Heute in den Feuilletons

Ein Mephisto, der Anabolika geschluckt hat

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
22.07.2008. Was will Fethullah Gülen, fragt Necla Kelek in der FAZ. In der taz spricht der iranische Komponist Peyman Yazdanian über die Schwierigkeiten seines Metiers in Teheran. In der FR staunt Noam Chomsky über die US-Iranische Gemeinherrschaft im Irak. Heath Ledger ist als Joker in "Batman" gaga und nihilistisch, findet die Welt. Der Spiegel artikuliert seine Erleichterung über die Irrelevanz der deutschen Blogger jetzt auch online. Und: Die Serben haben Radovan Karadzic festgenommen.

Spiegel Online, 22.07.2008

Die beste Nachricht des Monats: "Jahrelang war er auf der Flucht, nun ist der wegen Kriegsverbrechen gesuchte frühere Präsident der bosnischen Serben, Radovan Karadzic, gefasst. Die Festnahme sei am Montagabend erfolgt und 'eine Aktion der serbischen Sicherheitsdienste' gewesen, erklärte das Büro des serbischen Präsidenten Boris Tadic." (Einer muss jetzt den Handke zurückhalten!)

Jetzt auch online: Die Erleichterung des Spiegels über die (angebliche? tatsächliche?) Irrelevanz der Blogger in Deutschland: "Es ist Zeit für ein realistisches Resümee: In Deutschland sind die vielen Hände der Amateure ziemlich leer. Blogs bleiben ein Nischenprodukt. Mal lustig, mal interessant. Sehr oft mit nichts als sich selbst beschäftigt. Aber insgesamt ohne große Bedeutung. Man spricht nicht darüber."

TAZ, 22.07.2008

Der iranische Filmkomponist (mehr) und Pianist Peyman Yazdanian erzählt im Interview vom Musikleben in seinem Land, dem Musikgeschmack der Iraner und den Schwierigkeiten seit der Revolution, gute Musiker zu finden: "Es ist keine gute Idee, als iranischer Komponist ausgeklügelte Bläsersätze zu schreiben. Mit Geigern ist es etwas besser. Aber ein Streichorchester können wir nach wie vor nicht in einem Zug aufnehmen, sondern müssen mit gewissen Tricks arbeiten. Vereinfacht gesagt verwenden wir die talentierteren Musiker als Hauptbestandteil des Sounds und fügen die anderen als deren Schatten hinzu, um Klangfülle zu bekommen."

Weitere Artikel: Christian Broecking untersucht in seiner Kolumne die politischen Ansichten von Jazzmusikern. David Denk war beim Musikfestival Melt! Philippinisches Independentkino sah Tilman Baumgärtel beim Cinemalaya Festival in Manila. Sven Hansen besucht - "unter konspirativen Umständen" - die tibetische Schriftstellerin und China-Kritikerin Tsering Woeser.

Schließlich Tom.

FR, 22.07.2008

Für Noam Chomsky steht fest, dass die USA im Irak nur eines wollten: billiges Öl. Und darum werden sie dort auch bleiben, nicht mal die Iraner werden sie vertreiben. "Ironischerweise wandelt sich der Irak zu einer US-Iranischen Gemeinherrschaft. Die Maliki-Regierung wird vom Iran unterstützt. Die so genannte irakische Armee formiert sich zum größten Teil aus der Badr-Miliz, die im Iran gegründet und ausgebildet wurde und im Iran-Irak-Krieg auf iranischer Seite kämpfte. Nir Rosen, einer der scharfsichtigsten und sachkundigsten Korrespondenten in der Region, bemerkt, dass das Hauptziel der von den USA und der Maliki-Regierung ausgehenden Militäroperationen, Moktada Al-Sadr, dem Iran auch nicht angenehm ist: Er ist unabhängig, hat die Unterstützung des Volkes und stellt somit eine Gefahr dar. Iran 'hat während der Basra-Offensive den irakischen Premierminister Maliki und seine Regierung im Kampf gegen von dieser so bezeichnete 'illegale bewaffnete Gruppen' (aus Moktadas Mahdi-Armee) unterstützt', so Rosen, 'was nicht verwundert, wenn man bedenkt, dass Irans wichtigster Vertreter im Irak, der Oberste Islamische Rat im Irak, das Land regiert und Malikis größter Geldgeber ist.' Rosen schließt: 'Es gibt keinen Stellvertreterkrieg im Irak, weil die USA und der Iran denselben Stellvertreter haben.'"

