Heute in den Feuilletons

Ein Faltenwurf, so schön wie vergänglich

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
03.09.2008. Die Welt schildert, wie in Thailand königstreue Traditionalisten gegen neonationalistische Neureiche um die Macht kämpfen. Die FR liest das Menetekel von New Orleans. In der SZ spürt Ralph Hammerthaler einem Bild von Neo Rauch im Archiv von Beeskow nach. Die NZZ ärgert sich über den schlechten Wettbewerb von Venedig. Im Blog Parallel Film streiten die Regisseure Christoph Hochhäusler und Marco Kreuzpaintner darüber, wie viele Filme man für zehn Millionen Dollar drehen sollte.

Welt, 03.09.2008

Marko Martin erklärt, was gerade in Thailand vor sich geht und warum sich die Intellektuellen aus dem derzeitigen Machtkampf heraushalten: "Alte gegen neue Elite, königstreue und armeenahe Traditionalisten gegen populistisch-neonationalistische Neureiche. Und die Intellektuellen? Sie haben, soweit unkorrumpiert und nicht mit einer der beiden Kräfte verbandelt, inzwischen verstanden, dass es hier um reine Pfründe anstatt um divergierende Werte geht. Im September 2006 war dies noch anders gewesen, da hatte so mancher das unblutige Eingreifen der Streitkräfte begrüßt, um den zunehmend selbstherrlich agierenden und die Medien strangulierenden Premier Thaksin loszuwerden - trotz dessen unbestreitbarer Verdienste bei der Armutsbekämpfung."

Weiteres: Peter Zander wartet in Venedig zunehmend ungeduldig auf die guten Filme. Genervt zeigt sich Manuel Brug vom Berliner "Tanz im Augst": "Tanz ist out, es geht um Hirnströme, um Bewusstsein, um das Warum und Wie, das Dahinter und und Darum, aber ja nicht um Choreografie. Sondern, wie im 'Gänseblümchen'-Fall um das letzte Tabu, den 'Anus in der Choreografie'."

Besprochen werden Timur Bekmambetovs Action-Thriller "Wanted" mit Angelina Jolie, eine Schau zur Kunst der Pietre Dure im New Yorker Metropolitan Museum, die Ausstellung "Vertrautes Terrain" im Karlsruher ZKM, eine offenbar recht fehlerhafte Biografie des Hitler-Gegners Hans Oster und das ARD-Drama "Mein Mann, der Trinker.

FR, 03.09.2008

Christian Thomas begreift die Evakuierung von New Orleans als "Menetekel": "Der Aufruf (von Bürgermeister) Nagin bedeutete nicht nur die Kapitulation vor den Naturgewalten angesichts der seit 'Katrina' versäumten Sicherungsmaßnahmen, geschuldet dem Schlendrian und der Korruption, sondern die Selbstaufgabe einer urbanen Agglomeration... New Orleans ist vom Glauben an die Stadt abgefallen."

In einer Times Mager denkt Harry Nutt über das drohende Ende des Berliner Friedrichstadtpalasts und das sichere Ende des Flughafens Tempelhof nach.

Besprochen werden die Ausstellung "Vertrautes Terrain" im Karlsruher ZKM, die letzte CD "Leucocyte" des Esbjörn Svensson Trios, das neue Calexico-Album "Carried to Dust" und Alina Bronskys Roman "Scherbenpark" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

TAZ, 03.09.2008

In der Kolumne "Schriften zu Zeitschriften" wirft Tobias Rapp einen Blick in die aktuellen Ausgaben von Spex und Liebling und entdeckt darin ein neues Modebewusstsein. "Spex versucht Fashion zum Teil seines Begriffs von Popkultur zu machen, für Liebling ist alles Mode. Von der Inflation über Daniel Richter bis zu Daniel Kehlmann. Ein Faltenwurf, der so schön wie vergänglich ist, man betrachtet ihn, und schon ist er wieder weg ... Ewigkeit im Wegwerfverfahren. ... Die ewigen Klaus-Lemke-Geschichten reichen allerdings langsam. Auch Liebling mag nicht auf den Münchner Undergroundregisseur verzichten: Ja, der Typ ist eine coole Sau. Wir haben verstanden. Aber wenn es in Deutschland niemand anders gibt, um ein 68 ohne 68er abzubilden, sollte man den Versuch langsam einstellen."

