Heute in den Feuilletons

Rasante Blicke

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
08.07.2008. Die FR bedauert die Langzeitwirkung der von den 68ern instituierten Hochkultur-Idiosynkrasie. Stefan Niggemeier hat sich in dem Prozess über die Frage, wann unrechtmäßige Internetkommentare zu löschen sind, mit der klagenden Firma Callactive geeinigt. Die NZZ bedauert: Auf dem Jazzfestival von Montreux gibt es immer weniger Jazz. Die Netzeitung beschäftigt sich in ihrem Altpapier mit sich selbst. Die SZ hat beobachtet: Handke ist nicht nur für Serben, sondern auch für Sorben. Die FAZ verteidigt die Jünger-Ausgabe in der Pleiade gegen Georges-Arthur Goldschmidt.

FR, 08.07.2008

Auf der Medienseite meldet Knut Krohn, dass der Springer-Konzern die Hälfte des polnischen Zeitungsverlags Presspublica kaufen will, die jetzt noch dem Staat gehört (die andere Hälfte gehört dem britischen Investor David Montgomery): "Verblüffend ist das geringe Interesse in Polen an dem deutschen Engagement. Das ist umso erstaunlicher, da im Verlag Presspublica die einflussreiche konservative Rzeczpospolita erscheint, die Nummer drei unter den polnischen Tageszeitungen. Mit diesem Zukauf würde Springer in Polen endgültig zu einer Medien-Macht aufsteigen. Dem Verlag gehören bereits das Boulevardblatt Fakt und die seriöse Tageszeitung Dziennik."

Im Rückblick auf 1968 und die Musik geht Hans-Klaus Jungheinrich im Kulturteil harsch mit der Klassikfeindlichkeit der 68er ins Gericht: "Als eine Spielart von Kulturrevolution hatte die Achtundsechziger-Bewegung mit ihrer Hochkultur-Idiosynkrasie eine ungute Langzeitwirkung. Ihre Kader, beim 'Marsch durch die Institutionen' vielfach an kultur- und bildungspolitischen Machthebeln angelangt, trafen dann häufig kunstfeindliche, den vermeintlichen Luxus der Opernhäuser und Symphonieorchester drastisch beschneidende Entscheidungen. Klassische Musik wurde schneller aus dem allgemeinen Bildungsfundus eliminiert als die angeblich demokratischeren oder mit der Popkultur kompatiblen Kunstarten. Partiturkenntnis und Instrumentalspiel gerieten zur Angelegenheit von Spezialisten."

Weitere Artikel: Daland Segler räumt in einem weiteren Text zum Thema ein: "Der Pop der sechziger Jahre war zuallererst Pose. Der 'Beat' schlug nicht im gleichen Takt wie die Herzen der rebellischen Studenten in den großen Städten." In der Times mager berichtet Ina Hartwig vom Jahrestreffen der Proust-Gesellschaft.

Besprochen werden Tom Segevs Klassiker "Die ersten Israelis", Nathan Englanders "todkomischer" Roman "Das Ministerium für besondere Fälle", das Musical-Spektakel "Martin L." auf den Erfurter Domstufen, Olivier Messiaens "Turangalila"-Symphonie in Wiesbaden und eine dem Designer und Zeichner Alvar Aalto gewidmete Ausstellung im Münchner Architekturmuseum.

Aus den Blogs, 08.07.2008

Stefan Niggemeier einigt sich mit der Firma Callactive, die ihn vor dem Landgericht wegen eines Kommentars in seinem Blog, trotz schneller Löschung seinerseits, verklagt hatte und damit gewann. Niggemeier war darauf hin in Berufung gegangen, hat sich nun aber von Callactive überzeugen lassen, die Sache unter der Voraussetzung einer Teilung der Anwaltskosten einzustellen. Niggemeier schreibt: "Ich habe diesen Vorschlag von Callactive angenommen. Dieser Ausgang des Verfahrens ist zwar insofern etwas unbefriedigend, weil die grundsätzliche Frage der Kommentarhaftung, die in Deutschland von verschiedenen Gerichten sehr unterschiedlich beantwortet wird, nicht von einer höheren Instanz geklärt wurde... Dieser Ausgang stellt auch keinen juristischen Sieg meinerseits dar. Andererseits war der Ausgang der Berufungsverhandlung ungewiss."
Stichwörter: Deutschland

Welt, 08.07.2008

Viele staunen über die hochdynamischen Klickraten bei welt.de. Aber ist das ein Wunder angesichts der Qualitätsbildstrecken, die dort geboten werden? Nach der Strecke "Erkennen Sie die Frau am Dekollete" empfehlen wir heute die Qualitätsbildstrecke "Raten Sie mal! Kennen Sie den Bauchnabel Ihres Lieblingsstars?"

