsland gesehen" als Österreich, das "wie ein Schlafwandler dem Lichtschalter" der EM entgegengetaumelt sei: "Das Misstrauen der EM gegenüber ist auch ein Misstrauen gegenüber der eigenen Mannschaft. Denn wenn man draußen ist, kann's langweilig werden." Joachim Güntner stellt Gesine Schwan vor, die er für eine Präsidentschaftskandidatin erstaunlich katholisch findet: "Ihren Glauben vertritt sie nicht missionarisch, aber überzeugt. Er bestimmt ihre Kritik an den sogenannten Neoliberalen, denen sie vorhält, 'marktradikal' den 'Konkurrenzgedanken anzubeten', was mit der 'Gotteskindschaft' der Menschen nicht vereinbar sei." Andreas Breitenstein berichtet von einem "klugen" Vortrag Dan Diners über die Wiederkehr alter Machtkonstellationen. Besprochen wird die Ausstellung "Shifting Identities" im Kunsthaus Zürich.

Welt, 07.06.2008

Die achtzigjährige Ruth Westheimer hat als Dr. Ruth den Amerikanern die Sache mit dem Sex erklärt, nun klärt sie Hannes Stein in der Literarischen Welt über ihre Kindheit in Frankfurt und die Zeit in der jüdischen Untergrundarmee Haganah auf. "Es war im Unabhängigkeitskrieg, 1948. Wieso ich Scharfschützin geworden bin, weiß ich nicht. Aber ich konnte ein Sten-Gun mit geschlossenen Augen zusammensetzen, und ich könnte immer noch Handgranaten schmeißen, wenn es nötig wäre. Ich war nie in einem Kampf dabei. Uns, die Mädels, hat man benutzt, um auf den Dächern von Jerusalem aufzupassen, während die Männer unten die Autos nach Waffen durchsucht haben. Am 4. Juni, also genau an meinem 20. Geburtstag, erwischte mich ein Schrappnell aus Jordanien. Es ist mir durch beide Füße gefahren. Ich habe aber Glück gehabt, da war ein deutsch-jüdischer Chirurg, der hat mir die Füße wunderbar wieder zusammengeflickt. Ich kann die ganze Nacht tanzen, wenn ich einen guten Partner habe."

Das Feuilleton: Prince wird fünfzig Jahre alt, was Michael Pilz veranlasst, über das unvermeidliche Altern des Pop und der Gesellschaft an sich nachzudenken. Ist John McCain ein "Antikandidat", fragt sich Wieland Freund mit David Foster Wallace, dessen McCain-Essay aus dem Jahr 2000 nun wieder als Buch aufgekocht wurde. Thomas Lindemann frotzelt aus gegebenem Anlass über Fußballsimulationen auf dem Computer.

FAZ, 07.06.2008

Die Autorin Sarah Khan schreibt ein sehr schönes Porträt über Sarah, ein Mädchen aus Berlin, Wedding. Und aus Sarah wird mal was werden: "Sarah Atoui ist eine wilde Mischung. Ihre Mutter ist Polin, der Vater Libanese. Die Eltern haben vier Mädchen bekommen, die in Berlin zur Welt kamen. Sarah ist die Erstgeborene. Sie trägt sportliche Kleidung, ist schlank, sie nascht nicht und ihr immer ernstes Gesicht sagt: Nicht mal heimlich. Nur bei Brathähnchen wird sie schwach. Wenn sie könnte, sagt ihre Mutter, würde sie auch die Knochen essen. Sarah teilt das Zimmer mit einer Schwester, die ihre Wand mit Postern von Musical Highschool gepflastert hat. Sarahs Wand ist leer, nur in der Vitrine stecken zwei Votive: Bastian Schweinsteiger, Lukas Podolski. Sarah will Fußballerin in der deutschen Nationalmannschaft werden und bei der Weltmeisterschaft 2011, die in Deutschland ausgetragen wird, dabei sein. Als Spielerin natürlich. Wie sind die Chancen, dass es klappt? 'Fifty-fifty', sagt sie, 'könnte klappen.'".