Auf den Tagesthemen-Seiten befasst sich Ben Schwan mit Googles Ankündigung, mit einem eigenen Browser einen neuen Angriff auf Microsoft zu versuchen: "Im Zweifelsfall stand man zwar stets auf der Seite der Mozilla-Stiftung, half ihr unter anderem mit Programmierern aus. Doch ein direktes Gegenprodukt zum Internet Explorer entwickelte der Konzern nie. Bis heute. Jetzt rückt Google mit der Entwicklung eines eigenen Browsers auf den Markt. Die Software nennt sich 'Chrome' - und sie ist ein radikales Konzept. Google wirft viel technischen Ballast weg, macht die Software schneller und sicherer, will alle guten Dinge der Browser-Welt bewahren, die schlechten aber fallen lassen. Gleichzeitig ist es jedoch ein echter Griff nach dem ganzen Netz: In einer Welt, in der Google Chrome die PCs dominiert, dominiert Google das Interneterlebnis von A bis Z."

Unter der Überschrift "Haiders Klone" analysiert Robert Misik die Identitätskrise des konservativen Milieus in Österreich, wo inzwischen gleich vier (Mitte-)Rechts-Parteien Chancen haben, ins Parlament einzuziehen. Johanna Schmeller informiert über das Scheitern eines Kunstprojekts: Die Stadt München gab dem Hörspielmacher Andreas Ammer Geld für eine Dokumentaroper über das Geiseldrama der Olympischen Spiele 1972, nun stellen sich die Verkehrsbetriebe quer. Im "Lidokino" lobt Christina Nord Marco Bechis Wettbewerbsbeitrag "Birdwatchers" über die Landnahme einer Gruppe brasilianischer Indianer, der nicht in die Falle der Dichotomie von edler Ursprünglichkeit und Unheil bringender Zivilisation geht. Und in tazzwei behauptet Frank Zander im Interview: "Ich war der erste deutsche Rapper."

Schließlich Tom.

Aus den Blogs, 03.09.2008

Versteckt in den Kommentaren des Blogs von Filmemacher Christoph Hochhäusler ("Falscher Bekenner") ist eine hoch interessante Diskussion in Gang gekommen über Filmförderung in Deutschland. Hochhäusler hatte geschrieben: "Ich weiß, es ist hässlich und anstößig, Filme mit- und gegeneinander zu verrechnen. Aber da weder Fördervolumen noch Sendermittel steigen, bedroht die Tendenz zum 'Großfilm' die Vielfalt. Alle Filme von Christian Petzold zusammengenommen haben zum Beispiel soviel wie ein 'Krabat' gekostet (10 Millionen). Oder anders ausgedrückt: ein 'Krabat' hat - mindestens für die betreffende Fördersaison - acht andere Filme verhindert."

Marco Kreuzpaintner, der Regisseur der Otfried-Preußler-Verfilmung "Krabat", antwortet (vorletzter Kommentar-Eintrag): "Letztenendes ist mir ein 100 Million Dollar teurer Film, der gut ist, bewegt, humanistisch ist und versucht nicht selbstgefällig, sondern FÜR EIN PUBLIKUM, für andere Menschen, in bestem Wissen und Gewissen zu erzählen lieber als ein fuer 1 Mio. Euro gemachter schlechter Film, der vielleicht self-important und nur gut gemeint ist. Ich spreche hier nicht fuer Kommerz, sondern für Herz."

Hochhäusler diskutiert entschlossen weiter: "Da wir in einem 'halbseitig planwirtschaftlichen' System arbeiten - und die Mittel begrenzt sind - ist jede Entscheidung politisch. Wir können uns nicht hinter der scheinbaren Objektivität des Marktes verstecken. Es muss darüber gestritten werden, welche Filme sich 'das deutsche Volk' leisten soll - und wie teuer sie sein dürfen. Aber diese Debatte (die wir auch dem Steuer- und Gebührenzahler schulden) findet kaum statt. Dafür werden Realitäten geschaffen. Zum Beispiel, warum auch nicht, mit 'Krabat'."

Tagesspiegel, 03.09.2008

Heute steht das Urteil im Prozess gegen Henryk. M. Broder an, mit dem Evelyn Hecht-Galinski diesem verbieten lassen will, sie antisemitisch zu nennen, berichtet Alex Feuerherdt: "Evelyn Hecht-Galinski selbst wollte sich gegenüber dem Tagesspiegel nicht äußern, aus 'Respekt vor dem gerichtlichen Entscheidungsprozess', wie ihr Anwalt Gernot Lehr mitteilte. Zuvor hatte sie jedoch manches gesagt, was Broders Ansicht zu bestätigen scheint. So beklagte sie in Interviews und Leserbriefen mehrfach die angebliche Macht einer 'jüdisch-israelischen Lobby', die Kritiker der israelischen Politik 'mundtot machen' wolle und hinter der die deutschen Medien verschwänden. Den Vergleich der palästinensischen Autonomiegebiete mit dem Warschauer Ghetto, für den die deutschen Bischöfe Gregor Maria Hanke und Walter Mixa im März 2007 heftige Kritik einstecken mussten, hält sie für 'moderat'."

