Heute in den Feuilletons

Formen menschlicher Zusammenrudelung

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
02.09.2008. Mit Erleichterung nehmen die Feuilletons das Ende des Bayreuther Erbfolgekriegs auf, die FAZ wittert allerdings den Bierzimmerdunst der erfolgreichen Intrige. Die taz bewundert die großen Ohren und feinen Hände Günter Grass'. In der FR sieht Juri Andruchowytsch die Zukunft der Ukraine trotz zunehmender russischer Feldzüge positiv. In der SZ schreibt Navid Kermani über den Konflikt in Kaschmir.

FR, 02.09.2008

Alles in allem nicht unzufrieden ist Hans-Jürgen Linke mit der nun gefundenen, wenig überraschenden Nachfolge für Wolfgang Wagner in Bayreuth: "Da das bisherige Rückgrat der Bayreuther Festspiele, nämlich die dynastischen Eigentumsverhältnisse, ohnehin nicht mehr existiert, ist die grundlegendste aller möglichen Änderungen schon vor jeder Nachfolgeregelung beschlossene Sache gewesen. Ein Zeitalter ist auf dem Grünen Hügel zu Ende gegangen. Das Neue, das jetzt kommt, kennen wir, bis auf ein paar möglicherweise originelle Details, längst von überall. Und Nike Wagner kann auch froh sein, die Bayreuther Leitung nicht übernehmen zu müssen. Sie hätte nie, wie Katharina, einfach weitermachen dürfen. Sie hätte vieles verändern und alles begründen müssen."

Der ukrainische Schriftsteller Juri Andruchowytsch sieht die Lage seines Landes trotz der neuen russischen Großmachtpolitik eher optimistisch: "Was die Ukraine betrifft, so sehe ich jetzt schon Versuche des Westens, im Voraus etwas zu machen, um den Konflikt zu verhindern. Zum Beispiel wurde aus Brüssel zum ersten Mal erklärt, dass die Europäische Union schon jetzt die Beitrittsmöglichkeit für die Ukraine formulieren solle. Das ist für mich ein klares Signal, dass die Ukraine ein Mitglied der EU wird."

Weitere Artikel: Gerd Höhler berichtet von Auseinandersetzung und Boykottdrohungen in der Türkei im Vorfeld des diesjährigen Auftritts als Gastland der Frankfurter Buchmesse. Daniel Kothenschulte ist angesichts des insgesamt schwachen Wettbewerbs in Venedig glücklich, dass wenigstens der große Animationsfilmer Hayao Miyazaki nicht enttäuscht hat. Den japanischen Komponisten Toshio Hosokawa porträtiert Gerd Döring. Über die Anstrengungen Weimars, sich selbst zu finden, informiert Roland Mischke. Hans-Jürgen Linke widmet der neuen Servicegebühr für Bahnschalterbedienung eine Times Mager.

Besprochen werden ein Konzert des Stuttgarter Festivalensembles unter Helmuth Rilling beim Rheingau Musik Festival, ein Konzert von Nils Wograms Trio "Nostalgia" im Frankfurter Historischen Museum und Deon Meyers neuer Krimi "Weißer Schatten" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

TAZ, 02.09.2008

Einen "Livebericht aus dem Thalia-Theater unter Würdigung der neuen Schrift" nennt Dirk Knipphals seine Zusammenfassung der Buchpräsentation von Günter Grass? neuem Werk "Die Box" am Sonntag im Hamburger Thalia-Theater. "Es ist auch tatsächlich interessant, ihn zu beobachten. Seinen britisch aussehenden Anzug jenseits aller Moden. Seine leicht abgestoßenen Schuhe. Seine großen Altmännerohren. Seine erstaunlich feinen Hände. Irgendwann registriert man, dass so detailversessen Kinder ihre Eltern beobachten."

Robert Misik widmet sich einem Literaturessay von Meghan Falvey mit dem Titel "Die Frauen, das neueste Sozialproblem" erschienen in N+1, einem unter New Yorks Linksintellektuellen schwer angesagten Magazin. Die Autorin ventiliert darin das Themenfeld "politische Ökonomie der Liebe" mit der Kernthese: "Der Single sei gewissermaßen im Liebesleben das, was im Geschäftsleben der Freelancer ist, stets fit, immer änderungsbereit." Für keine gute Idee hält Marcus Woeller Bemühungen des Modemachers Helmut Lang, sich im Rahmen des Spätsommerspektakels "Hannover Goes Fashion" in der Kestnergesellschaft als Künstler zu versuchen: "Alles gleich schwer" habe er seine Ausstellung genannt, "sich die Sache aber ziemlich leicht gemacht". Im "lidokino" stellt Christina Nord den Film "Z 32" des Israelis Avi Mograbi vor, der in der Reihe "Orrizonti" lief und die Erinnerungen israelischer Soldaten dokumentiert.

