Heute in den Feuilletons

Prüfgesellschaft für Sinn und Zweck

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
12.09.2008. Im Freitag fordert der georgische Schriftsteller Dato Barbakadse die russischen Intellektuellen auf, sich von ihren chauvinistischen Traditionen zu verabschieden. In der SZ stellt John Gray klar, dass uns im Kaukasus kein neuer Kalter Krieg bevorsteht, sondern die alten geopolitischen Konflikte des 19. Jahrhunderts. Die FAZ blickt nach Gazela, in das Roma-Ghetto von Belgrad. Dank Jeff Koons verspürt die NZZ noch einmal den genius loci von Versailles. Mehr Stifter als Dostojewski entdeckt die FR in Orhan Pamuks neuem Roman "Das Museum der Unschuld".

Freitag, 12.09.2008

Der georgische Schriftsteller Dato Barbakadse ruft Russland dazu auf, seinen Imperiumskomplex abzulegen und sich einer modernen Kultur zu öffnen: "Russland kommuniziert mit der Welt nicht nur in einer veralteten, sondern gleichsam in einer ausgestorbenen Sprache: Verglichen mit den ausgestorbenen Sprachen, die ihre historisch-kulturelle und philologische Bedeutung niemals verlieren werden, hat die russische politisch-kulturelle Sprache ihre Bedeutung aber schon lange verloren. Sie ist nicht nur unbrauchbar und unverständlich, sondern auch gefährlich für die kulturelle Welt, denn diese Sprache basiert nicht auf der Philosophie der Partnerschaft mit anderen Ländern. Wo bleiben in dieser Situation die Stimmen der russischen Intellektuellen gegen die überzogenen Reaktionen ihrer Regierung? Nur wenn es den russischen Schriftstellern, Künstlern, Philosophen und Wissenschaftlern gelingt, sich von der Tradition des Chauvinismus zu trennen, wird die restliche Welt ihre Stimme hören und akzeptieren."
Stichwörter: Russland

NZZ, 12.09.2008

Marc Zitzmann winkt ab: die Ausstellung von Jeff Koons' Werken im Schloss Versailles sei kaum die Aufregung wert, die nostalgische Grantler und kunstfremde Reaktionäre veranstalten - moderne Kunst habe überall ihren Platz. Allerdings errege die Ausstellung den Anschein der Beliebigkeit: keine neu geschaffenen Werke, die alten sind ohne Bezüge fotogen im königlichen Dekors arrangiert - aber so "entspricht der neureiche Mix aus Selbstvermarktung und Blendwerk, auf den das Unternehmen jeffkoonsversailles.com hinausläuft, durchaus dem Genius Loci."

Weitere Artikel: Joachim Güntner hofft, dass der RAF-Film zumindest besser ist als die Publizistik rundherum, die mittlerweile beim "Buch zum Film zum Buch" angekommen ist. Alfred Zimmerlin gewann einen zwiegespaltenen Eindruck bei drei Konzerten der Wiener Philharmoniker in Luzern, und Sabine Haupt bespricht die Aufführung von Racines "Britannicus" beim Genfer Festival de la Bâtie weitestgehend positiv.

Auf der Pop und Jazz Seite befürchtet Martin Schäfer, dass die Black-Music durch den ökonomisch-kulturellen Triumph ihre Dynamik verlieren könnte.

Im Dossier Sachbuch werden unter anderem das Buch "Beijing Time" über den Städtebau in China und Andrew G. Bostoms Studie "The Legacy of Islamic Antisemitism" vorgestellt (mehr dazu in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Auf der Medienseite schildert rdg., wie die Republikaner auf die ihnen zu liberalen Mainstream-Medien einprügeln.

Welt, 12.09.2008

Für absolut vorbildlich hält Eckhard Fuhr die "Tropen"-Ausstellung im Berliner Martin-Gropius-Bau: "Das größte Verdienst dieser Ausstellung ist es, dass sie den Begriff der Universalbildung im Wortsinne anschaulich macht und ihm höchsten ästhetischen Reiz verleiht. So geht es. Man sollte sich auf dem Weg zum Humboldt-Forum vor ausufernden Debatten hüten."

Weiteres: Johannes Wetzel berichtet von den Verrissen, die Michel Houellebecqs Roman-Verfilmung "Die Möglichkeit einer Insel" in den französischen Zeitungen über sich ergehen lassen musste ("Die Unmöglichkeit eines Films", "Die Gewissheit eines Fiaskos", "Ausweitung der Flop-Zone"). In der Randspalte vernimmt Manuel Brug zum Saisonauftakt gehöriges Säbelrasseln aus den Orchestervereinigungen, deren neuer Tarifvertrag noch immer nicht ausgehandelt ist. Friedrich Pohl stellt klar, dass Metallica auch mit ihrem neuen Album "Death Magnetic" wieder die Musik des Abendlandes bereichern. Werner Bloch verfolgt mit großer Sympathie den Start der "Aktion Afrika" des Goethe Instituts.

