Heute in den Feuilletons

Von der intensiven Atmosphäre gefesselt

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
17.09.2008. Drastisch! Die SZ hat die dpa in Bernd Eichingers RAF-Film geschickt und verrät jetzt schon alles. Die FAZ hält sich im Gegensatz zur FAS an die Sperrfrist und lässt vorerst noch fünf jüngere Regisseure über RAF-Filme älterer Kollegen schreiben. Die Welt trägt die Kartons der arbeitslosen Broker mit Fassung. Und Ernst-Wilhelm Händler meint: Nicht der Kapitalismus hat versagt, sondern der Staat.

Welt, 17.09.2008

Holger Kreitling sieht den Karton des sein Bankhaus verlassenden Brokers zum Symbol dieser Tage werden: "Wirklich unglücklich und waidwund sehen die Menschen auf den Fotos aber nicht aus. Sie tragen es mit Fassung. Wahrscheinlich fühlen sie sich unschuldig, ihr Vertrauen in die Wirtschaftsordnung und die heilenden Kräfte des Marktes ist ungebrochen, auch wenn sie selbst bei der Überdehnung dabei waren."

Im Interview mit Uwe Wittstock erklärt der Autor und Unternehmer Ernst-Wilhelm Händler, warum er die Krise nicht als ein Versagen des Kapitalismus sieht: "2002 hat die Bush-Administration ein Programm aufgelegt, das die Amerikaner zum Häuserkauf bewegen sollte. Das sollte die Konjunktur ankurbeln. Wenn man es bösartig ausdrückt: Nachdem die Internet-Blase an der Börse geplatzt war, hat man gezielt für die nächste Blase im Immobiliengeschäft gesorgt. Die platzt jetzt. Ohne staatliche Eingriffe ins Wirtschaftssystem wäre es nicht zu der Krise gekommen."

Weitere Artikel: Im Aufmacher berichtet Thomas Kielinger über die erfolgreiche Künstlerauktion Damien Hirsts in London. Gerhard Charles Rump, der für die Welt den Kunstmarkt beobachtet, kommentiert diese Auktion als Revolution für den Kunstmarkt und Schlappe für die Galeristen. Michael Loesl schreibt zum Tod des Pink-Floyd-Keyboarders Richard Wright. Ulrich Winzierl hat ein Buch des Osteuropa-Historikers Timothy Snyder über den fast vergessenen Habsburg-Erzherzog Wilhelm, der König der Ukraine werden wollte und 1948 in den Fängen der Stalinisten verstarb.

Besprochen wird ein Konzert der Band Coldplay in Berlin.

Tagesspiegel, 17.09.2008

Höchst beeindruckt ist Kathrin Hillgruber von Uwe Tellkampfs neuem Roman "Der Turm" über die letzten Jahre der DDR - gerade weil sie vieles anders sieht: "Sentiment und paramilitärische Härte gehen eine merkwürdige Verbindung ein. Bei aller Liebe zum Ornament prägt den Roman eine streng bipolare, parteiische Weltsicht, der man nicht zustimmen muss. Doch verfügt Uwe Tellkamp über einen Wortschatz, einen thematischen und stilistischen Reichtum, der seinesgleichen sucht. 'Mutabor' ist das zweite Kapitel überschrieben, 'Verwandle dich'. Am Ende lässt der tausendseitige Solitär 'Der Turm' auch den Leser, die Leserin verwandelt zurück. Mehr kann man von Literatur nicht erwarten."

Außerdem: Gregor Dotzauer besuchte die erste Diskussionsrunde zur Frage "Was erwartet die Welt vom Humboldt-Forum in Berlin?" (bescheidener ging's nicht, hm?) mit dem japanischen Philosophen Ryosuke Ohashi: "Man braucht nur einmal einen seiner Aufsätze über die 'Lehre vom japanischen Kunstweg', dem geido-ron, zu lesen, um sich, ausgehend von Chikamatsus 'Lehre von der Haut-Membran zwischen Schein und Sein', klar zu werden, dass er so ziemlich für das Gegenteil von allem steht, was man mit einem nach DIN-Normen errichteten Stadtschloss mit historischen Fassaden verbindet."