Auf der Meinungsseite schlägt sich der Soziologe Michal Bodemann in der Debatte um Israelkritik und Antisemitismus auf die Seite von Evelyn Hecht-Galinsky - oder zumindest gegen Henryk M. Broder, der zusammen mit seinem Internetmilieu die Israelkritiker erfolgreich eingeschüchtert habe: "Vor allem in Deutschland kann der Antisemitismus-Vorwurf tödlich sein, und so hüten sich viele Juden wie Nichtjuden davor, den Mund aufzumachen. Gerade Teile der deutschen Linken sind hier nun wirklich 'eingeknickt' - womit wir wieder beim Prozess von Hecht-Galinski gegen Henryk Broder wären. Auch wer nicht ihrer Meinung ist, muss anerkennen, dass sie den Mut aufbringt, in diesem überängstlichen, feigen Milieu die israelische Politik zu kritisieren." (mehr zur Diskussion hier und hier)

Besprochen wird der Comic "Blutspuren" der israelischen Zeichnerin Rudu Modan.

Und hier Tom.

Welt, 02.09.2008

Mit einem Stoßseufzer der Erleichterung nimmt Manuel Brug auf, dass der "längste Stellungskrieg in der Welttheatergeschichte" in Bayreuth zu Ende gegangen ist. Einverstanden ist er auch mit der Entscheidung des Stiftungsrats für Katharina und Eva Wagner, gegen Nike Wagner und den hastig ins Boot gesprungenen Gerard Mortier: "Aber deren Opernrezepte von gestern konnten auch in persona vorgetragen offenbar nicht wirklich überzeugen. Es siegte der Pragmatismus auf der ganzen Linie."

Weiteres: Eckhard Fuhr berichtet von Günter Grass' Lesung in Hamburg, bei der tatsächlich eine Handvoll neurechter "Spontis" aufgeschlagen sind, wie Fuhr selbst noch ganz baff erzählt. In der Randspalte versteht Uta Baier nicht, wie sich der Papst zu einer Reaktion auf Martin Kippenbergers Kreuzesfrosch im Bozener Museion hat provozieren lassen - "zu klein ist die Idee". Klaus Honnef verabschiedet sich mit der Deutschen Gesellschaft für Fotografie vom analogen Bild.

Besprochen werden der Roman "Motel Life" des Richmond-Fontaine-Sängers Willy Vlautin und die Deutschland-Tournee des venezolanischen Jugendorchesters Simon Bolivar.

NZZ, 02.09.2008

Joachim Güntner meldet den Führungswechsel in Bayreuth. Kommentatorin Marianne Zelger-Vogt hätte eine "intellektuelle Neuausrichtung" der rein dynastischen Lösung vorgezogen: "Die Öffnung, die Katharina Wagner in jüngster Zeit vollzogen hat, war vor allem eine mediale, auf Breitenwirkung zielende. Für eine Institution dieser Bedeutung und Tradition kann das nicht genügen."

Weitere Artikel: Hubertus Adam inspiziert das neue Römermuseum von Gatermann & Schossig in Xanten, Thomas Burkhalter hätte von John Zorns Auftritt beim vorgestern zu Ende gegangenen Jazzfestival Willisau noch etwas mehr erwartet. Außerdem besichtigte Cornelia Isler-Kerenyi Steinzeitkunst im Historischen Museum Olten.

Besprochen werden Robert Spaemanns "Rousseau - Mensch oder Bürger", eine Auswahl von Federico Garcia Lorcas Gedichten und zwei Erzählungen von Jiri Weil.

(Mehr dazu in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr)

SZ, 02.09.2008

Unter der Überschrift "Kampf ums Paradies" wundert sich der Schriftsteller Navid Kermani, dass man hierzulande kaum etwas über den Konflikt in Kaschmir erfährt, wo 600.000 indische Soldaten stationiert sind: "Als ich Kaschmir im letzten Herbst bereiste, schien der Aufstand sich erschöpft zu haben. Fed up war der Ausdruck, den ich mit Abstand am häufigsten hörte, fed up von den nächtlichen Durchsuchungen, den Ausweiskontrollen, den Straßensperren, den Verhaftungen, Vergewaltigungen und Entführungen, die alle relevanten Menschenrechtsorganisationen dokumentieren, fed up vor allem von der Willkür dieser fremden Soldaten, die mit ihren geladenen Maschinengewehren noch die Hühnerställe zu bewachen scheinen. Nicht zu überhören war, dass die Kaschmiris immer noch den Ruf nach Azadi im Herzen tragen, nach Freiheit, doch ungleich dringlicher schien der Ruf nach Frieden. So überraschte es mich nicht, als die indische Regierung verkündete, den militanten Widerstand besiegt zu haben. Nun ist, wie aus dem Nichts und ohne viel Zutun der politischen Führer, eine Protestbewegung entstanden, die so groß ist wie jene von 1989."