Rainer Haubrich berichtet von der Architekturbiennale in Venedig, auf der die Chinesen seiner Meinung nach einen starken Auftritt haben. Aus Rom setzt uns Hendrik Werner ins Bild über den von Roms postfaschistischem Bürgermeister angezettelten Streit um Richard Meiers Schutzbau für den Ara Pacis. Cosima Lutz und Jörg Peter Löblein berichten von einer Diskussion ums Klima im Dresdner Hygienemuseum. Im Interview mit Gabriele Walde spricht Regisseur Niko von Glasow über seinen Contergan-Film "NoBody's Perfect" und seine eigene Schädigung.

FR, 12.09.2008

Jörg Plath lernt in Orhan Pamuks neuem Roman den Autor von einer bisher eher unbekannten Seite kennen: "Auch Pamuks neues Buch 'Das Museum der Unschuld' erkundet die türkische Seele - aber der grandiose, mit allen Wassern der Postmoderne gewaschene Fabulierer nimmt sich diesmal zurück und erzählt ruhig, sehr ruhig vom Alltag. An die Stelle des von Pamuk verehrten Dostojewski scheint Stifter getreten zu sein." Was offenbar nicht unbedingt eine gute Sache ist: "Stellenweise wird diese 'achtjährige Liebesfron' zur Lektürefron. Die Füsun-Monomanie des Ich-Erzählers, seine selbstverliebte Lethargie und der betuliche Predigerton können einem nämlich gelegentlich auf die Nerven gehen."

Weitere Artikel: Ivan Nagel glossiert die erstmals von George W. Bush zum Abschluss der "State of the Union" verwendete Formel "May God continue to bless the United States of America." Hans-Jürgen Linke unterhält sich mit dem neuen Frankfurter Generalmusikdirektor Sebastian Weigle. Norman Lebrecht hat ein internationales Symposium zum Thema "Musik und Gehirn" besucht. In einer Times Mager von Ina Hartwig stellt sich heraus, dass Max Frisch in der Luft liegt. Tanja Runow berichtet vom Frankfurter Kinderfilmfestival "Lucas".

Besprochen wird die große "Tropen"-Ausstellung im Berliner Gropius-Bau.

TAZ, 12.09.2008

Robert Schimke porträtiert den Franzosen Guillaume Paoli, der als festangestellter Hausphilosoph ans frisch umbenannte Leipziger Centraltheater bestellt worden ist. "'Ich habe keinen Auftrag und keinen Leistungszwang', sagt Paoli über ein Berufsbild, das er mangels aktuellem Rollenvorbild von Grund auf selbst entwickeln kann. Mit seiner eigens gegründeten 'Prüfgesellschaft für Sinn und Zweck' (PSZ) hat er sich, der sich als 'philosophisch heimatlos' bezeichnet, vorgenommen, vom Theater aus 'Irritation in geistigen Gegenden, wo Konsens herrscht' zu stiften und außerdem 'Standpunkte in von Ratlosigkeit geplagten Zonen zu festigen'."

Weiteres: Wolfgang Gast stellt das Buch "Sie nannten mich Familienbulle" des ehemaligen RAF-Sonderermittlers Alfred Klaus vor, der sich darin fragt, ob die Selbstmorde von Stammheim und der Mord an Hanns Martin Schleyer vermeidbar gewesen wären. Im Gespräch mit Thomas Winkler spricht der Sänger und Texter von Metallica James Hetfield über das neue Album "Death Magnetic", das auch als Rock-Band-Game für den Computer veröffentlicht wird. In tazzwei informiert Barbara Dribbusch über die heute beginnende Frankfurter Tagung "Gut zu Fuß" zur Promenadologie, der recht ungenauen Wissenschaft des Spazierengehens.

Und hier Tom.

FAZ, 12.09.2008

Auf der Medienseite informiert Michael Martens über ein Buch, das in Form eines Reiseführers auf ein riesiges Slum-artiges Wohngebiet mitten in Belgrad aufmerksam macht, in dem, von der Öffentlichkeit eher totgeschwiegen, Tausende Roma ihr Dasein fristen: "Ein Schlüsselsatz des Buches lautet: 'Roma sind arm, weil sie arbeitslos sind, arbeitslos, weil sie ungebildet sind, und ungebildet, weil sie arm sind.' Dies fasst die Misere eines Slums wie Gazela zusammen. Es erinnert an eine Formulierung des aus Rumänien stammenden Schriftstellers Richard Wagner, der die Roma in seinem Balkan-Buch 'Der leere Himmel' als 'sich ausgrenzende Ausgegrenzte' beschrieben hat. Es ist kaum zu sagen, wo bei dem Elend der Roma fremde Schuld beginnt und wo ihr eigenes Unvermögen."