FR, 17.09.2008

Daniel Kothenschulte kommentiert in einer Times Mager die Versatzstücke, die das Verbot der Vorbesprechungen zum Baader-Meinhof-Films dennoch nicht brachen: "Gezielte Halbinformation ist alles, was vor dem Filmstart an die Öffentlichkeit dringt. Auch vom Vorbericht der Tagesthemen durfte man keine echte Rezension erwarten - ist doch die ARD mit drei Sendeanstalten sowie ihrer Einkaufsorganisation Degeto selbst Koproduzentin des Films. Seit längerem ist es dort üblich, in den Nachrichtenformaten über Eigenproduktionen zu berichten - in aller Regel unkritisch... Zur Berlinale-Eröffnung 2008 wurde dem internationalen Publikum der 'Thriller zur deutschen Geschichte' unumwunden als das verkauft, was sich Bernd Eichinger davon erhoffen mag: Den für den Weltmarkt attraktivsten historischen Blockbuster seit dem Hitler-Epos "Der Untergang"."

Thomas Krüger zelebriert zum 125. Jubiläum den Diercke-Atlas. Bewusstseinserweiternde Erfahrungen habe dieses "Jungsbuch" ihm seit seiner Schulzeit bereitet. "Mögen Google Earth oder Windows Live Search mittlerweile Blicke in Hinterhöfe oder auf umgefallene Grabsteine in Brooklyn aus 30 Metern Höhe erlauben: Die Konfessionen derer, die auf den Friedhöfen liegen oder in den Hinterzimmern wohnen, die Einkommensstruktur der Bevölkerung, ihre Herkunft, ihre Jobs, ihre Wanderungen - das verraten auch Blicke ins Weiße der Augen derer nicht, die heute vom großen Internet-Bruder beobachtet werden."

Weiteres: Unbeeindruckt zeigt sich Joachim F. Tornau in einer Besprechung der beiden Inszenierungen zum Saisonauftakt im Kasseler Staatstheater: die deutsche Erstaufführung des Koltes-Frühwerks "Trunkener Prozess" und Hebbels "Judith". Besprochen werden zudem Sandra Leupolds Inszenierung von "Parsifal" am Staatstheater Mainz sowie der neue Roman des Schweizers Rolf Lappert "Nach Hause schwimmen" (mehr dazu in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

NZZ, 17.09.2008

Ursula Seibold-Bultmann berichtet von der großen Lovis-Corinth-Retrospektive im Leipziger Museum der bildenden Künste. Leider nicht zu finden waren dort zwei Hauptwerke wie der "Rote Christus" oder das "Selbstporträt mit Skelett", sowie Zeichnungen, Druckgrafik oder Aquarelle des Meisters. Dafür fand sie neben einigen Stilblüten im Katalog viel "Krudes und Naives, Manieriertes, Brutales, Illustratives und Theatralisches, Dionysisches, Anachronistisches, Parodistisches und juwelenhaft Leuchtendes".

Weiteres: Sieglinde Geisel setzte sich der stickigen Luft in Objekt 17/5001, besser bekannt als "Honecker-Bunker", aus. Marianne Zelger-Vogt resümiert gleich vier Opernabende, an denen sie Premieren in St. Gallen, Biel, Bern und Luzern besuchte. Besprochen werden weiter die Uraufführung von Ewald Palmetshofers "hamlet ist tot. keine schwerkraft" am Luzerner Theater und Bücher, darunter Uwe Timms "ambitionierter" Deutschlandroman "Halbschatten", Irena Breznas Roman "Die beste aller Welten" sowie zwei Sachbücher zu China (mehr dazu in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

TAZ, 17.09.2008

Auf den Kulturseiten singt der neue Intendant des Schauspiel Leipzig Sebastian Hartmann - das er als erste Amtshandlung in Centraltheater umbenannte - im Interview das Loblied der Provinz und erklärt, warum er Leipzig interessanter als Berlin findet und er einen Hausphilosophen braucht. Arno Raffeiner stellt den New Yorker Produzenten, DJ und "großen Popmelancholiker" Morgan Geist und dessen zweites Soloalbum "Double Night Time" vor. Julia Grosse kommentiert die Londoner Auktion von Arbeiten des Künstlers Damien Hirst, deren Ergebnis sich für diesen wie auch für Sotheby?s wie erwartet als ein reiner "Goldregen" erwies. Julian Weber würdigt im Nachruf Richard Wright, Gründungsmitglied und Keyboarder von Pink Floyd.

