Heute in den Feuilletons

Lächelnde Guillotine

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
01.07.2008. Die FR weiß, warum der Moskauer Kurator Andrej Jerofejew entlassen wurde: die Russen fürchten, dass die Kunst aufs Bewusstsein einwirkt. In der Berliner Zeitung erzählt William Gibson, wie er den Cyberspace erfand.  Die SZ stellt mit Fethullah Gülen den wichtigsten weinenden Intellektuellen der Welt vor und verabschiedet die Aufklärung gleich mit: Dieser Mann wird geachtet als Lehrer, geliebt als Führer, ersehnt als Prediger. 

FR, 01.07.2008

Florian Hassel berichtet von den absurden Anklagen gegen den Kurator der Moskauer Tretjakow-Galerie, Andrej Jerofejew, und den Direktor des Sacharow-Zentrums, Jurij Samodurow, die mit der Ausstellung "Verbotene Kunst 2006" angeblich "zum nationalen Zwist" angestiftet und die orthodoxe Religion herabgesetzt haben sollen: "Die Ausstellung habe 'psychologisch und moralisch negativ auf das Bewusstsein der Ausstellungsbesucher eingewirkt' und durch 'starke psychotraumatische Einwirkung von außergewöhnlicher Kraft die Integrität ihrer Persönlichkeit bedroht und ihr bestehendes Weltbild zerstört', so die Anklagebeschlüsse. Das Gesetz sieht im Fall einer Verurteilung Geldstrafen, mehrjähriges Berufsverbot oder bis zu fünf Jahre Straflager vor."

Weiteres: Dirk Fuhrig besucht das vor siebzig Jahren als "Stadt des KdF-Wagens bei Fallersleben" gegründete Wolfsburg. Sylvia Staude rechnet in Times Mager nach, ob sie auch 25 Minuten braucht, um von einer E-Mail nicht mehr abgelenkt zu sein. Frank Keil geht durch Peter Tamms Maritimes Museum, das deutliche Schlagseite aufweist: "Der mit Hakenkreuzen verzierte Großadmiralsstab des Hitlernachfolgers Karl Dönitz liegt unter Glas, als handele es sich um eine mittelalterliche Reliquie."

Besprochen werden eine Aufführung von Thomas Bernhards "Am Ziel" im Münchner Residenztheater und eine Ausstellung zu Hans von Marees im Wuppertaler Von der Heydt-Museum.

TAZ, 01.07.2008

Mit Stefan Reinecke und Christian Semler spricht Harun Farocki über das KZ Westerbork und seinen dokumentarischen Filmessay "Aufschub", der aus den Aufnahmen eines Häftlings des Lagers zusammengestellt ist. Sie kommen auf eine Szene zu sprechen, in der ein Gefangener bei einem Transport nach Auschwitz von innen hilft, die Waggontür zu schließen "Die Tür hakt, der Gefangene hilft, die Tür zu schließen. Der Kameramann hat diese Geste offenbar gar nicht bemerkt, aber dokumentiert. Diese Geste fasst das Drama des Lagers zusammen: die Kooperation der Opfer bei ihrer eigenen Vernichtung. Der Historiker Raul Hilberg hat herausgestellt, dass es kein Budget für die Vernichtung der Juden gab. Ihre Vernichtung wurde aus ihrer Ausplünderung finanziert. Sie mussten ihre Ermordung bezahlen und mit organisieren. Dies ist in dieser Geste enthalten."

Weiteres: Robert Misik liest die Lettre und empfiehlt Sergio Benvenutos Essay über das Familienmodell der Konservativen, das auf dem strengen Vater beruht. Gregor Kessler kündigt Stephin Merritt und dessen Band The Magnetic Fields an, die demnächst durch Deutschland ziehen. Das am Freitag beginnende größte deutsche Weltmusikfestival in Rudolstadt ist seit dem unfreiwilligen Wegzug einer indischstämmigen Pfarrfamilie unter besonderer Beobachtung, berichtet Christian Rath. Rath ist es auch, der in der zweiten taz die Versuche des wegen Mordes verurteilten Magnus Gäfgen verhandelt, sich zum Opfer zu stilisieren. Besprochen werden zwei neue Stücke, die sich mit Migration beschäftigen, von Georg Kamerun und Peter Kastenmüller an den Münchner Kammerspielen.

Der Politologe Jan-Werner Müller überlegt auf der Meinungsseite, ob man aus der Entwicklung der Christdemokratie Lehren für die Verbindung Islam und Demokratie ziehen kann: "Es ist naiv zu meinen, reformorientierte muslimische Intellektuelle könnten im Alleingang eine Art Liberalisierung islamisch geprägter Länder bewirken. Aber ob sie einen Ideenvorrat anhäufen können, der eine moderat-demokratische Form islamisch inspirierten politischen Handelns auch in den Augen eher säkular denkender Menschen rechtfertigt, wird von entscheidender Bedeutung sein."

