Heute in den Feuilletons

Kult des Ichs

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
02.10.2008. In der FR beschreibt Seyla Benhabib den Weg der Türkei in eine post-nationalistische demokratische Gesellschaft. Die NZZ staunt über den Dünkel von Horace Engdahl. Rechtskonservativ findet Peter Weibel in der Welt den Kult um Künstler. Felix Schwenzel staunt in Wirres.net über die völlige Ahnungslosigkeit bei einer Podiumsdiskussion über Google. Die SZ denkt über Roman-Adaptionen auf deutschen Bühnen nach.

FR, 02.10.2008

Die Politologin Seyla Benhabib sieht in der Debatte um die - gescheiterte - Änderung des Artikels 10 des türkischen Grundgesetzes ("Gleichheit vor dem Gesetz") und die Aufhebung des Kopftuchverbots an den Universitäten den Beginn einer durchdringenden Pluralisierung der Gesellschaft: Es gehe in der Kopftuchdebatte "eigentlich um die Pluralisierung einer post-nationalistischen demokratischen Gesellschaft und nicht um die Regression zu einer islamistischen Republik, wie viele Säkularisten behaupten. Die kemalistischen Eliten - das Militär, die zivile Bürokratie, Lehrer, Anwälte, Ingenieure und Ärzte - betrachten diese Entwicklung als ein Scheitern des republikanischen Experimentes, wo sie doch im Gegenteil ein Zeichen für ihr Gelingen ist. Während die kemalistische Ideologie, ungeachtet ihrer für sich in Anspruch genommenen Aufgeklärtheit, unter Nationalität die ethnisch türkische und fromme muslimische Identität versteht, sehen wir heute nicht nur eine größere Vielfalt an Ethnien, sondern auch an Ausformungen des muslimischen Glaubensbekenntnisses. Es muss nicht nur das Recht von Mädchen und Frauen verteidigt werden, Kopftuch zu tragen, sondern auch ihr Recht, es nicht zu tragen - genauso wie das Recht, während des Ramadans auf das vorgeschriebene Fasten verzichten zu dürfen."

Weitere Artikel: Andreas Mix erinnert an die Gründung der Ludwigsburger Zentralen Stelle zur Aufklärung der NS-Verbrechen vor 50 Jahren und meint, dass noch viel Arbeit offen steht: "Das Ziel, die NS-Verbrechen ahnden, ist auch im 21. Jahrhundert noch nicht erreicht." Harry Nutt erzählt in einer Times Mager von den Investitionsplänen im Humboldt-Hafen.

Besprochen werden zwei Filme: der neue Streifen der Coen-Brüder, "Burn After Reading" (hier mehr) und der Film "Berlin Calling" von Regisseur Hannes Stöhr, und zwei CDs: Ingo Metzmachers Pfitzner-Einspielung "Von deutscher Seele" mit dem Deutschen Symphonieorchester Berlin und das neue Album der Alternative-Country Band Lambchop.

NZZ, 02.10.2008

Andreas Breitenstein kritisiert scharf die abschätzigen Aussagen Horace Engdahls zur amerikanischen Literatur. In einem AP-Gespräch mit dem ständigen Sekretär des Nobelpreiskomitees las er staunend, dass es kein Zufall sei, wenn die meisten Literaturnobelpreisträger Europäer sind: "amerikanische Schriftsteller seien zu empfänglich für Trends in ihrer eigenen Massenkultur - das 'zieht die Qualität ihrer Arbeit nach unten.'" Diesen Dünkel findet Breitenstein unerträglich. "Gewiss ist es so, dass Europa mehr Geschichte und Kultur atmet als Amerika, nur aber wird die Luft um den moralischen Thron, von dem aus es die Welt gern beurteilt, immer dünner. Der alte Kontinent könnte dereinst, überaltert und übersättigt, fremdbestimmt und fremdenfeindlich, ironisch und defaitistisch, auch am Übermaß seiner Geschichte ersticken. Horace Engdahl hat mit seinen Äußerungen die Würde des Literaturnobelpreises beschädigt."

Uwe Justus Wenzel hält die von den "neuen Ökos" gepriesene Konsumentendemokratie, in der sich alles durch moralisch und ökologisch korrekte Marktverhältnisse wie von selbst regelt, für eine Utopie: "Sie verspricht einen politikfreien, reibungslosen Austausch, in dem alle - auch die Natur - auf ihre Kosten kommen. Etwas von einem solchen Versprechen schwingt derzeit in dem an sich spröden Losungswort von der Nachhaltigkeit mit. Wie Ökologen wissen, wäre perfekte Nachhaltigkeit, was den Energiehaushalt angeht, ein Perpetuum mobile."

