Heute in den Feuilletons

Eine Träne ohne bestimmte Bedeutung

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
14.08.2008. In der Welt würdigt Adam Krzeminski den Einfluss Solschenizyns in Polen und geißelt sein Schweigen zu Katyn. In der NZZ kritisiert der georgische Autor Devi Dumbadze den ohnmächtigen Nationalismus seiner Landsleute. Die taz porträtiert den US-Komiker Adam Sandler. Die SZ meint: der Kaukasus-Krieg mag ein alter Krieg sein. Er ist aber die Folge ganz neuer Fehler. Die Zeit durfte schon einen Blick in Nabokovs nachgelassenen Roman werfen und annonciert eine Sensation.

Welt, 14.08.2008

Im Forums-Essay würdigt Adam Krzeminski den Einfluss, den Alexander Solschenizyn auch in Polen hatte, bis durch seinen späten Chauvinismus Entfremdung eintrat: "Solschenizyn hatte auch 'keine Zeit', sich zu Katyn zu äußern, als in Putins Russland die alte stalinistische Lesart der polnisch-sowjetischen Beziehungen wieder hoffähig wurde und ein russisches Gericht Klagen der Angehörigen der Ermordeten abwies. Die Solidarität der von der Sowjetmacht Unterdrückten bedeutete ihm wohl schon erheblich weniger als das Bekenntnis zum imperialen Anspruch Russlands."

Im Feuilleton besucht Uwe Wittstock für die Reihe "Neue Museumslust" das Kunstmuseum Siegen, das sich dank tatkräftiger Förderung der Brauereibesitzerin Barbara Lambrecht-Schadeberg, des Rubens-Preises und einer intelligenten Sammlungspolitik großes Renommee erwarb. Matthias Heine untersucht die neue Googlefunktion "Insights for Search", das Tendenzen der Suchhäufigkeit bei bestimmten Suchbegriffen nachzeichnet. Hanns-Georg Rodek freut sich, dass Quentin Tarantino einen Film in Deutschland dreht, in dem Brad Pitt Nazis skalpiert. Sven Felix Kellerhoff liest eine Studie, die sich mit Adenauers Verhältnis zu den Medien befasst. Sören Kittel stellt eine neue Musikzeitschrft vor, die unter dem alten Titel Sounds erscheint. Roman Rhode porträtiert den malischen Musiker Toumani Diabate, der auf dem seltenen Instrument Kora brilliert. Alexander Kluy besucht das von Sauerbruch und Hutton entworfene neue Haus für die Sammlung Bandhorst in München. Marisa Buovolo gratuliert der Regisseurin Lina Wertmüller zum Achtzigsten.

Auf der Filmseite geht's unter anderem um die Verfilmung von Philip Roth' spätem Roman "Das sterbende Tier".

Berliner Zeitung, 14.08.2008

Die Regisseurin und Autorin Nino Haratischwili hat die Kriegstage in Georgien erlebt. Sie beschreibt, was sie sah und schließt: "Die letzten Tage hier, das war eine Agonie, ein Todeskampf, und ich hoffe, dass wir alle gesund wieder aus diesem Kampf erwachen können. Dafür brauchen die Menschen hier Hilfe. Sie brauchen deutliche Worte. Die Welt muss sagen, dass es im 21. Jahrhundert unter einer demokratischen Führung nicht sein darf, dass solch brutale Gewalt angewandt wird, dass Menschen sterben, dass ein ganzes Land von einem anderen Land okkupiert wird. Bomben fallen in diesen Minuten in ganz Georgien weiter: auf Universitätsgebäude, auf Krankenhäuser, auf Fabriken und auf Brücken. Während ganz Tiflis demonstriert, spricht die russische Regierung von 'erreichten Zielen', vom 'Beenden der georgischen Aggression und vom Schutz seiner Bürger'. Über Tschetschenien hat man geschwiegen; die, die darüber gesprochen haben, sind tot. Über Georgien darf man nicht mehr schweigen."

FR, 14.08.2008

Sylvia Staude macht sich einige grundsätzliche Gedanken über den Tanz. So gut wie heute stand er eigentlich noch nie da, muss sie zugeben, und als Bewegungsform war er auch noch nie so wichtig: "Zeitungen, Stammtische sind voll vom Reden über die Schere, die sich derzeit zwischen Arm und Reich weit und weiter öffnet. Doch gibt es eine ebensolche Schere zwischen den sich Bewegenden und den sich nicht Bewegenden. Unser Reichtum an alltäglichen Bewegungen schrumpft, vor allem die in die Weite gehenden - Rennen, Springen, den Speer werfen, Heu machen, den Hof fegen - sterben aus in großen Teilen der Bevölkerung."