Im Feuilleton bricht Uta Baier eine Lanze für den Impressionisten Gustave Caillebotte, dem in Bremen eine Ausstellung mit vielen selten zu sehenden Stücken aus Privatbesitz gewidmet ist. Er war nicht nur Mäzen der Impressionisten, sondern selbst ein großartiger Maler, was von der Kunstgeschichte lange verkannt wurde, weil er reich war und die Kunst nicht zum Leben brauchte, schreibt Baier: "Diese irrige Vorstellung hat nicht nur die Karrieren und die Anerkennung vieler Künstlerinnen verhindert, sondern auch die von Caillebotte, der einige der kühnsten, radikalsten, modernsten Bilder seiner Zeit malte: rasante Blicke über das neue Paris, Huldigungen an den technischen Fortschritt, Brücken, die die Natur als riesige Fremdkörper durchstoßen, nie gesehene Bildschnitte, die den Betrachter direkt ins Geschehen ziehen." (Das obige Gemälde von 1883 zeigt die Brücke bei Argenteuil.)

Weitere Artikel: Peter Zander annonciert ein neues Filmfestival in Astana, der Hauptstadt von Kasachstan, das mit Hilfe von Millionen Petrodollars das in "Borat" geschaffene Kasachstan-Bild korrigieren soll. Wieland Freund verweist auf wertvolles Archivmaterial zu Kafka, das in Israel im Nachlass der Witwe Max Brods lagert. Gernot Facius erinnert an das Konkordat zwischen dem Vatikan und dem Dritten Reich, das vor 75 Jahren geschlossen wurde und immer noch vertragsgültig ist. Michael Pilz wirft einen Blick auf das Folkfestival in Rudolstadt. Und Peter Beddies unterhält sich mit Hape Kerkeling über seine Synchronrolle im Animationsfilm "Kung Fu Panda".

Besprochen werden eine CD-Box mit Konzerten des Folkfestivals der Burg Waldeck in den sechziger Jahren und ein Auftritt der Martha Graham Dance Company in Berlin.

TAZ, 08.07.2008

Warum soll man die Diskriminierung von Juden und Türken nicht vergleichen können, fragt auf der Meinungsseite der Jurist und Publizist Sergey Lagodinsky. "Kürzlich veranstaltete die Universität Tel Aviv eine Konferenz, bei der sich deutsche und israelische Forscher über genau diese Fragen austauschten. Die Thesen einiger (zumeist israelischer) Forscher, welche die Ressentiments gegen die Juden im 19. Jahrhundert mit denen gegen türkischstämmige Einwanderer im heutigen Europa verglichen, konnte man durchaus als zu weitgehend empfinden. Keiner indes empfand sie als 'inakzeptabel'. Wenn man einen umstrittenen, aber zweifellos verdienten Forscher wie Faruk Sen wegen eines Vergleichs zwischen der Diskriminierungsgeschichte von Juden und dem Diskriminierungsalltag von türkischen Europäern entlässt, tabuisiert man eine wichtige Debatte."

Im Kulturteil schildert Alfred Hackensberger das Aufblühen der marokkanischen Hafenstadt Tanger. Helmut Höge porträtiert den ehemaligen US-Botschafter Mark Palmer als einen modernen Raubritter, der im Ex-Ostblock nach Rendite sucht. Im Gespräch erklärt der Filmhistoriker und -restaurator Enno Patalas die Bedeutung des Funds der verschollenen Filmrollen von Fritz Langs "Metropolis". Stefanie Peter resümiert die Tagung "Das Mittelmeer 1860-1960. Poesie und Politik eines Raumes", eine Zusammenarbeit des Kunsthistorischen Institut Florenz und des Berliner Museum für Islamische Kunst. Andreas Becker berichtet unverdrossen vom Rockfestival Roskilde, wo ihm allerdings das "Sicherheitsbrimborium" auf die Nerven ging. In tazzwei gibt Wolfgang Niedecken im Interview Auskunft über sein gutes Verhältnis zum Bundespräsidenten und das Altern.

Schließlich Tom.

NZZ, 08.07.2008

Beim Montreux-Jazzfestival ließ sich Ueli Bernays vor allem von Erykah Badu betören und stellt ganz allgemein fest, es gebe leider "immer weniger Jazz. Vielleicht aber bleibt Jazz dank seiner interpretatorischen Freiheiten als eine Art Postulat für Live-Musiker bestehen. Es ist ja so, dass Popmusik dazu neigt, möglichst vieles in Komposition und Arrangement festzuschreiben. Und doch können auf den Bühnen in Montreux nur jene Musiker brillieren, die, sozusagen auf die oralen Einflüsse von Jazz, Gospel vertrauend, den Mut für Verfahren wie Improvisation, Variation, Abstraktion aufbringen."