Weiteres: Jochen Buchsteiner schreibt die Debatte um Burma fort, dessen Regime er schon gern unterwandert sehen möchte, aber nicht mithilfe humanitärer Interventionen, sondern lieber durch die Hintertür. Der Jurist Oliver Tolmein schreibt über das geplante Gesetz zu Patientenverfügungen. In der Randspalte gibt sich "jagr." als Angler zu erkennen, dem ein Milchbauer den Fluss verseucht hat. Jürgen Dollase berichtet in seiner Geschmackssachen-Kolumne, dass Spaniens Molekularköche Gegenwind von Seiten der Traditionalisten verspüren.

Auf der Medienseite bereitet Jan Grossarth auf die Bilderflut vor, die mit der EM über das Fernsehen schwappen wird. Michael Hanfeld stellt fest, dass nach dem neuen Gesetzesentwurf ARD und ZDF doch fast alles ins Netz werden stellen dürfen.

Besprochen werden Chaya Czernowins Doppelinszenierung "Zaide/Adama" in Bremen, und auf der Plattenseite Aufnahmen des Tenors Juan Diego Florez, das Album "Here We Stand" der Fratellis, Marc-Andres Hamelins "In a State of Jazz".

In der Beilage Bilder und Zeiten beschreibt Dirk Schümer zum EM-Start, wie beliebig nationale Zuschreibungen im Fußball geworden sind. Hannes Hintermeiner besucht den Designer und Fahrradsammler Michael Embacher. Jürg Altwegg plaudert mit Günter Netzer.

Besprochen werden Brigitte Kronauers Geschichten "Die Kleider der Frauen" und Cormac McCarthys Romane "Kein Land für alte Männer" und "Die Straße" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

In der Frankfurter Anthologie stellt Wulf Segebrecht Oskar Loerkes Gedicht "Der Wald der Welt" vor:

"Erblickt ihr hinter mir die Flüchtlingsspur
Und trifft euch ein gehetzter Atemstoß?..."

TAZ, 07.06.2008

Alexander Cammann begrüßt das Projekt einer historisch-kritischen Walter Benjamin-Ausgabe. Historisierung und Kritik, findet Cammann, können angesichts des Benjamin-Kults gar nicht schaden: "Der Rettung bedarf auch Walter Benjamin: vor seinen zahlreichen Verehrern, die in ihm eine intellektuelle Heiligengestalt anbeten. Überall grassiert die Benjaminitis; längst ist er zum Metaphernautomaten für Kuratoren und Dramaturgen degradiert, die mit Benjamin-Zitaten Projektanträge, Kataloge und Theaterprogramme verzieren. Herz und Stimme zittern billig mit, sobald man den Namen Walter Benjamin ausspricht. Wegen seiner gefährdeten Existenz, seiner erzwungenen Emigration und seines tragischen Endes erzeugt der Aura-Theoretiker ironischerweise selbst eine Aura, in der sein Denken verschwimmt."

Weitere Artikel: Ralf Leonhard widmet seine EM-Kolumne heute den Maßnahmen der österreichischen Kirchen zum Ereignis. In der Schlagloch-Kolumne erklärt der viel reisende Autor Ilija Trojanow, wie der Rucksacktourist tickt. Robert Misik hat sich für die Tagesthemen-Seite mit dem John McCain-Berater Robert Kagan unterhalten.

Besprochen werden George Clooneys Screwball-Komödie "Ein verlockendes Spiel" und Bücher, darunter als "Buch aus den Charts" gleich hinter der alles andere als wesensverwandten Charlotte Roche, Siegfried Lenz' Erzählung "Schweigeminute" und Diedrich Diederichsens jüngstes Werk "Eigenblutdoping" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

In der zweiten taz gibt es ein Pro und Kontra zum in aller Welt und auch in der taz heftig umstrittenen "Onkel Baracks Hütte"-Titel von vorgestern. Dominic Johnson hält ihn für rassistisch, Bernd Pickert verteidigt ihn. Zur "Gleichheitsparade" in Warschau erinnert Gabriele Lesser an die noch immer grassierende Diskriminierung von Schwulen und Lesben in Polen.