Besprochen werden eine Retrospektive in Weimar, die Landschaftsmalerei von Jakob Philipp Hackert, dem Zeichenlehrer Goethes, zeigt, und Bücher: Gwendoline Rileys Romandebüt "Cold Water" sowie zwei neue Publikationen des Philosophen Emil Angehrn (mehr dazu in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Auf der heutigen Filmseite finden sich Kritiken zu Eran Riklis Drama "Lemon Tree", "Leergut", einem tschechischen Erfolgsfilm von Jan und Zdenek Sverak und zu zwei spanischen Filmen über Fanatismus.

Welt, 02.10.2008

Der Kunst- und Medientheoretiker Peter Weibel nimmt zwei Sätze des Kunsthistorikers Ernst Gombrich auseinander, der behauptet hatte: "Genau genommen gibt es 'die Kunst' gar nicht. Es gibt nur Künstler." Nebbich, meint Weibel. "Der Kult des Künstlers macht nur dann Sinn, wenn es sich um Kunst als Glaubenssystem und nicht als Wissenssystem handelt. Der Kult des Künstlers ist der Agent des Irrationalen, wissenschaftsfeindlich. Dies ist die geheime latente Komplizenschaft in Gombrichs Sätzen seiner Einleitung der 'Kunstgeschichte'. Darüber hinaus macht der Kult des Künstlers nur Sinn in einem Kunstsystem, das glaubt, Kunst sei Ausdruckskunst, Expression, vor allem Selbstausdruck. Wohin dieser Kult des Ichs aber in Wirklichkeit führt, offenbar die Trilogie 'Le Culte du Moi' (1888-1891) des rechtsradikalen, rassistischen französischen Schriftstellers und Protofaschisten Maurice Barres (1862-1923). Der Kult des Ichs ist Teil einer rechtskonservativen Ideologie."

Sven Felix Kellerhoff berichtet über die Forschungsergebnisse einer Historikerkommission, die die Zahl der Opfer der Luftangriffe auf Dresden untersucht hat: Danach sind "maximal 25.000 Menschen" bei den Februarangriffen ums Leben gekommen. "Von besonderer Bedeutung ist" ist für Kellerhoff, "dass die Kommission sich mit allen gängigen Spekulationen über höhere Opferzahlen auseinandergesetzt und sie Stück für Stück widerlegt hat."

Weitere Artikel: Lutz G. Wetzel, der gerade einen Film über den heute 80 Jahre alt werdenden Oswald Kolle dreht, erzählt von den Dreharbeiten. Rainer Haubrich würdigt den Potsdamer Platz, dessen neue Bebauung jetzt zehn Jahre alt ist: "Es hat sich erfüllt, was so viele gehofft hatten, dass nämlich der neue Potsdamer Platz ein bisschen so werden würde wie vor dem Zeiten Weltkrieg. Damals war er ein Platz mit durchschnittlicher Architektur, und doch der lebendigste Ort zwischen Alexanderplatz und Kurfürstendamm. Das ist er heute wieder." Joachim Stoltenberg beschreibt den Potsdamer Platz als Symbol der Wiedervereinigung.

Besprochen werden der wunderbare Dokumentarfilm "Heavy Metal in Baghdad", Uwe Bolls Film "Far Cry" mit Til Schweiger, Stephen Walkers Dokumentarfilm "Young@Heart" über einen Chor von "unartigen Rentnern", Nicolai Rohdes Film "10 sec" und Hannes Stöhrs Film "Berlin Calling" über die Berliner Techno-Szene.

Aus den Blogs, 02.10.2008

Am Dienstag Abend fand in der Berliner Akademie der Künste eine Podiumsdiskussion zum Thema "Das System Google" statt. Vertreten waren der Bundesdatenschutzbeauftragte, eine Google-Lobbyistin, ein Google-Kritiker, Akademie-Präsident Staeck und Thierry Chervel vom Perlentaucher. Blogger Felix Schwenzel gibt sich auf wirres.net "erschüttert" von der Diskussion: "der grund für meine erschütterung nach dieser diskussion ist, dass ich sowohl auf dem podium, also auch bei der google-vertreterin, als auch im publikum völlige ahnungslosigkeit festgestellt habe... und auch der google-vertreterin will ich nicht zu nahe treten, sie war umgeben von agression, einen bräsig-aggressiven gerald reischl, der sich bitterlich beklagte nicht genug gesprächspartner bei google zu finden, einem onkelig-aggressiven peter schaar, der rhetorisch glänzend aber auch stetig halbwissen demonstrierend rumnörgelte und einem vor klassenkampf-aggro-rhetorik beinahe platzendem klaus staeck."

