Heute in den Feuilletons

Fortschreitend äußerlich

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
19.09.2008. In der Welt attackiert Adam Krzeminski die deutschen Russlandversteher von Peter Scholl-Latour bis Martin Winter. In der taz erzählt der britische Pophistoriker Jon Savage die Geschichte der Jugend. Im Perlentaucher verteidigt Stefan Weidner den Begriff des Kulturkampfs. In der FAZ liest Botho Strauß die Gedichte Martin Heideggers: "In der Prosa ein gemessen Schreitender wird der Philosoph ein Inständiger in seinem gedichteten Denken." Alle würdigen Maurizio Kagel.

Welt, 19.09.2008

Im Forum kritisiert der polnische Publizist Adam Krzeminski die deutsche Front der Russlandversteher: "Dass betagte Reporter wie Peter Scholl-Latour in seinem Reißer 'Russland im Zangengriff' die Welt in den Kategorien seiner Jugendzeit sieht, als die Großmächte die kleinen Länder, die 'dazwischen' lagen, rücksichtslos niedertrampelten, als Staaten liquidierten oder verschoben, mag aus biografischen Gründen verständlich sein. Dass aber erheblich jüngere Kommentatoren wie Martin Winter von der SZ das Wohlverhalten Wilnas, Kiews oder Warschaus durch das Prisma ausschließlich alteuropäischer Interessen bewerten, ist zynisch."

In Marbach wurde ein neues Buch über Alfred Andersch vorgestellt, der zu den moralisch-literarischen Instanzen der frühen Bundesrepublik gehörte. Uwe Wittstock will die hier aufgedeckten kleinen Kompromisse, die Andersch zuvor mit den Nazis machte und die zuerst von W.G. Sebald kritisiert wurden, nicht allzusehr skandalisieren: "Vernünftig wäre der Versuch, mit wachsender historischer Distanz den Gründen für die politisch korrekte Selbststilisierung während der Nachkriegsjahrzehnte genauer auf die Spur zukommen."

Weitere Artikel: Uta Baier kommentiert in der Leitglosse schaudernd die Ebay-Auktion eines Silberbechers, bei der sich der Verkäufer damit brüstete, dass ein Großonkel das Stück einem Juden geraubt hatte. Gerhard Charles Rump wirft einen Blick auf zwei Kunstmessen in Schanghai. Elmar Krekeler schreibt zum Tod des Komponisten Mauricio Kagel. Brigitte Preissler gratuliert Wolfram Siebeck zum Achtzigsten.

Besprochen werden eine Ausstellung über politische Rituale in Magdeburg und ein Konzert von Emmylou Harris in Berlin.

Auf der Magazinseite schreibt Felix Müller über neue Erkenntnisse zu den Atomforschern Ethel und Julius Rosenberg, die 1953 als kommunistische Spione hingerichtet wurden - und tatsächlich welche waren.

NZZ, 19.09.2008

Max Nyffeler würdigt den verstorbenen Komponisten Mauricio Kagel als vielseitigen Künstler und "Literaten unter den Komponisten"; Jürgen Ritte stellt einige Neuerscheinungen des französischen Bücherherbstes vor: Die Rentree ist "weiblich, biografisch, autobiografisch, autofiktional" - die Männer scheinen nur noch historische Anekdoten zu veröffentlichen. Knut Henkel schreibt einen Nachruf auf den kubanischen Filmregisseur Humberto Solas. Peter Hagmann besuchte das Tonhalle-Orchester Zürich und David Zinmanne, die gerade an neuen Mahler-Aufnahmen arbeiten.

Besprochen werden eine Luzerner Aufführung von Mozarts "Entführung aus dem Serail" in der Inszenierung von Joachim Schloemer, die neue CD der südafrikanischen Band Freshlyground, Musik von Mike Skinner alias The Streets und Bücher, darunter Philip Pans China-Buch "Out of Mao's Shadow" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Auf der Medienseite ventiliert S.B. sein Unbehagen an Googles neuestem Plan, die Zeitungsarchive zu digitalisieren. H.Sf. zerpflückt die erste Ausgabe der Printversion von Spiegel Onlines Geschichte zum Mitmachen "einestages". Und im Interview mit ras. fordert Hanspeter Lebrument, Vorsitzender des Verbands der Schweizer Presse, mehr Leistung, Teamwork und Disziplin unter Journalisten.