Weitere Artikel: Den Aufmacher besorgt Arno Widmann, dem bei der Lektüre des von mehr als siebzig internationalen Autoren bestückten Doppelbandes "Prager Frühling" klar wurde, wie blind einen die Hoffnung macht. In Times mager fragt sich Hans-Jürgen Linke, wie Frank Zappas Witwe Gail und der anhängende Trust Bad Doberan die Zappanale verbieten will, "ohne blöd da zu stehen".

"Diese Olympischen Spiele werden nicht nur als die politischen, sondern auch als die gefälschten in die Geschichte eingehen", bilanziert Daland Segler schon mal die Arbeit chinesischer wie hiesiger Fernsehanstalten.

Besprochen werden der Animationsfilm "Star Wars - The Clone Wars", Tom Schreibers kolumbianischer Arztfilm "Dr. Aleman", Isabel Coixets Philip-Roth-Verfilmung "Elegy", die Schau junger amerikanischer Kunst "Freeway Balconies" in der Deutschen Guggenheim in Berlin, das Stück "Carmen Flamenco" in der Frankfurter Alten Oper.

Tagesspiegel, 14.08.2008

Theaterregisseur Peter Krüger berichtet von seinen Versuchen, telefonischen Kontakt mit seinen Bekannten in Südossetien aufzunehmen. Zum Beispiel zu dem Intendanten Tamerlan Dzudzow: "In Tamerlans 'Hamlet'-Inszenierung ist der skrupellos aufsteigende König Claudius ein bulliger Vollblüter, dessen Ähnlichkeit mit Südossetiens Präsident Eduard Kokoity unübersehbar ist. Kokoity war Freistilringer und Türsteher in einer Moskauer Diskothek, brachte es zum Oligarchen und besitzt Moskaus Vertrauen. Kokoity gefiel der 'Hamlet' und die Aufrichtigkeit von Tamerlan Dzudzow. Im Februar 2007 ernannte er ihn zum Kulturminister. Sonntag, 10. August: Tamerlan ruft gegen 21.30 Uhr an. Er ist niedergeschlagen. Den ganzen Tag war er auf der Suche, hat aber nur sechs seiner 18 Ensemble-Mitglieder auftreiben können. 'Ununterbrochen pfeifen die Katjuschas der Georgier', sagt er. Im Zweiten Weltkrieg wurden die kleinen Raketen Stalinorgeln genannt. "Wollen die uns alle umbringen?"

NZZ, 14.08.2008

Der georgische Medienwissenschaftler Devi Dumbadze glaubt , dass sich Georgien von seinem irrationalen Nationalismus befreien muss, um sich gegenüber Russland erfolgreich behaupten zu können: "Dieser militante Nationalismus, der jeden Bezug zur Realität zu verlieren droht, mag sich besonders aus den Kränkungen der verlorenen Konflikte in Südossetien und Abchasien vor fünfzehn Jahren gespeist haben. Georgien ist gefangen zwischen seiner Unterlegenheit gegenüber Russland (als eigentlichem Feind hinter Abchasen und Osseten), seiner Angewiesenheit auf internationale Hilfe (die jedoch von den Nato-Staaten in militärischer Form nicht kommen wird) und der Selbstanforderung, den schmerzlichen Verlust der territorialen Einheit wettzumachen."

Besprochen werden die Ausstellung des russischen Kulturphilosophen Boris Groys über russische Konzeptkunst "Die totale Aufklärung" in der Schirn Kunsthalle Frankfurt, der Film "Nur ein Sommer" von Tamara Staudt, Roger Donaldsons Krimi "The Bank Job" und Bücher, darunter der Roman "Intent! Oder Die Spiegel des Todes" von Ljubko Deresch, Anna Seghers' Briefe aus den Jahren 1924 bis 1952 sowie das neue Buch des kanadischen Philosophen Charles Taylor "A Secular Age" (mehr ab 14 Uhr in der Bücherschau des Tages).

TAZ, 14.08.2008

Ekkehard Knörer porträtiert den US-Komiker Adam Sandler, dessen "anarchisches Potenzial des Infantilen" auch im Film "Leg dich nicht mit Zohan an" aufblitze. Bleibt nur noch das zentrale Problem jeder Komödie: "Sie muss ausgehen, und auch noch gut. Die Anarchie ist kein Dauerzustand. Alles endet immer mit Ehe, Erwachsenwerden, Friede, Freude, Friseursalon. Das Begehren und die Anarchie werden stillgestellt und entbinden ein utopisches Moment als ihr Ende. Es hat dieses Ende nur regelmäßig und leider auch in 'Leg dich nicht mit Zohan an? eine verdammte Ähnlichkeit mit dem Schlechten, das schon besteht."