Weitere Artikel: Lorenz Jäger meint, dass ethnische Unterschiede dadurch nicht verschwinden, dass man, wie nun vom "Institut für Menschenrechte" vorgeschlagen, den Begriff "Rasse" nicht mehr verwendet. Manfred Lindinger unterhält sich mit dem Physiker - und künftigen CERN-Direktor - Rolf-Dieter Heuer über den Teilchenbeschleuniger LHC am Genfer CERN. Oliver Jungen folgt dem Schatten mit Siebenmeilenstiefeln durch die Geistes- und vor allem Literaturgeschichte. Man könnte ja, meint Niklas Maak in der Glosse, das Gerede des Fürsten Hans-Adam II. von Liechtenstein vom "vierten Reich" als "verbalen Amoklauf eines gereizten, von komplettem Realitätsverlust geplagten Hochadeligen" abtun - gäbe es da nicht eine Reihe "deutscher Museumsleiter und Kunsthändler", die sich irrationalerweise auch als Opfer jüdischer Resitutionsforderungen begreifen. Das vor einer Woche in Paris eingeweihte College des Bernardins, in dem heute Papst Benedikt einen Auftritt haben wird, stellt Joseph Hanimann vor. Gina Thomas schreibt zum Tod des Kunsthistorikers George Zarnecki und Michael Matthiesen hat einen kurzen Nachruf auf die Wissenschaftlerin Cordelia Ottilie Gundolf verfasst.

Besprochen werden das Konzertprogramm mit Jörg-Widmann-Schwerpunkt beim "AlpenKlassik"-Festival in Bad Reichenhall, die Ausstellung "Der Brief. Ereignis und Objekt" im Frankfurter Goethehaus, die Leipziger Architekturausstellung "Totalitär. Leipzig 1933-1945", Ulla Wagners Film "Die Entdeckung der Currywurst" und Bücher, darunter Comics von Olivier Schrauwen und Cyril Pedrosa (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

SZ, 12.09.2008

"Törichtes Gerede" nennt der Ideengeschichtler John Gray die gegenwärtigen Befürchtungen vor einem neuen Kalten Krieg. Tatsächlich handele es sich um "geopolitische Konflikte, wie es sie im späten 19. Jahrhundert gab. Geblendet von modischem Unsinn über die Globalisierung, glauben westliche Politiker, dass sich die liberale Demokratie unaufhaltsam verbreitet. Tatsache ist: Republiken und Imperien, freie und unfreie Demokratien und eine große Vielfalt autoritärer Staatsformen werden uns vorerst erhalten bleiben. Die Globalisierung ist nichts mehr als die fortschreitende Industrialisierung des Planeten, und der zunehmende, strategisch motivierte Rohstoff-Nationalismus ist eine wesentliches Merkmal dieses Prozesses. Indem Russland seine Rohstoffe als Waffe einsetzt, widersetzt es sich nicht der Globalisierung, sondern nutzt deren Widersprüche aus."

Weiteres: Claus Biegert bilanziert die UN-Deklaration über die Rechte indigener Völker, die vor einem Jahr verabschiedet wurde. Jan Füchtjohann schwärmt vom New Yorker Literaturjournal n+1, von dem bei Suhrkamp nun eine Anthologie erscheint ("Ein Schritt weiter"). Sonja Zekri informiert über Pläne, die "Große Kommunistische Straße" in Moskau nach dem vor kurzem verstorbenen Literaturnobelpreisträger Alexander Solschenizyn umzubenennen - sehr zum Verdruss der Kommunisten. Alexander Kissler kommentiert die Reise von Papst Benedikt in ein von Sarkozy "positiver Laizität" geprägtes Frankreich. Und Heribert Prantl gratuliert dem "Jahrhundert-Juristen" Werner Flume zum hundertsten Geburtstag.

Besprochen werden das neue Metallica-Album "Death Magnetic" ("eines der großen Ereignisse der kommerziell bedeutsamen Popmusik"), eine "riesige" Retrospektive von Francis Bacon in der Tate Britain, die Uraufführung von Christopher Shinns Stück "Now or Later" am Londoner Royal Court Theater und Bücher, darunter Winfried Speitkamps "Kleine Geschichte des Trinkgelds" und der Bericht "Tanner geht" von Wolfgang Prosinger über einen Mann, der Sterbehilfe in der Schweiz suchte (mehr dazu in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).