Weiteres: Zufrieden bilanziert Dirk Pilz das Festival "Theater der Welt" in Halle als "ausgesucht sympathische, sinnenfreudige und unverkrampfte" Theaterwundertüte. Roman Bucheli berichtet vom Literaturfest im Walliser Leukerbad. Besprochen werden Bücher, darunter Ivan Vladislavic' Prosastücke "Johannesburg. Insel der Zufälle", die zahlreichen Neuerscheinungen zu Kafka, Rainer Forsts Schrift zur Gerechtigkeit "Das Recht auf Rechtfertigung" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Perlentaucher, 08.07.2008

Jahrzehntelang wurde vom "Tod des Autors" fabuliert, nun ist der Tod des Autors tot, schreibt Felix Philipp Ingold in einem Essay über die neueste Literatur für den perlentaucher: "Vom 'Verschwinden' oder gar vom 'Tod' des Autors kann demnach gegenwärtig keine Rede sein. Viele Autoren_Autorinnen sind im Gegenteil bemüht, sich persönlich wieder ins Spiel zu bringen und durch unablässiges Ich_Mein_Wir_Sagen die Wiederkehr des Subjekts in die Literatur zu beglaubigen. Es ist kein hochgemutes, eher ein verzweifeltes Spiel, das sich so ausnimmt, als müsste das Ich und überhaupt alles Eigene gerettet werden vor seiner zunehmenden Entwertung_Nivellierung_Vereinnahmung durch wirtschaftliche Interessen ebenso wie durch wissenschaftliche Erkenntnisse."

Netzeitung, 08.07.2008

Das Altpapier der Netzeitung beschäftigt sich mit der eigenen Krise: "Das musste ja so kommen: Das Altpapier der Netzeitung trifft endlich auf sich selbst. Und sieht sich im Spiegel zwar mit einem Blumenstrauß in der Hand, aber recht verschrecktem Blick im Gesicht." Dabei hat Virtualienmarktwirtschaftler Robin Meyer-Lucht dem Online-Journalismus im Interview mit der Netzeitung durchaus Gewinnchancen attestiert.

SZ, 08.07.2008

Burkhard Müller hat das Fest der Sorbischen Poesie in der Oberlausitz besucht, wo es freundschaftlich und familiär zuging, obgleich sich auch ein bunter Hund unters sorbische Dichtervolk gemischt hatte: "Die Angereisten kennen einander zum Teil wenig oder auch gar nicht, aber das Gefühl, dass alle zusammengehören, ist stark. Dreißig bis vierzig Leute mögen es sein, die acht Vortragenden eingeschlossen... Und privat oder sozusagen privat weilt auch Peter Handke hier, zum zweiten Mal schon. Er liest nicht vor und er hält keine Rede, aber er ist dabei und spricht mit jedem, der ihn sprechen will. Meist wandert er allein durch die Gegend, wird 'gesichtet' wie ein seltener Zugvogel, und ob er zum Büchersignieren am Tag der offenen Tür in der Verlagsbuchhandlung auch wirklich wie angekündigt kommen wird, das weiß man vorher nicht so genau."

Weitere Artikel: Thomas Steinfeld erläutert, wie der Wissenschaftsrat die Lehre an deutschen Hochschulen fördern, ja, retten will. Gottfried Knapp macht Kompromissvorschläge im Lindenoper-Zuschauersaal-Streit. In der selben Sache informiert Gerwin Zohlen darüber, dass der Architekt Gerhard Spangenberg dem Sieger im Wettbewerb Klaus Roth vorwirft, seinen eigenen Entwurf dreist abgekupfert zu haben. Jens Bisky stellt einen Neuordnungsplan für die Klassik Stiftung Weimar vor. Wie in Kalifornien die "ökologische Moderne" beginnt, erlebte vor Ort Claus Leggewie. Beim Richtfest für das neue Bibliotheksgebäude der römischen Bibliotheca Hertziana war Henning Klüver zugegen. Auf der Literaturseite berichtet Lothar Müller von einer das Vorurteil durchkreuzenden Berliner Tagung über den "Philister".

Thomas Schuler porträtiert auf der Medienseite das unabhängige amerikanische Non-Profit-Büro für journalistische Investigation Pro Publica. Auf der Wissen-Seite informiert Helmut-Martin Jung über das umstrittene Streetview-Projekt von Google, in dessen Auftrag kleine schwarze Opel gerade in deutschen Städten unterwegs sind (Google hat übrigens auch die gesamte Tour-de-France-Strecke zum Monitormitradeln vorab fotografiert: hier).