Raa. erzählt von dem Streit zwischen dem FAZ-Journalisten Marc Dettweiler und dem Autor und Blogger Peter Glaser. (Interessant an dieser Geschichte ist vor allem, dass die taz, aber auch die meisten Leserkommentare zu Glasers Blogeintrag ignorieren, dass Dettweiler sich auch bei der Stuttgarter Zeitung beschwert hat, für die Glaser eine Kolumne schreibt. Gilt dieses Anschwärzen beim Auftraggeber inzwischen als üblich?)

Besprochen werden außerdem die DVD "Movin' On Up? über den Soulsänger Curtis Mayfield, eine DVD der britischen Sitcom "The Office" und das Buch "Philosophische Anthropologie. Eine Denkrichtung des 20. Jahrhunderts" des Dresdner Soziologen Joachim Fischer (mehr dazu in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr)

Und Tom.

FAZ, 14.08.2008

Im Interview auf der Kinoseite erklärt der britische Regisseur Nicolas Roeg seine Vorliebe fürs nicht Perfekte: "Oft entstehen die schönsten Dinge aus Fehlern, weil es etwa plötzlich regnet. Gott liebt keine Menschen, die ohne Fehler sind."

Weitere Artikel: Michael Althen hat gar keine Lust, das auch ihm vorliegende Drehbuch zu "Inglorious Bastards" zu lesen, dem Film, für den Quentin Tarantino gerade deutsche Schauspieler vorsprechen lässt. Ausführlich äußert sich der Philosoph und Paul-Celan-Exeget Jean Bollack im Gespräch über das Sprach-, Brief- und Liebes-Verhältnis des Dichters zur Dichterin Ingeborg Bachmann. Jürg Altwegg resümiert den französischen Sommer 2008 und den Blues wegen des sportlichen Misserfolgs gerade in Peking. In der Glosse kommentiert Gina Thomas den Umstand, dass britische Neugeborene heute Namen wie Daisy Boo oder Mohammed bekommen, während Richard und erst recht Gertrude aussterben. Lorenz Jäger staunt, dass Wolf Lepenies in einem Welt-Artikel über den Schriftsteller Julien Green dessen sein Leben bestimmenden Glauben gar nicht erwähnte. Die Vielfalt der Kulturen auf der Insel Burgaz vor Istanbul preist Rainer Hermann. Katja Gelinsky informiert über die Schwierigkeiten, die diverse Institutionen in den USA damit haben, sich für die historische Barbarei des Sklavenhaltens zu entschuldigen. Vom Rossini-Festival in Pesaro berichtet Dirk Schümer. Andreas Rossmann freut sich, dass das Disch-Haus in Köln saniert ist. Rüdiger Suchsland gratuliert der Filmemacherin Lina Wertmüller zum Achtzigsten.

Für die Forschung-und-Lehre-Seite hat Kilian Trotier recherchiert, wie es den Unis in München in ihrem fortgeschrittenen Elite-Zustand so geht. Nichts, klagt Andreas Platthaus auf der Medien-Seite, erinnert bei der neuen Musikzeitschrift Sounds an die vor fünfundzwanzig Jahren mit dem Musikexpress verschmolzene Legende gleichen Namens.

Besprochen werden ein grandioses Eric-Clapton-Konzert in Leipzig, die Ausstellung "Meister des Klassizismus - Carl Gotthard Langhans" und Bücher, darunter Ricarda Junges Roman "Eine schöne Geschichte" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

SZ, 14.08.2008

Für nicht unplausibel hält Gustav Seibt die Ansicht des neokonservativen McCain-Beraters Robert Kagan (mehr), die Auseinandersetzung zwischen Russland und Georgien bedeute die Rückkehr zum "ganz altmodischen Machtkrieg um territoriale und wirtschaftliche Interessen". Seibt fragt aber auch: "Ist die heutige russische Stärke nicht auch die Folge jenes leichtfertig in den Sand gesetzten Irak-Unternehmens, das Kagan selbst mit seinen vorhergegangenen Zuspitzungen eifrig befördert hat? Der kurze, noch undeutliche Krieg um Georgien mag ein alter Krieg sein. Er ist aber die Folge ganz neuer Fehler."