Und Tom.

Berliner Zeitung, 01.07.2008

Der Science-Fiction-Schriftsteller William Gibson erzählt im Gespräch mit Johannes Fischer, wie er den Begriff Cyberspace erfand: "Ich habe Jugendliche beobachtet, wie sie sich mit den frühen Videospielen in den Spielhallen die Zeit vertrieben haben. Mir kam die Idee, dass sie verbunden waren mit einer anderen, fast schon gegenständlichen Art der Wirklichkeit. Das war auch die Zeit, als es die ersten PCs zu kaufen gab. Ich habe mir vorgestellt, dass hinter diesen Bildschirmen eine Art imaginärer Raum begann."
Stichwörter: Videospiele

NZZ, 01.07.2008

Aureliana Sorrento berichtet vom Napoli Teatro Festival Italia, das sich zu Sorrentos Bedauern in einer Sphäre abzuspielen scheint, "die das normale Leben der Neapolitaner nicht einmal streift": "Ein Multikulti-Kunststück: Jeder Darsteller darf in seiner Sprache sprechen, Italienisch, Französisch, Spanisch oder Portugiesisch, und wenn sich die Schauspieler nicht verstehen, ist es auch nicht so schlimm - die Figuren haben sich ohnehin nichts zu sagen. Sie schmettern Verse und Klagen auf hohem Kothurn vors Publikum. Als dann ein Paar aus einem benachbarten Haus vorm Fenster lautstark zu streiten anhebt, hat es das Publikum ruck, zuck auf seiner Seite."

Besprochen werden Anna Melikians Filmmärchen "Rusalka - Mermaid", die Ausstellung "Handel and the Divas" im Londoner Handel House Museum, Salonausstellung zum hundertjährigen Bestehen des Skagens Museum und Bücher, darunter Dan Diners Essay "Gegenläufige Gedächtnisse", Hans-Ulrich Treichels Roman "Anatolin", Harald Hartungs Lyrik-Schriften "Ein Unterton von Glück" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages)

FAZ, 01.07.2008

Paul Ingendaay über die spanische EM-Siegerstimmung: "In diesem Land voller Streitlust und Selbstzerfleischung hat der Enthusiasmus über die eigene Fußballmannschaft ein emotionales Band geschaffen, wo vorher keines war." Christian Geyer kommentiert das Straßburger Urteil, das eine Klage des wegen Mordes verurteilten, zuvor aber mit Folter bedrohten Markus Gäfgen zurückgewiesen hat, weil ihm mit der Bestrafung der Polizisten bereits Genugtuung geleistet worden sei. Die von Roger M. Kusch ausgeübte Hilfe zur Selbsttötung einer lebensmüden, aber nicht kranken 79-Jährigen kommentiert der Anwalt Oliver Tolmein so: "Als lächelnde Guillotine wurde Kusch in seiner Zeit als Justizsenator gelegentlich bezeichnet. Man könnte sagen, dass er sich zum guillotinierenden Lächler entwickelt hat. Fortschritt ist überall." Andreas Rossmann stellt den Siegerentwurf für das neue Kölner Opernquartier vor, der die Sanierung der Oper und den Bau eines neuen Schauspiels beinhaltet. Er berichtet auch von Pater Friedhelm Mennekes SJ letzter Messe. Von einer Münsteraner Germanistentagung zum Thema "Hermannsschlachten" berichtet Anja Hirsch.

Vorgestellt werden die bizarren, aber objektiven Kriterien zur Siegerbestimmung beim Preis, den die "Zentrale Intelligenz Agentur" für ihren Bachmanngewinner (dann aber auch: Tilmann Ramstedt) zugrundelegte; etwa Punkt 14: "Schlampig recherchiert in unwichtigen Dingen (1 Pluspunkt je Fehler)". In der Glosse fragt sich Edo Reents, ob die Spielerfrauen die Spielertrikots und wer wohl den Deutschland-Schal des Herrn Bundespräsidenten waschen bzw. wäscht. Wulf Segebrecht gratuliert dem Germanisten Walter Müller-Seidel zum Neunzigsten. Paul Ingendaay schreibt zum Tod der Übersetzerin Elke Wehr, die unter anderem die Werke von Javier Marias ins Deutsche übertragen hat. Auf der Medienseite beschreibt Erna Lackner, wie in Österreich die SPÖ vor der allmächtigen Kronenzeitung zu Kreuze kriecht.