NZZ, 03.09.2008

Susanne Ostwald muss ihrem Ärger über eine miserable erste Halbzeit des Filmfests Venedig Luft verschaffen. So schlecht war Venedig schon lange nicht mehr: Totgeburten der Filmförderung, Konventionalität und unerträglicher Kitsch, wohin das Kritikerinnenauge blickt. Einzig der Einfallsreichtum von "Ponyo on the Cliff by the Sea", dem neuen Anime von Hayao Miyazaki konnte die Kritikerin überzeugen. Die von Hans Christian Andersens "Die kleine Meerjungfrau" inspirierte Geschichte vom Goldfischmädchen Ponyo, das aus Liebe ein Mensch werden will, zünde ein visuelles Feuerwerk.

Weitere Artikel: Martina Wohlthat schwärmt von drei Auftritten des Cleveland Orchestra unter der Leitung von Franz Welser-Möst beim Lucerne Festival. Marc Zitzmann blickt nach Frankreich, wo der Louvre durch neue Verleih-Projekte in Atlanta, Lens und Abu Dhabi zwar enorme Leihgebühren einkassieren wird, aber dafür seinen Ruf aufs Spiel setzt. Zitzmann empfiehlt Frankophonen Didier Rykners Seite zur Lektüre, wo der Kunsthistoriker seit Jahren die Louvre-Pläne geißelt.

Besprochen werden Bücher zum Leben Mohammeds: Hans Jansens "Mohammed - Eine Biografie", Tilman Nagels "Mohammed - Leben und Legende" und "Allahs Liebling - Ursprung und Erscheinungsformen des Mohammedglaubens". Außerdem Floortje Zwigtmans Künstlerroman "Ich, Adrian Mayfield" und der Jugendthriller "The Road of the Dead" von Kevin Brooks (mehr dazu in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

FAZ, 03.09.2008

Der Schriftsteller Ulf Erdmann Ziegler kann, nicht zuletzt aufgrund persönlicher Erinnerungen an die BRD und die DDR, nur lachen über Hans-Ulrich Wehlers unterkomplexen Gesellschaftsvergleich: "Mich amüsiert Hans-Ulrich Wehlers 'Gesellschaftsgeschichte', obwohl dies gewiss nicht in der Absicht des Autors gelegen sein kann. Sie ist durchsetzt von politischen Wünschen und flaggenschwenkenden Ideologemen. In seiner Geschichtsschreibung nimmt die Bundesrepublik den großen und eigentlichen, die DDR den kleinen und uneigentlichen Teil der Erinnerung ein... Es stimmt, dass das Grundgesetz stark genug war, um die Akte des Staatsapparats der DDR zu schließen. Für die Mentalitätsgeschichte aber bedeutet das nicht das Ende, sondern den Beginn. O Bielefeld! Schade, dass Niklas Luhmann nicht gelebt hat, um den Systemvergleich systemzuvergleichen. Luhmann nämlich war nicht nur fleißig. Er hatte Herz."

Weitere Artikel: Die aufsehenerregende Geschichte, wie ein Forscher eher zufällig das mutmaßliche Selbstbildnis des Malers Robert Campin auf einem sechshundert Jahre alten Gemälde (hier auf dem linken Bild im Edelstein des Rings) entdeckte, erzählt Dieter Bartetzko. Ioan Holender kommentiert mit Spitzen gegen eigentlich alle Seiten die Entscheidung des Bayreuther Stiftungsrats, der ihn in seiner Geschlossenheit an das "Zentralkomitee der nordkoreanischen KP" erinnert. Matthias Hannemann macht darauf aufmerksam, dass unter der Adresse www.parlamentarischerrat.de Foto- und Tondokumente zur Entstehung des Grundgesetzes vor sechzig Jahren abrufbar sind. Mark Siemons rekonstruiert, wie in China - seiner Darstellung zufolge aufgrund westlicher Einflüsse - Behinderte zunehmend ausgegrenzt wurden - und stellt fest, dass das Land anlässlich der Paralympics große Integrationsanstrengungen unternimmt. Sehr beeindruckend fand Michael Althen in Venedig Marco Bechis mit Indio-Laien gedrehter Film "Birdwatchers"; als nicht durchweg überzeugendes, aber doch "bewegendes Alterswerk" lobt er Werner Schroeters Film "Nuit de chien".