Weitere Artikel: Andrian Kreye war beim einhundertsten "Midnight Ramble" - wie der ehemalige "The Band"-Schlagzeuger Levon Helm seine allmonatlichen Konzerte mit Freunden in einer Scheune nahe Woodstock nennt. In der Serie "Was weiß die Wissenschaft vom Ich?" weiß der Philosoph Manfred Wetzel jedenfalls dies: das Subjekt lebt. Harald Eggebrecht erinnert zu dessen hundertfünfzigstem Geburtstag an den Geiger und Komponisten Eugene Ysaye. Wolfram Ax schickt dem Alt-Philologen Carl Joachim Classen zum Achtzigsten einen Geburtstagsgruß.

Auf der Kinoseite berichtet Fritz Göttler vom Filmfestival in Locarno, wo die Regie-Gehversuche von Michel Houellebecq (der das persönliche Erscheinen verweigerte) und Alessandro Baricco wenig überzeugten. Susan Vahabzadeh gratuliert der Filmemacherin Lina Wertmüller und Fritz Göttler - allerdings im allgemeinen Feuilleton - dem Regisseur Nicolas Roeg zum Achtzigsten. Rezensionen gibt es zu den Filmen "Elegy", "Dr. Aleman" und "Beautiful Bitch".

Besprochen werden eine Reihe von Büchern, darunter Norbert Krons Roman "Der Begleiter" und Neues von Gerhard Polt mit dem Titel "Drecksbagage" - und auf der Medienseite rezensiert Hans Leyendecker den neuen Krimi von Ulrich Wickert (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Zeit, 14.08.2008

Malte Herwig durfte einen Blick auf jene legendenumwobenen Karteikarten werfen, auf die Vladimir Nabokov kurz vor seinem Tod seinen letzten Roman "The Original of Laura" schrieb und die Dmitrij Nabokov gegen den Willen seines Vaters nicht verbrannt hat: "Große Kunst ist 'The Original of Laura' zweifellos. Die vollständige Veröffentlichung dieses um ein Haar vernichteten, lang geheimen Romanfragments im Herbst nächsten Jahres im Rowohlt Verlag lässt eine literarische Sensation erwarten."

Die Karten 9 bis 12 sind im Faksimile abgedruckt und übersetzt: "Ihre geschminkten Augenlider waren geschlossen. Eine Träne ohne bestimmte Bedeutung schmückte den harten oberen Teil ihrer Wange wie ein Edelstein. Niemand konnte sagen, was in diesem kleinen Kopf vorging."

Nächste Woche läuft nun auch in Deutschland der Batman-Film "The Dark Knight" an, der amerikanische Filmtheoretiker und Autor Jerome Charyn schwärmt noch einmal vom "Thrill von Anarchie und Chaos", der im Film herrscht. Und von Heath Ledger als verstörend dunklem Joker, gegen den Jack Nicholson geradezu lustig war: "Ledger spielte den Joker radikal, mit einer schockierenden Dosis von Zerstörung und und Selbstzerstörung. Irgendwie ist es nicht verwunderlich, dass er den Joker nicht überlebt hat."

Weitere Artikel: "Auf zu Verdi-Versace in Alfa-Verona", spottet Thomas Assheuer über Berlusconis Pläne, Italiens Kulturgüter an private Investoren zu verhökern. Zwiegespalten beobachtet Andreas Rosenfelder, wie Computerspiele ihr monströses Image loswerden und in der Mitte der Gesellschaft ankommen: "Wo einstmals düstere Parallelwelten im Licht sporadischer Blitze flackerten, da ist eine Mischung aus Fitnessraum und Streichelzoo aus dem Boden gewachsen." Gerhard Jörder sieht sich an, wie an der Berliner Universität der Künste Theaterautoren ausgebildet werden. Trotz seines späteren Scheitern, schreibt Karl Bruckmaier zum Tod des Soul-Sängers Isaac Hayes, bleibe von ihm "mehr wunderbare Musik, als die meisten Menschen zu schaffen je in der Lage sein werden".

Besprochen werden eine Schau von Mariella Moslers Süßigkeiten-Kunst im Hamburger Ernst Barlach Haus, die Aufführung von Bela Bartoks "Herzog Blaubarts Burg" bei den Salzburger Festspielen, Randy Newmans offenbar langersehnte neue CD "Harps and Angels" und ein Album der Jazzpianistin Jutta Hipp.

Im Aufmacher des Literaturteils preist der Historiker Jörg Baberowski Orlando Figes' Buch über das alltägliche Leben unter Stalin "Die Flüsterer".