Besprochen werden die zum 150. Jubiläum von Darwins Theorie der Evolution eingerichtet Ausstellung über Darwins Zeichner Johann M. Rugendas in Augsburg, die Münchner Skulpturen-Ausstellung "Begegnung in Bunt", Konzerte beim Klavierfestival Ruhr, Thomas Langhoffs Münchner Inszenierung von Thomas Bernhards "Am Ziel", eine CD mit Beethoven-Einspielungen des jungen Pianisten Piotr Anderszewski und eine Übersetzung von Jean Giraudoux' "Doppelmemoiren" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Welt, 01.07.2008

Martin Dowideit berichtet, dass der "Freedom Tower" in New York wohl nicht zum zehnten Jahrestag des 11. Septembers fertig werden wird. In der Leitglosse fordert Elmar Krekeler, dass Javier Marias als bekanntester Fußballkolumnist Spaniens abtritt - er hatte die spanische Mannschaft und ihren Trainer vor der EM in Grund und Boden verrissen. Leni Höllerer erinnert an den Archäologen Robert Koldewey, der im Jahre 1899 anfing, Babylon auszugraben und dem anlässlich der großen Berliner Babylon-Austellung ein Porträtband gewidmet ist. Manfred Quiring berichtet über die Entlassung des Kurators der Tretjakow-Galerie Andrej Jerofejew.

Besprochen werden der Film "Hancock" mit Will Smith, eine Richard-Strauss-Choreografie John Neumeiers in Hamburg, eine Ausstellung über den Architekten Sergej Tchoban in Hellerau und Busonis "Faust" in München.

SZ, 01.07.2008

Das Magazin Prospect hat gerade das Ergebnis seine Umfrage nach den 100 bedeutendsten Intellektuellen veröffentlicht. Auf Platz 1 landete - dank einer "überaus wirkungsvollen Kampagne in der Türkei" - der dem Sufismus nahe stehende islamische Prediger Fethullah Gülen, der beim Vortrag auch mal in Tränen ausbricht. Burkhard Müller ist hingerissen, endlich mal nicht so ein blutleerer westlicher Holzkopf! "Kein Intellektueller bei uns würde wagen, solche Sprache im Mund zu führen, und es gar unter Tränen zu tun, brächte ihn um allen Kredit. Andere, mächtigere Traditionen fließen hier ein als die vergleichsweise schwächliche des freien abendländischen Geistes mit seinem Indianer-Ethos der Kälte und der Abstinenz. Dieser Mann wird geachtet als Lehrer, geliebt als Führer, ersehnt als Prediger. Alle dürfen dieser Autorität folgen. Der Intellektuelle, wie wir ihn kennen, stellt womöglich nur einen Typus des Geistigen dar, und eventuell bereits nicht mehr den global maßgeblichen. Im Sieger dieses leichtfertigen Rankings kehrt ein anderer, älterer Typus zurück, bereit, einer Menschheit voranzugehen, die seines Rates - vielleicht - dringend bedarf."

Weitere Artikel: Nicht nur der schwache Dollarkurs macht den amerikanischen Künstlern in Berlin zu schaffen, berichtet Kai Wiegandt, auch das Klima hier kann gefährlich werden, erzählt ihm die Sängerin Lauren Lee: "'In Los Angeles will jeder schlank sein und groß rauskommen, in Berlin nicht', sagt Lee. 'Wenn ich Lust darauf hätte, nichts zu tun, wäre Berlin eine gute Stadt. Es gibt eine Menge Leute, die mit der vagen Idee herkommen, Kunst zu machen, und nach kurzer Zeit versacken.'" Jens-Christian Rabe beugt sich über die Liste mit Obamas Lieblingsmusik im Magazin Rolling Stone und stellt fest: "Kein einziger musikalischer Held der weißen Arbeiterschicht ist vertreten". Karl Bruckmaier denkt anlässlich eines Bob-Dylan-Konzerts 1978 in Nürnberg über das Politische im Pop nach. "Denunziation" wirft Gerhard Matzig dem Kölner Oberbürgermeister Fritz Schramma vor, der den Siegerentwurf für die Bebauung des Kölner Rathausplatzes mit einem Jüdischen Museum erst gelobt hat und jetzt abzusägen droht. Thomas Hahn berichtet über die Eröffnung des Festivals Montpellier Danse. Gisa Funck schreibt zur Pensionierung des Kölner Kunstpfarrers Friedhelm Mennekes. Thomas Steinfeld schreibt zum neunzigsten Geburtstag des Germanisten Walter Müller-Seidel.

Besprochen werden Thomas Langhoffs Inszenierung des Thomas-Bernhard-Stücks "Am Ziel" in München, die Ausstellung "Hans von Marees" im Von der Heydt-Museum in Wuppertal und Bücher, darunter Oliver Sacks' Band "Der einarmige Pianist" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).