Ähnlich klingt, was Volkhard Bode beim Börsenblatt schreibt: "Doch wer eine mit Fakten und Argumenten gespickte Kontroverse erwartet hatte zu Problemen wie Speicherung von Nutzerdaten zu Werbe- und Marketingzwecken oder Missbrauch einer Vormachtstellung, wurde enttäuscht. Stattdessen bleibt es nur zu oft bei vagen Vermutungen und gefühlsgesteuerten Vorwürfen. Das angekündigte Thema Buch- und Bilddigitalisierung und Urheberrecht kam gleich gar nicht zur Sprache."

Weitere Medien, 02.10.2008

Der Guardian präsentiert: Ein commercial für Country Live Butter, starring John Lydon. Totally a flower in the dustbin.
Stichwörter: Country, Guardian, Lydon, John

TAZ, 02.10.2008

In tazzwei gibt der ehemalige Titanic-Chefredakteur Martin Sonneborn Auskunft über seinen real-satirischen Dokumentarfilm "Heimatkunde", den er im Berliner Speckgürtel drehte. Obwohl ausdrücklich nicht satirisch angelegt, stieß er bei dieser "Expedition in die Zone" ständig auf "Lieferanten von komischem Filmmaterial". Befragt, ob er nie Angst hatte, in eine brenzlige Lage zu geraten, erklärt er: "Eine gefährliche Situation gab es, als ich in Schönefeld in einem Pool voller Schleim stand. Das Wasser war vier Jahre nicht abgelassen. Ich glaube, den Mann verklage ich. Er hat gesagt, er hat immer Chemie da reingekippt, noch aus DDR-Beständen. Das grenzt an Körperverletzung, was die mit mir gemacht haben."

Im Kulturteil informiert Ansgar Vogt über das 11. Internationale Filmfest in Pjöngjang, das Fachbesuchern aus dem Ausland raren Zugang in eine "Welt voller Wunder und Wundersamkeiten" ermöglicht und für die nordkoreanische Bevölkerung einen Höhepunkt im öffentlich-sozialen Leben darstellt. Dietmar Kammerer unterhält sich mit Eran Riklis über seinen Film "Lemon Tree", der den Konflikt zwischen Isrealis und Palästinensern anhand eines einfachen Streits unter Nachbarn thematisiert. Thorsten Blumenstein berichtet erneut aus Erfurt über die diskussionswürdige kulturelle Ausrichtung der Stadt und ihre anhaltende Zurückhaltung von Fördergeldern an das örtliche Kunsthaus.

Besprochen werden außerdem der Thriller "10 Sekunden" von Nicolai Rohde und Christian Rickens Buch "Links - Comeback eines Lebensgefühls". (siehe hierzu unsere Bücherschau des Tages ab 14 Uhr)

Und hier Tom.

FAZ, 02.10.2008

Hubert Spiegel deutet das fatale Interview (die FAZ nennt die Quelle nicht, aber wofür gibt's den Perlentaucher?) des Nobelpreisrichters Horace Engdahl, der die amerikanische Literatur als "zu isoliert und unwissend" ansieht: " Vielleicht droht ja tatsächlich, dass einer der ewigen Kandidaten Roth, Updike oder Pynchon den Preis erhält. Dann wäre das Interview vor allem eine Botschaft an die eigenen Kollegen: Kein Amerikaner! Nicht mit mir! Engdahl gilt als starker Mann in schwacher Umgebung. Unter den Gerontokraten der Akademie wirkt der Neunundfünfzigjährige wie ein junger Wilder: streitlustig, durchsetzungsstark und ohne jeden Zweifel an der eigenen Brillanz." Im Guardian hat sich Engdahl bereits distanziert.

Weitere Artikel: Das Frankfurter Städel Museum erhält 600 Kunstwerke von der Deutschen Bank. Julia Voss fragt, ob dies ein Omen für die Zukunft der öffentlichen Sammlungen sei. Alexander Cammann beschwert sich in der Leitglosse, dass der (im Feuilleton dieser Zeitung nicht übermäßig beliebte) Bundespräsident bei einer Rede auf dem Historikertag kein Wort zur aktuellen Bankenkrise verlor. Gina Thomas besucht Kings Place, ein neues Kulturzentrum in London. Martin Kämpchen schreibt über neue Fälle von Christenverfolgung durch Hindufundamentalisten in Indien. Martin Wilkening gratuliert dem Rias-Kammerchor zum sechzigsten Jubiläum. Jörg Döring und Rolf Seubert kommen auf die Frage zurück, ob Alfred Andersch sein Verhalten im Dritten Reich geschönt habe und führen einen neuen Beleg aus eine Rundfungäußerung Anderschs im Jahr 1984 an. Gemeldet wird, dass Stalins Lieblingskarikaturist Boris Efimow im Alter von 108 Jahren gestorben ist.