Paul Ingendaay berichtet, dass der spanische Untersuchungsrichter Baltasar Garzon eher unerwartet bereit ist, die Verbrechen des Spanischen Bürgerkriegs aufzuklären. Andreas Rossmann war dabei, als in Corvey bei Höxter Raoul Schrotts Übersetzung der "Ilias" zum Vortrag kam. Gerhard Rohde porträtiert Markus Hinterhäuser, seit 2007 Konzertchef der Salzburger Festspiele. In der Glosse gratuliert Hannes Hintermeier der deutschen Ausgabe von "Reader's Digest" zum Sechzigsten. Glückwünsche für die britische Dramatikerin Caryl Churchill zum Siebzigsten kommen von Gina Thomas. Wolfgang Günter Lerch schreibt zum Tod des türkischen Lyrikers Ilhan Berk.

Auf der DVD-Seite freut sich Regisseur Dominik Graf sehr über das lange erwartete Erscheinen einer Edition von Alain Resnais' kaum bekanntem Science-Fiction-artigem Film "Je t'aime, je t'aime". Empfohlen wird daneben unter anderem auch eine Ausgabe von Vittorio de Sicas Klassiker "Fahraddiebe".

Besprochen werden eine Wagner- und Mahler-Gala beim Schleswig-Holstein-Musikfestival in Lübeck, Andreas Dresens Film "Wolke neun", und Bücher, darunter die neue Übersetzung von Cesare Paveses Roman "Die einsamen Frauen" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

SZ, 03.09.2008

Ralph Hammerthaler, diesjähriger Burgschreiber in Beeskow, schreibt in einem Text über das Archiv in Beeskow, das die Kunst der DDR hortet, auch über ein Bild von Neo Rauch, das dieser am liebsten verstecken möchte: "Die Kreuzung" von 1984. "Dass sich ein Künstler von seinem Frühwerk distanziert, mag man eigentlich gar nicht glauben, weil ohne Bewusstsein für die eigene Geschichte. Es könnte also am Kunstmarkt liegen, dem man keinerlei Verstörung durch biografische Brüche zumuten möchte. Ach, die Preise. Kein Wunder folglich, dass Gerd Harry Lybke, Rauchs Galerist von Eigen + Art, mir eine, wenngleich freundlich verfasste Absage erteilt. Nichts mehr mit Mann gegen Mann vor der 'Kreuzung'. Heute ist Neo Rauch zu feige dazu. Oder zu berühmt. Was nicht selten dasselbe ist."

Weitere Artikel: Mit leichter Wehmut nimmt Johan Schloemann die Einstellung der Fähre namens "Vogelfluglinie" zur Kenntnis, die durch das ehrgeizige Brückenbauprojekt zwischen der deutschen Insel Fehmarn und dem dänischen Lolland überflüssig wird. Als das "größte, anstrengendste und faszinierendste Unternehmen in Sachen historischer Aufführungspraxis" resümiert Reinhard J. Brembeck das Festival Oude Muziek in Utrecht. Andreas Zielcke kommentiert das neue Bayreuth-Modell, bei dem durch die Übertragung der Eigentümerposition auf Stadt, Land und Gemeinde die Sorge für das "Fortleben des Mythos" nun in öffentlicher Hand liege. Susan Vahabzadeh berichtet aus Venedig über die Filme "Birdwatchers" von Marco Bechis und "Nuit de Chien" von Werner Schroeter. Stephan Opitz stellt das Nordische Aquarellmuseum an der schwedischen Westküste vor, das derzeit Kunst aus Kalifornien und Deutschland zeigt. Und der Konstanzer Literaturwissenschaftler Albrecht Koschorke kritisiert die Synchronisierung deutscher Semesterzeiten mit denen der meisten Nachbarländer: Gerade die Anderstaktung des akademischen Kalenders komme dem wissenschaftlichen Austauschprozess und damit der Internationalisierung deutscher Unis zugute.

Besprochen werden Andreas Dresens neuer Film "Wolke 9", der Saisonauftakt in der Berliner Philharmonie mit Simon Rattle und Brahms? Dritter sowie Daniel Barenboim und Bruckners Achter Symphonie, außerdem Bücher, darunter der Briefwechsel zwischen Margret Bovari und Ernst Jünger und der Comic "Blutspuren" der israelischen Illustratorin Rutu Modan (mehr dazu in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).