Perlentaucher, 19.09.2008

In einem Essay für den Perlentaucher verteidigt der Islamwissenschaftler Stefan Weidner den Begriff es "Kampfs der Kulturen": "So sehr ich nachvollziehen kann, dass man gegen den Kulturkampf ist, wäre es sehr gewagt, aus der Ablehnung des Kulturkampfs zu schließen, dass es überhaupt keinen gibt. Ich glaube sogar, dass eine solche Annahme selbst im Sinne der Gegner eines Kulturkampfes kontraproduktiv ist. Von der Auseinandersetzung mit realen Problemen - wie gehen die westlichen Gesellschaften mit den Muslimen und dem Islam um - verschiebt sich die Front auf das Gebiet der bloßen Meinung darüber, ob angesichts dieser Probleme das Wort 'Kampf' angebracht ist. "

FR, 19.09.2008

In einem Nachruf würdigt Hartmut Lück den an Kranheit verstorbenen Komponisten Mauricio Kagel und die Bedeutung seines Werks: "Er schrieb Musik über Musik, er entlarvte, wo andere seelenvoll liebten, aber er hörte auch nicht auf, Musik zu machen - denn letztlich liebte er sie natürlich auch, wenn auch oft durch die Maske des Harlekins, des Eulenspiegels, des intellektuellen Dandys, dem nichts heilig war, weil er recht eigentlich vom heiligen Furor der Kritik besessen blieb, um das unheilige Kostüm von Allerheiligsten der Kunst herunterzureißen."

Weiteres: Erik Franzen hat sich mit Gewinn eine Tagung in München zu dem NS-Dokumentationszentrum angehört, dass "beschämend spät" Form an. Petra Kohse berichtet vom Dubliner "Fringe-Festivals".

Besprochen werden das neue Album von Everlast, auf dem sich Sänger Erik Schrody ein Amerika als "Fluchtpunkt für Idealisten"wünscht, Tilman Gerschs Inszenierung von Dea Lohers "Das letzte Feuer" im Wiesbadener Staatstheater und Konzerte beim Lucerne Festival.

TAZ, 19.09.2008

Der britische Pophistoriker Jon Savage spricht im Interview mit Julian Weber über sein Buch "Teenage", in dem er die Geschichte der Jugend erzählt: "Eine bürgerliche Massenkultur, die sich von der Feudalgesellschaft und der Epoche der Monarchien abgrenzt, setzt bereits um das Jahr 1870 ein. Mein Buch beginnt 1875, denn ich fand bei der Recherche Tagebücher von Jugendlichen aus jener Zeit, etwa das der Französin Marie Bashkirtseff oder das des Amerikaners Jesse Pomeroy. Bashkirtseff verkörpert den guten Teenager, Pomeroy den bösen. Das ist eine Aufteilung, die bis heute funktioniert. Teenager als Traum oder Alptraum. Entweder sie werden als Trendsetter dargestellt oder als messerschwingende Verrückte, die ohne Motiv Menschen umbringen."

Weiteres: Klaus Walter schreibt den Nachruf auf Norman Whitfield, den Motown-Produzenten und mit "Papa was a Rolling Stone" Schöpfer des "afropsychedelischen Funks". Daniel Bax hört Musik aus dem Ostblock. Angesichts des in Köln anstehenden Treffens der europäischen Rechtspopulisten erinnert Bax auf der Meinungsseite die "bürgerlichen Kreise" daran, "dass sich Muslim-Bashing nicht mit humanistischen Werten in Einklang bringen lässt".

Und Tom.

SZ, 19.09.2008

Reinhard J. Brembeck schreibt den Nachruf auf den genialen und zuweilen skurrilen Komponisten Maurizio Kagel: "Kagel nahm nun einmal alles, was er akustisch vorfand, um damit eine 'Tantz-Schul' für verstopfte Ohren zu veranstalten. Kein Musikmüll war ihm zu schade für seine klingenden Weltmaschinen, die sehr viel komplizierter gebastelt sind, als ihre knallbunt schmuddeligen Oberflächen vermuten lassen."