Weitere Artikel: Harry Nutt fragt sich angesichts des "bizarren Streits" um die Berliner Lindenoper, "warum ein bauhistorisch hybrides, mehrfach umgestaltetes Gebäude wie die Lindenoper, die stets wechselnden Bedürfnissen angepasst wurde, nun zu einem gesamtdeutschen Nationaldenkmal verklärt werden soll ... Mit dem Paulick-Saal, so hatte es den Anschein, wurde auch ein seelisches Interieur verteidigt, dessen Kränkungserfahrungen noch nicht freigelegt sind." Klaus von Seckendorff berichtet vom National Arts Festival im südafrikanischen Grahamstown. Hans-Klaus Jungheinrich war beim Jubiläumsakt zum 60. Jahrestag des Verfassungskonvents in Herrenchiemsee. In Times Mager erzählt Sylvia Staude von einer alten Dame, die "an der Front" war und überlebt hat.

Berliner Zeitung, 22.07.2008

Andreas Mix erzählt die komplizierte Geschichte des John Demjanjuk, der als urkainischer Freiwilliger beim Holocaust mitmachte, nach dem Krieg nach Amerika auswanderte und dem jetzt in Deutschland der Prozess gemacht werden soll: "Die Ermittlungen konzentrieren sich auf die Tätigkeit Demjanjuks in Sobibor, wo schätzungsweise 250.000 Juden aus Polen, der Slowakei, den Niederlanden und Deutschland ermordet wurden."

NZZ, 22.07.2008

Bernadette Conrad trifft in Zagreb den kroatischen Schriftsteller Zoran Feric, der mit viel Humor an "der Grenze des Aushaltbaren" schreibt und seine Affinität zum Drastischen so erklärt: "Tatsächlich ist vieles für mich gefühlsmäßig anders besetzt als für andere. Begräbnisse zum Beispiel: angenehme gesellschaftliche Ereignisse. Alles wird ja anders, je näher du an etwas herankommst. Für mich ist genau dies das Geschäft der Literatur: allgemeine Bilder zu zerschlagen."

Andreas Breitenstein folgt Marlene Streeruwitz mit ihrem neuen Roman "Kreuzungen" in die Teppichetage: "Zwar hat sich die deutschsprachige Literatur immer schon mit Verve der sozialen Aussteiger angenommen - freilich jener nach unten und kaum je derer nach oben. Das höhere Wirtschaftsleben ist ihr weitgehend terra incognita geblieben, und wenn es doch einmal Thema wird, dann oft nur im bequemen Rückgriff auf das Einmaleins gängiger Kapitalismuskritik."

Weiteres: Hubertus Adam berichtet vom Streit um das jüdische Museum in Köln. Besprochen werden die Ausstellung "High Society. Amerikanische Porträts des Gilded Age" im Bucerius-Kunst-Forum in Hamburg, und Bücher, darunter Dagmar von Gersdorffs Familiengeschichte "Goethes Enkel", Dejan Enevs Erzählungen "Zirkus Bulgarien" und Nathan Englanders Roman "Das Ministerium für besondere Fälle" (mehr ab 14 Uhr in der Bücherschau des Tages).

Welt, 22.07.2008

Hannes Stein ist ganz verzückt vom neuen Batman-Film "The Dark Knight", besonders Heath Ledger als Joker findet er schön mephistophelisch: "Wie dieser Höllensohn ist der Joker gaga und nihilistisch, allerdings ist er viel gewalttätiger und gemeiner: ein Mephisto, der Anabolika geschluckt hat."