Wer innovative, radikale und engagierte Filmkunst sucht, müsse sich US-Fernsehserien wie "The Shield" oder "The Wire" anschauen, empfiehlt Ilija Trowanow auf der Meinungsseite - sie hätten "die narrative Dichte von Romanen, so groß angelegt und detailliert ausgeleuchtet ist in ihnen das Panorama der amerikanischen Gesellschaft." Und in tazzwei erklärt uns Bettina Gaus, weshalb politische Sendungen in den USA oft parteilich sind, dies jedoch bloß für die Linke ein Problem sei.

Und Tom.

FAZ, 17.09.2008

Zum Start von "Der Baader Meinhof Komplex" lässt die FAZ fünf deutsche Regisseure, alle am gerade entstehenden Omnibusfilm "Deutschland 09" beteiligt, über frühere filmische Auseinandersetzungen mit der RAF schreiben. Die Regisseure sind: Romuald Kamarakar (über "Die bleierne Zeit"), Tom Tykwer (über "Deutschland im Herbst"), Hans Steinbichler (über "Messer im Kopf" und "Stammheim"), Nicolette Krebitz (über "Die verlorene Ehre der Katharina Blum") und Dominik Graf, der sich an Fassbinders "Die dritte Generation" erinnert: "Tja, einer der deutschen Autorenfilmregisseure durchschaute halt den ganzen Travestiezirkus vom deutschen Junglinken, entflohen aus gutbürgerlichen Schreckenswohnzimmern und tragisch verstrickt im bewaffneten Laokoon-Kampf gegen den immerbösen Obrigkeitsstaat. Und dieser eine, der andererseits natürlich auch genau wusste, warum es in diesem kaputten fetten Nachkriegsdeutschland die RAF und ihre Taten nachgerade zwangsläufig geben musste - der hieß Rainer Werner Fassbinder und seilte sich am Ende konsequenterweise einfach aus allem ab." Passend zum Thema wird übrigens auch noch gemeldet, dass der Film als deutscher Bewerber um den Auslandsoscar ins Rennen geschickt wird.

Weitere Artikel: Jordan Mejias hat sich mit dem Ex-Private-Equity Unternehmer Peter G. Peterson unterhalten, über die Finanzmarktkrise in den USA und über Petersons Stiftung, deren Motto lautet "Unser Amerika. Unsere Zukunft". Andreas Kilb hat - etwas ungläubig - einem Vortrag des japanischen Philosophen Ryosuke Ohashi zum Humboldt-Forum gelauscht, der doch glatt vorschlug, der Bau sollte "so provisorisch und transportabel wie ein Shintoschrein sein" - ein solches Schloss möchte man gern sehen. Ingeborg Harms liest in deutschen Zeitschriften Essays zu Extremismus, Konsumismus und Alpinismus. Wolfgang Schneider besuchte die Weimarer Thomas-Mann-Tagung. Rose-Maria Gropp resümiert die ersten beiden höchst erfolgreichen Tage bei Damien Hirsts galeriebefreiter Versteigerung neuer Werke. Thomas Jansen erklärt, was beim Streit um die bayerischen Konkordatsprofessuren auf dem Spiel steht. In der Glosse kommentiert Jordan Mejias recht bissig das Fernbleiben Sarah Palins bei der Eröffnung des progressiv gesinnte Kulturzentrums Alaska House in New York. Dirk Schümer hat das einsturzgefährdete Deutsche Archäologische Institut in Rom besucht. Christian Wildhagen porträtiert den Fagottisten Marc Trenel. Lorenz Jäger schreibt zum Tod des konservativen Sozialphilosophen Günter Rohrmoser. Einen kurzen Nachruf auf den Pink-Floyd-Keyboarder Rick Wright hat Edo Reents verfasst.

Auf der DVD-Seite werden Editionen der Filmversion des "Rosenkavaliers" und von Pasquale Squitieris Mafia-Film "Die Rache der Camorra" vorgestellt.