Weitere Artikel: Susanne Klingenstein beschreibt die erbitterten Reaktionen amerikanischer Feministinnen und Liberaler auf die Berufung Sarah Palins zur Vizekandidatin, diese "brillante Antwort der Republikaner auf das männliche Elite-Ticket Obama-Biden". Das Grab, in dem die Überreste des von den Franco-Faschisten ermordeten spanischen Dichters Federico Garcia Lorca ruhen, wird nun wahrscheinlich doch ausgehoben, nachdem Lorcas Familie ihren Widerstand aufgegeben hat, berichtet Javier Caceres. Thomas Steinfeld informiert uns, dass das moderne Bankenwesen auf einer Fiktion beruhe. Der Münchner Galerist Konrad Bernheimer verklagt die Stadt Pirmasens, die ein Bild von ihm zurückhaben möchte, das im Krieg verloren ging. Marc Felix Serrao berichtet über den von der Bürgerbewegung "pro Köln" organisierten europäischen "Anti-Islamisierungskongress" bei dem "mehr als 500 Mitglieder der belgischen Partei Vlaams Belang" erwartet werden, "auch FPÖ (Österreich), Lega Nord (Italien) und Front National (Frankreich) haben sich angekündigt". Ingo Petz besuchte eine Berliner Veranstaltung zum Thema "Weißrussland - Literatur aus der 'Retro-Utopie'" mit dem sarkastischen Artur Klinau und dem avantgardistischen Alhierd Bacharevic.

Besprochen werden ein Konzert mit Werken von Stockhausen, Lachenmann und Rihm (letzteres eine Uraufführung) mit dem phantastischen Kölner Ensemble Musikfabrik und dem tänzerisch präzisen Dirigenten Emilio Pomarico, die Choreografie "in-i" mit Juliette Binoche am Londoner National Theatre, die Ausstellung "Spuren des Geistigen" im Münchner Haus der Kunst, Sofia Gubaidulinas brillantes Geigenkonzert für für Anne-Sophie Mutter, Armin Petras Inszenierung von Ibsens "Brand" am Hamburger Thalia Theater und Bücher, darunter Norbert Niemanns Roman "Willkommen, neue Träume" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FAZ, 19.09.2008

Der Schriftsteller Botho Strauß hat den Band der Heidegger-Werkausgabe gelesen, der die Überschrift "Gedachtes" trägt. Darin sind Texte, die gedichtartig scheinen, ohne ganz und gar Gedichte zu sein. Strauß schreibt im hohen Ton und aufmacherseitenfüllend: "In der Prosa ein gemessen Schreitender wird der Philosoph ein Inständiger in seinem gedichteten Denken. Was er nach Art des Mystikers schweigend sagt, mag auf andere so belebend wie verletzend wirken. Es distanziert ihr bestes Meinen zu rhetorischem Außengeplänkel. Ja, es zeigt an, wie fortschreitend äußerlich wir geworden sind, alles in allem, nicht zuletzt infolge der maßlosen Politisierung des Denkens nach Hitler."

Weitere Artikel: Alexander Cammann hat Helmut Schmidt im Berliner Ensemble im Gespräch mit Claus Kleber erlebt und stellt im Überschwang der Begeisterung die offenbar rhetorisch gemeinte Frage: "Wer würde nicht das Kreuzchen bei ihm machen, wenn er in der Einsamkeit einer Wahlkabine plötzlich Helmut Schmidt auf dem Zettel fände?" Im Gespräch erklärt der Vorkämpfer historischer Auffühungspraxis John Eliot Gardiner unter anderem, wie er seinen Streichern für Beethoven das Karajan-Vibrato der linken Hand ausgetrieben hat. In der Glosse beklagt Dieter Bartetzko, durch Frankfurt wie durch Mythisches wandelnd, den "Einsturz unserer Welt" durch Finanzkrach. Reinhard Wandtner informiert über die "biologische Invasion" von Arten-Aliens, von der man sich jetzt auch im Internet ein Bild machen kann. Jochen Hieber kündigt den Vorabdruck von Klaus Harpprechts Biografie "Die Gräfin. Marion Dönhoff" an. Dem Kollegen Gastronomiekritiker Wolfram Siebeck gratuliert Jürgen Dollase zum Achtzigsten. Edo Reents schreibt sehr knapp zum Tod der Motown-Legende Norman Whitfield. Online gibt es einen Nachruf von Wolfgang Sandner auf den Komponisten Mauricio Kagel zu lesen.

Besprochen werden ein Konzert mit Musik von Karlheinz Stockhausen, Helmut Lachenmann und der Uraufführung einer neuen Komposition von Wolfgang Rihm beim Musikfest Berlin, eine Londoner Aufführung, in der Kenneth Branagh in Tschechows "Iwanow" in der Bearbeitung von Tom Stoppard spielt, die Ausstellung "Raub und Restitution" im Jüdischen Museum Berlin und Bücher, darunter Laima Muktupavelas Roman "Das Champignonvermächtnis" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).