Weiteres: Uwe Wittstock dementiert die vom Germanisten Ettore Ghibellino in die Welt gesetzten Gerüchte, Goethe habe in Wahrheit die Herzogin Anna Amalia geliebt, ihre Hofdame Charlotte sei nur zur Tarnung die Adressatin zahlreicher intimer Briefe gewesen. Wittstock besucht auch Otto Waalkes' Geburtshaus in seinem Heimatkral Emden. Hendrik Werner möchte dem britischen Linguisten David Crystal für dessen Ehrenrettung der SMS gern die Nachricht FUDHUK zukommen lassen (Fall um den Hals und Knuddel).

Im Interview mit Eckhard Fuhr erklärt der Kulturhistoriker Wolfgang Schivelbusch die aktuellen Krisen der Welt und besonders den unaufhaltsamen, unumkehrbaren Niedergang der USA. So weiß er zwar nicht, warum die Banken Fannie Mae und Freddie Mac so kuriose Namen haben, aber er ahnt es: "Ich habe erst an Fred Astaire und Ginger Rogers gedacht und mich gewundert wo ich bin, in Wall Street oder in Hollywood. Ich lese sie als symbolisches Zeichen für den Zustand der gesamten Finanzindustrie. - Ihre mangelnde Seriosität? - Für die Beliebigkeit, für die Luft, für die Sprach- und Sprechblasen."

Besprochen wird die Ausstellung "Starke Frauen" in der Münchner Antikensammlung.

FAZ, 22.07.2008

Necla Kelek schreibt ein Profil der wie ein Geheimbund funktionierenden Sekte des Fethullah Gülen, dessen Name neulich auch im Westen bekannt wurde, weil er an die Spitze der Prospect-Liste der 100 wichtigsten Intellektuellen gewählt wurde. Er versucht dem Islam zwar ein modernes Gesicht zu geben, aber ohne den Koran von der wissenschaftlichen Aufklärung relativieren zu lassen, schreibt Kelek: "Gülen macht nur eines anders als die fatalistisch an die Vorsehung Glaubenden: Er fordert seine Anhänger auf, sich die Welt der Ungläubigen aktiv anzueignen, um sie im Namen des Islams beherrschen zu können. Es geht ihm darum, die gottgewollte und natürliche Herrschaft des Islams über die Welt zu erlangen, weil 'sich alles dem Menschen fügen wird, solange dieser sich Allah fügt'."

Weitere Artikel: Gina Thomas liest Patrick Frenchs bisher nur auf englisch erschienene und vom Porträtierten trotz ihrer Schonungslosigkeit autorisierte Naipaul-Biografie "The World is What it Is" (Auszug). Hannes Hintermeier berichtet, dass Klassikerlektüre an Hamburger Gymnasien keine Voraussetzung mehr für die Erlangung des Abiturs ist. Andreas Platthaus kommentiert den fast etwas enttäuschenden Verkaufsstart der neuen CD von Carla Bruni. Achim Heidenreich hörte Konzerten und Meisterklassen bei den Darmstädter Ferienkursen für Neue Musik zu. Der Kulturwissenschaftler Helmut Lethen schreibt zum frühen Tod des Historikers Heinz Dieter Kittsteiner.

Auf der Forschung-und-Lehre-Seite erklärt Neo Rauch im Gespräch mit Ingolf Kern, warum er nicht länger Professor an der Leipziger Kunsthochschule sein will. Folgendem beängstigenden Umstand ist eine Meldung gewidmet: "Bei der 49. Mathematik-Olympiade, die in der vergangenen Woche in Madrid stattfand, haben die sechs Schüler der chinesischen Mannschaft mit fünf Gold- und einer Silbermedaille den ersten Platz belegt." Auf der Medienseite berichtet Karl-Peter Schwarz, dass das bisher Holtzbrinck gehörende Wirtschaftsblatt Hospodarske Noviny möglicherweise an einen etwas dubiosen Investor verkauft wird.

Auf der letzten Seite berichtet Gerhard Rohde, dass im kommenden Bayreuther "Parsifal" erstmals ein Stuntman mitspielt. Anne-Dore Krohn porträtiert den isländischen Naturschutzaktivisten Andri Snaer Magnason, der sich gegen weitere CO2-neutral mit Wasserkraft betriebene Aluminumwerke auf seiner Insel wehrt. Und Dirk Schümer zeichnet niederländische Diskussionen um einen Geschichtskanon nach.