Besprochen werden Inszenierungen von Jan Bosses "Gestiefeltem Kater" und Sibylle Bergs "Von denen, die überleben" zur Saisoneröffnung in Zürich, Aufführungen der "Orestie" des Aischylos und des Stücks "Wir sind immer oben" von Dirk Laucke in Essen, Tilman Knabes Inszenierung von Hans Werner Henzes "Bassariden" in Hannover, die Ausstellung "Brillantfeuerwerk" im Münchner Haus der Kunst und Bücher, darunter Henning Mankells Roman "Der Chinese" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

SZ, 17.09.2008

Die SZ hat sich ja seinerzeit sehr über die von Bernd Eichinger verfügten Sperrfristen für seinen RAF-Film beschwert und rächt sich nun mit einem dpa-Ticker auf SZ-Online, der schon alles weiß: "Der seit Tagen heiß diskutierte RAF-Film 'Der Baader-Meinhof-Komplex' ist ein packendes Politikdrama mit drastisch geschilderten Bluttaten geworden." Krass! Und weiter in der Analyse: "Der Film ... ist rasant geschnitten und überzeugt vor allem mit hervorragenden Schauspielern." Sie erteilen und folgende historische Lektion über die Terroristen: "Auch wenn manche ihrer Motive nachvollziehbar erscheinen, setzen sie sich mit ihren grausamen Taten ins Unrecht." dpa weiß auch: "Bereits Stunden vor der großen Premiere am Dienstagabend in München waren Journalisten bei der ersten großen Pressevorführung des Films von der intensiven Atmosphäre gefesselt." Das erübrigt jetzt doch jede Kritik!

Umgerechnet 140 Millionen Euro hat Damien Hirst bei seiner Auktionsperformance eingespielt (88 Werke von Picassos brachten 1993 nur 14 Millionen Euro ein). Für Andrian Kreye spricht aus der hier gehandelten Hirst-Massenware vor allem "pure Verachtung für seine Käufer", die ihm aber nicht ganz fremd scheint: "Seine Stierherzen, von Dolchen durchstoßen, mit Flügeln versehen oder Stacheldraht umwickelt, sind nicht mehr als jene plumpe Rock-'n'-Roll-Ikonographie, mit der die T-Shirt-Firma Ed Hardy derzeit bei Teenies und Harleyfahrern Erfolge feiert. Doch der große Rock-'n'-Roll-Schwindel gelingt."

Weiteres: Burkhard Müller zeigt sich einigermaßen irritiert vom Plädoyer des Royal-Society-Sprechers David Reiss, sich in den Schulen auch mit dem Kreationismus auseinanderzusetzen (online meldet die Society nun, dass Reiss zurückgetreten ist). Bernd Graff berichtet, wie sich das allerorten gehypete Computerspiel "Spore" mit einem Kopierschutz das Wohlwollen seiner Anhänger verscherzte. Alexander Kissler meldet, dass das "Schwarzbuch Waldorf" per einstweiliger Verfügung gestoppt worden ist. Wolfgang Schreiber erinnert an den fast vergessenen Komponisten Erich Itor Kahn, dem eine große Zukunft bevorstand, bis er 1933 aus Deutschland fliehen musste: "'Alles ist schwebend und leicht darin und unbelastet', schrieb der nur zwei Jahre ältere Theodor W. Adorno 1930 über Kahns 'Leichte Nachtmusik' für Streichtrio." Alexander Gorkow schreibt zum Tod des Pink-Floyd-Musikers Richard Wright.

Auf der Medienseite berichtet Thomas Schuler über die peinliche Affäre um Google-News: Der Google-Crawler hat aus den Archiven eine sechs Jahre alte Konkurs-Meldung zu United Airlines als neu verbreitet, woraufhin der Kurs um 75 Prozent eingebrochen ist.

Besprochen werden ein Gastspiel des New York City Ballet in der Pariser Opera Bastille, Hans Werner Henzes Oper "Bassariden" in Hannover, eine Aufführung von Koltes' "Trunkener Prozess" in Kassel, Adam McKays Ein-Gag-Komödie "Stiefbrüder" und Bücher, darunter Michail Ryklins Schrift "Kommunismus als Religion" und Alan Bennetts Hommage an Elizabeth II und die Literatur "Die souveräne Leserin" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).