Besprochen werden eine Pariser Aufführung von Georg Friedrich Haas' Oper "Melancholia", die Ausstellung "Punk - no one is innocent" in der Kunsthalle Wien, eine Ausstellung über die Fürstin Louise von Anhalt-Dessau in Wörlitz, der neueste Will-Smith-Erfolgsfilm "Hancock", Brahms-Einspielungen des Pianisten Hermann Angelich, von denen Joachim Kaiser sehr schwärmt, und Comic-Biografien von Ho Che Minh, Che Guevara und Houdini vorgestellt (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

FAZ, 08.07.2008

Mit kritischem Blick liest Julia Encke die von Georges-Arthur Goldschmidt in der Frankfurter Rundschau heftig verurteilte Pleiade-Ausgabe der Kriegstagebücher Ernst Jüngers. Ihrer Ansicht nach behandelt die Edition selbst Jünger an vielen Stellen durchaus kritisch. Darum meint sie zu Goldschmidts Vorwürfen: "Man muss ihm widersprechen. Oder besser: Es ist die Ausgabe selbst, die ihn widerlegt. An der Nase herumgeführt wird niemand. Das Ganze ist eher eine Entdeckung als der Versuch, etwas zu verschleiern." Was nichts daran ändere, dass eine deutsche historisch-kritische Jünger-Edition überfällig ist.

Weitere Artikel: Sehr skeptisch beurteilt im Gespräch der Verleger und Kafka-Biograf Klaus Wagenbach die Chancen, im nach dem Tod seiner Witwe wohl zugänglich werdenden Rest-Nachlass von Kafkas Freund, Herausgeber und Nachlebensverwalter Max Brod große Entdeckungen zu machen: "Diese Nachricht aus Tel Aviv ist eine leere Hülle mit vielversprechender Aufschrift. Da kommt nicht mehr viel." Gina Thomas berichtet, wie der britische Lord Philipps, als Chief Justice Oberaufseher des Rechts, großen Ärger bekam wegen seiner Aussage vor muslimischem Publikum, dass die Scharia bei der Schlichtung von Streitfällen mit herangezogen werden könne. In der Glosse beschäftigt sich Edo Reents mit Butter, Brot und Beck. Hubert Spiegel referiert und kommentiert die Gerüchte um den Weltbild-Verlag, der verkauft werden soll, wohl, weil er aufgrund übermäßigen Wachstums nicht mehr so viele goldene Eier ins Nest der katholischen Kirche legt wie früher. Mark Siemons setzt sein China-Lexikon von S wie Stadien bis V wie Volk fort. Jürg Altwegg porträtiert Mohammed Moussaoui, den neuen Präsidenten des höchst umstrittenen französischen "Conseil francais du culte musulman" (CFP) - also des Zentralrats der islamischen Vereinigungen (mehr hier). Tilmann Spreckelsen fragt nach der Gefährlichkeit von Pappbilderbüchern für Kinder. Uwe Eric Laufenberg plädiert in der Serie zur Zukunft Bayreuths für ein Zehnjahres-Rotationsprinzip bei Inszenierungen und Leitung. Andreas Kilb hat sich die neu zusammengestellt Barocksammlung im Wiener Schloss Belvedere angesehen.

Auf der Forschung-und-Lehre-Seite erläutern der Politologe Stephan Leibfried und Achim Wiesner, wie die Exzellenzinitiative vor allem durch kluge Größenanpassungen in der anstehenden zweite Runde noch exzellentere Exzellenz produzieren kann. Jürgen Kaube singt zu dessen Pensionierung ein Loblied auf den als Akademischer Rat in Forschung und Lehre qualitativ Hochwertiges leistenden Soziologen Hartmann Tyrell.

Auf der Medienseite schreibt Olaf Sundermeyer gegen das der Zensur sich immer wieder bedenklich nähernde Instrument der nachträglichen Autorisierung von Interviews an. (Voraussetzung für eine liberalere Handhabung ist natürlich eine wahrheitsgemäße Berichterstattung!) Elise Cannuel beschreibt das singuläre französische Erfolgsphänomen der werbefreien, aber hunderttausende LeserInnen zählenden satirischen Wochenzeitung Le canard enchaine. Im Wirtschaftsteil geht es um Annäherungsversuche von Holtzbrinck an den zum Verkauf stehenden Weltbild-Verlag.

Besprochen werden neue Platten, darunter Becks Album "Modern Guilt", die mit Sängern und Puppen auf die Bühne gebrachte Geraer szenische Uraufführung der Oper "Soldatenliebschaft", die Felix Mendelssohn im Alter von elf Jahren komponierte (Lotte Thaler ist durchaus beeindruckt von der frühreifen Musik wie der Inszenierung), sowie ein Auswahlband mit Briefen von Anna Seghers aus den Jahren 1924 bis 1952 (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).