Auf der Filmseite unterhält sich Andeas Kilb mit der palästinensischen Schauspielerin Hiam Abbass, die die Hauptrolle in dem israelischen Film "Lemon Tree" spielt: "Ich arbeite mit bestimmten Regisseuren in Israel zusammen, weil sie Palästinenser als wirkliche Menschen zeigen und nicht als Klischees. Wenn ich das nicht mache, wer sonst? Natürlich haben die Regisseure und ich verschiedene Meinungen zu bestimmten Fragen. Aber beim Wesentlichen, bei der Frage, dass die Unterdrückung der Palästinenser aufhören muss, sind wir uns einig." Eran Riklis' Film wird auch besprochen. Auf der Medienseite mokiert sich Michael Hanfeld über die GEZ, die bei einem Schiller-Gymnasium nach den Sehgewohnheiten eines gewissen "Herrn Friedrich Schiller" fragte

Auf der letzten Seite berichtet Jürg Altwegg über die Pariser Debatten um Jacques Attalis Stück "Du Crystal a la Fumee", das zur Nazizeit spielt und die Entscheidung zum Mord an den Juden mal eben um ein paar Jahre vorverlegt. Andreas Kilb berichtet vom Literaturfestival in Berlin. Und Andreas Rossmann meldet, dass die Mäzene der Essener Philharmonie die Rückkehr des Intendanten Michael Kaufmann fordern.

Besprochen werden der neue Film der Gebrüder Coen, ein Konzert der Band Bon Iver in Köln und eine Ausstellung über künstlerische Reaktionen deutscher Maler auf den Ersten Welkrieg im Historial de la Grande Guerre, Château de Peronne.

SZ, 02.10.2008

Christopher Schmidt macht sich Gedanken zu den überhand nehmenden Roman-Adaptionen auf deutschen Bühnen und meint: "Das Verhältnis von Theater und Literatur nimmt dabei eine paradoxe Wendung. Zum einen erneuert das Theater seine Bindung an das geschriebene Wort, dem treu zu sein es lange als Fessel verstand, von der es sich zu befreien galt. Indem es sich aber mit der Epik und nicht mit der Dramatik verbündet, festigt es zum anderen seine erworbene Freiheit. Zugleich zeigen die bisherigen Romananeignungen deutlich, warum es kein Zurück gibt hinter das Regietheater... Gerade dort nämlich, wo das Theater der Vorlage kniefällig dient, macht es sich überflüssig. Die subalterne Bebilderung ist im besten Fall eine Tautologie, meistens bloß ein matter Abglanz des Romans, dessen Reichtum das Theater nie gerecht werden kann. Denn nur das, was selbst ein Kunstwerk ist, kann das Publikum auch für ein anderes begeistern."

Weitere Artikel: Erste Eindrücke von den zehn Abschiedsausstellungen des scheidenden Leiters der Staatlichen Museen zu Berlin, Klaus-Peter Schuster, zum "Kult des Künstlers" vermittelt Jens Bisky. Jörg Häntzschel liefert recht atemlose Impressionen von den Wahl- und Finanz-"Chaostagen" in den USA. Burkhard Müller findet die Äußerungen des Kritikers Horace Engdahl, Sprecher der Nobelpreisakademie, zur Zweitklassigkeit der US-amerikanischen Literatur einigermaßen unbegreiflich. Volker Breidecker hat ein Symposion in Marbach zum Thema "Die Ideengeschichte und ihre Nachbardisziplinen" besucht. Frank Nienhuysen berichtet, dass das der oberste Gerichtshof Russlands den letzten Zaren rehabilitiert und festgestellt hat, er sei "Opfer grundloser politischer Gewalt" geworden. Einige Filme des Münchner Underdox-Festivals für den dokumentarischen und experimentellen Film stellt Fritz Göttler vor. tost meldet, dass der Vertrag des Weimarer Generalintendanten Stephan Märki überraschend nicht über das Jahr 2010 hinaus verlängert wird.

Besprochen werden eine Ausstellung mit Delacroix' Tasso-Bildern in Winterthur, in dieser Woche in München startende Filme, nämlich Hannes Stöhrs "Berlin Calling", Eran Riklis' "Lemon Tree" und Johnnie Tos "Sparrow" und neue Bücher, darunter einige übers Vatersein (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).