Das taz mag hat, aus Anlass des EM-Starts, einen Österreichschwerpunkt. Dafür haben sich Jan Feddersen und Martin Reichert mit der Historikerin Brigitte Hamann unterhalten. Andreas Fanizadeh und Eva-Christina Meier waren in den Kalkalpen und haben dort nicht zuletzt gut gegessen. Über 68 in Wien schreibt Robert Misik.

Und Tom.

SZ, 07.06.2008

Kultur und Kreativwirtschaft werden immer wichtiger für die Metropolen der Welt. Erklärt Alex Rühle, der da das Buch "The Warhol Economy" der Urbanistin Elizabeth Currid gelesen hat, in dem sie das für New York beschreibt. "Das Wichtigste für eine Stadt sei es heute, die zwei, drei Prozent der Bürgerschaft anzusiedeln, die aufmerksamkeitsökonomisch den großen Reibach machen, dann wird der Rest auch davon profitieren. Die kreativen Köpfe, die tastemakers and gatekeepers, treffen sich in den Clubs und bei Eröffnungen, befruchten einander und produzieren dadurch eine neue Kultur. Das wiederum zieht die Touristen an, die von dem Versprechen nach New York gelockt werden, dass sie hier dabei zusehen können, wie Kultur entsteht, statt einfach nur deren Kopien zu konsumieren." (Dass man als Künstler in einem brutal gentrifizierten New York fast nicht mehr leben kann, weil das Geld schon für die Miete kaum reicht - das wird seltsamerweise nicht erwähnt.)

Passend dazu schreibt Jens Bisky anlässlich des Spatenstichs für die temporäre Berliner Kunsthalle: Dass Berlin "nicht im Stumpfsinn versank, dass heute unter Palmen an der Spree in allen Dialekten Europas geplaudert wird, verdankt Berlin den Künstlern und Scharlatanen, den Genies wie den Kreativlingen... Sie ließen die Stadt, über die ganz Deutschland selbstgerecht den Kopf schüttelte, nicht im Stich und sorgten dafür, dass man sie von Riga bis Lissabon anschwärmt."

Weitere Artikel: Johan Schloemann hat in London Ferdinand Mount besucht, Romanautor, Thatcher-Berater, Leitartikler, langjähriger Leiter des Times Literary Supplement und nun auch Autor einer Autobiografie. Susanne Klingenstein war dabei, als Joanne K. Rowling in Harvard der Ehrendoktortitel verliehen wurde und sie auch noch die wichtige "Commencement Address" an die Absolventen hielt. Fritz Göttler gratuliert dem Regisseur James Ivory zum Achtzigsten.

Auf der Literaturseite geht es ausschließlich um die Reporterin und Autorin Marie-Luise Scherer, diesjährige Preisträgerin des Italo-Svevo-Preises. Abgedruckt werden die Dankesrede von Scherer selbst und die Laudatio der Schriftstellerin Brigitte Kronauer.

Besprochen werden die Pariser Aufführung von Akram Khans Globalisierungschoreografie "Bahok", die von Christina Paulhofer inszenierte, von Axel Harb dirigierte Frankfurter "Fidelio"-Aufführung, ein "göttliches" Londoner Stevie-Wonder-Konzert, die neue Dauerausstellung "Typisch München!" im Münchner Stadtmuseum.

Im Aufmacher der SZ am Wochenende bekennt sich Wäis Kiani zu ihrer Gegenwartskunst-Ignoranz. Cathrin Kahlweit porträtiert den Star-PR-Berater Lord Tim Bell. Zum Beginn einer neuen Serie beschreibt/analysiert Margit J. Mayer das Wohnzimmer von Truman Capote, wie es auf einer Fotografie zu erkennen ist. Auf der Historienseite geht es um Edward M. House, der im inoffiziellen Auftrag Woodrow Wilsons Europa den Frieden bringen wollte, im Jahr 1914. Im Interview spricht Judith Kerr, Autorin und Illustratorin von Kinder- und Jugendbüchern, außerdem Tochter von Alfred Kerr, über "Familie".