Besprochen werden ein Konzert des Soulpredigers Solomon Burke beim Jazzfestival von Straubing, Soloplatten von Jakob Dylan und Albert Hammond jr., Ereignisse des Augsburger Festivals "abc - AugsburgBrechtConnected" und Ausstellungen der Bozener Biennale Manifesta 7.

SZ, 22.07.2008

Für den Aufmacher besucht Jörg Häntzschel die Baustelle der großen "Mauer", mit der die USA ihre Grenze zu Mexiko absichern wollen. "Die Zukunft der Grenze kann man fünfzehn Meilen südlich von San Diego erleben, in San Ysidro, dem mit rund fünfzig Millionen Menschen pro Jahr am stärksten frequentierten Grenzübergang der Welt. Auf mexikanischer Seite drängen sich die Hütten von Tijuana, der heute im Drogenkrieg versinkenden einstigen Metropole des billigen Lasters. Auf US-Seite ist über die Jahre ein Dschungel aus Blockaden, Gittern und Überwachungsgerät gewachsen wie aus postapokalyptischer Science-Fiction. Die Landschaft selbst wurde in den Dienst der Grenzsicherung gestellt: Hügel eingeebnet, Bäume gerodet, der Fluss verbarrikadiert." Immerhin gibt es nicht so viele Tote wie an den EU-Grenzen!

Weitere Artikel: Lars Weisbrod beobachtete den Poetry-Slam der Schüler beim Augsburger Brecht-Festival. Alex Rühle betrachtet die chinakritischen Youtube-Videos, die Ariane Mnouchkine ins Netz stellte (mehr hier). Kathrin Lauer meldet, dass antisemitische Organisationen in Ungarn immer wieder den Nazifilm "Jud Süß" vorführen. Janek Schmidt untersucht, inwieweit die HipHopper Barack Obamas Kandidatur unterstützen können, zitiert aber auch ein Buch des skeptischen schwarzen Publizisten John McWhorter: "All About the Beat: Why Hip-Hop Can"t Save Black America" (Website zum Buch und Auszug). Hubertus Breuer unterhält sich mit Lisa Hoffman, die im amerikanischen Exil Oskar Maria Grafs Geliebte war und heute in einer Seniorensiedlung in Southbury, Connecticut, lebt. Auf der Literaturseite schreibt Jens Bisky zum Tod des Historikers Heinz Dieter Kittsteiner. Und auf Seite 1 meldet Tobias Kniebe den erfolgreichsten Kinostart des Jahres in den USA, die neue Batman-Folge mit dem verstorbenen Heath Ledger.

Auf der Medienseite stellt Michael Kläsgen die französischen Internetmedien rue89 (hier) und Mediapart (hier) vor, die innerhalb kurzer Zeit zu wichtigen Stimmen der französischen Öffentlichkeit wurden. Aber wird das Geschäftsmodell der Mediapart-Macher funktionieren? "Sie wollen mit Hilfe von Abonnenten rentabel werden. In drei Jahren seien dazu 55000 Zahler notwendig, nach drei Monaten sind es bislang 8000 - zu wenig, wie die Macher eingestehen. Deswegen erwägen sie, das selbstauferlegte Werbeverbot an bestimmten Stellen zu lockern und verstärkt auf den Leserclub zu setzen. Nach dem Vorbild des südkoreanischen Webjournals Ohmynews sollen so Leser zu Bürgerreportern werden." Immerhin: heute ist mal ein Kommentar des Mediapart-Gründers Edwy Plenel zur "Reform der Institutionen" in Frankreich frei zu lesen.

Besprochen werden die Retrospektive des Malers Dieter Krieg in Stuttgart, Uraufführungen beim Musica viva-Festival in München, eine Einspielung von Mahlers Zweiter unter Roger Norrington und Henning Ahrens' Gedichtband "Kein Schlaf in Sicht".