Weiteres: Gustav Seibt war im Oderland unterwegs und schildert eine Sommerreise zu den Schauplätzen von Theodor Fontanes Roman "Vor dem Sturm". "Sprachliche Genauigkeit und Rücksichtslosigkeit gegen sich selbst" bescheinigt Johannes Willms dem Ton des neuen, gerade in Frankreich erschienenen Buchs von Catherine Millet "Jour de souffrance", eine Selbstanalyse krankhafter Eifersucht, das mit ihrem Bestseller "Das sexuelle Leben der Catherine M." "auf vertrackte Weise verschränkt" sei. In der Reihe "Was weiß die Wissenschaft vom Ich?" schreiben der Volkswirtschaftler Gert G. Wagner und der Neurowissenschaftler Bernd Weber über Gehirnökonomie. Und in der Kolumne "Zwischenzeit" betreibt Evelyn Roll angesichts einer immer vertrackteren Tätigkeitsbeschreibungsprosa heiteres Beruferaten. Etwas "Änderungsschneiderei" hält Volker Breidecker in seinem Resümee für das 28. Erlanger Poetenfest für ratsam und beklagt in einem weiteren Artikel den Abbau der Orientforschung an der Mainzer Universität.

Besprochen werden die große Tracey Emin-Ausstellung in der Scottish National Gallery of Modern Art in Edinburgh, der Film "Tage des Zorns" mit Mads Mikkelsen, die Dokumentation "Trouble the Water" der New Yorker Filmemacher Carl Deal und Tia Lessin über das Überleben in New Orleans im Hurrikan "Katrina", das Finalstück des Berliner Festivals "Tanz im August" und Bücher, darunter zwei Männerbücher: "Was vom Manne übrig blieb" von Walter Hollstein und "Das unmoralische Geschlecht" von Christoph Kucklick (mehr dazu in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

FAZ, 02.09.2008

Patrick Bahners leitartikelt ganz schlecht gelaunt auf der Titelseite zur Wagner-Entscheidung des Stiftungsrat, bei dem die FAZ-Kampagne für Gerard Mortier und Nike Wagner nicht gefruchtet hat: "Ausgerechnet in dem Moment, da die Festspiele in das Eigentum der öffentlichen Hand übergehen, ist ein Leitungsteam aus dem Kreis der Nachkommen des Gründers eingesetzt worden, dem noch nicht einmal die Mehrheitsmeinung der Familie die Aufgabe zutraut. Zu Recht wundert sich Mortier darüber, dass eine öffentliche Ausschreibung nicht stattfand. Der Bierzimmerdunst der erfolgreichen Intrige liegt als Schatten auf dem Neuanfang nach 57 Jahren Wolfgang Wagner. Es gilt das Wort Katharina Wagners: 'Bayreuth hat sich immer auch durch eine gewisse Provinzialität ausgezeichnet.'"

Weitere Artikel: Der Kirchenrechtler Axel Freiherr von Campenhausen warnt vor der Einführung einer "fakultativen Ziviltrauung" - d.h. der Möglichkeit, entweder nur kirchlich oder nur standesamtlich, beides mit rechtlicher Bindekraft, zu heiraten, nicht zuletzt weil er Schlimmeres befürchtet: "Es würden beim Anrühren einer solchen Reform auch sofort Stimmen laut werden, die ganz andere Formen menschlicher Zusammenrudelung propagierten als die immer noch von der Verfassung geschützte, grundsätzlich lebenslange Einehe eines Mannes und einer Frau." Oliver Jungen berichtet vom Erlanger Poetenfest (Website), wo es - neben den AutorInnenlesungen natürlich - unter anderem um das Sachbuch, das Urheberrecht und den Feminismus ging. Michael Althen hätte sich in Venedig im Wettbewerb in den letzten Tagen so ziemlich zu Tode gelangweilt, wäre da nicht in einer anderen Reihe ein Dokumentarfilm über Antonioni gelaufen. Arno Orzessek informiert über den Streit um die Spreeufer-Bebauung ("Mediaspree") in Berlin-Friedrichshain.

In der Glosse staunt Andreas Kilb über Wladimir Putin, der kam, sah und vor laufender Kamera einen Tiger betäubte. Martin Wittmann porträtiert den Schauspieler Christoph Waltz, der nun bei Tarantino einen SS-Oberst spielen wird. Wolfgang Sandner gratuliert dem Jazzmusiker Horace Silver zum Achtzigsten. Auf der Forschung-und-Lehre-Seite erfahren wir von Catherine Grim, dass Schlaf jüngsten Studien zufolge nicht nur "nützlich", sondern wirklich und wahrhaftig im ganzen Tierreich auch "notwendig" zu sein scheint. (Man weiß aber immer noch nicht so recht, wozu er eigentlich ganz genau gut ist.)

Kerstin Holm informiert auf der Medienseite über den Tod eines Regimekritikers in Inguschetien, der von der Opposition als "politischer Mord" bezeichnet wird. Der Jurist Magomed Jewlojew betrieb die präsidentenkritische Website ingushetiya.ru.

Besprochen werden ein Konzert des Osnabrück-Teheran-Kammerorchesters mit Bach in Teheran, das Mode-Kunst-Event "Hannover Goes Fashion", "Hey Ma", die neue Platte von James, und Bücher, darunter Rutu Mudans Comic "Blutspuren" über ein Selbstmordattentat in Israel (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).