Heute in den Feuilletons

Monster links, Monster rechts

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
07.10.2008. In der Welt erzählt Hans Christoph Buch, warum Daniel Ortega seinen Revolutionsdichter Ernesto Cardenal verfolgen lässt. In der NZZ erzählt Ulf Erdmann Ziegler von einem Video-Vampir. Die FR würdigt den türkischen Dichter Nazim Hikmet. Zuckerfest ist nicht religionsfeindlich, erklärt die taz AKP-Chef Erdogan. Die SZ prostet Violetta auf Gleis 9 zu.

Welt, 07.10.2008

Der Autor Hans Christoph Buch beobachtet, wie sich Nicaraguas Linksintellektuelle von ihren politischen Illusionen verabschieden: Revolutionsdichter Ernesto Cardenal wird hier gerade von seinem alten Weggefährten, dem neu-alten Präsidenten Daniel Ortega, juristisch verfolgt, weil er ihn einen Dieb genannt hat: "Der weltbekannte Autor stand plötzlich mittellos da, und, um der drohenden Festnahme zu entgehen, verließ er auf Schleichwegen das Land. Prominente Kollegen wie Literaturnobelpreisträger Jose Saramago oder politische Todfeinde von einst wie Mario Vargas-Llosa, Eduardo Galeano und Mario Benedetti haben sich mit dem Verfolgten solidarisiert."

Weiteres: Als einen Fall "politischer Unkultur" betrachtet Reinhard Wengierek, wie Thüringens Politik den erfolgreichen Erfurter Theaterintendanten Stephan Märki vergrault. Thomas Lindemann ruft als neuen Trend die Lust am Heimwerken aus. Wieland Freund staunt, wie mit der "Krabat"-Verfilmung" aus dem Kinderbuchautor und Rosenheimer Volksschullehrer Otfried Preußler ein "All Age"-Autor wird. Hanns-Georg Rodek meldet den Tod des Kinderstars Hans Richter.

Besprochen werden Burkhard Driests Krimi "Sommernachtsmord", Hans Werner Henzes Requiem auf Fausto Moroni, Fabrice Melqiots offenbar überreizte Sarkozy-Revue "Tasmanien" in Bonn und eine Retrospektive auf Francis Bacon in der Londoner Tate Britain.

NZZ, 07.10.2008

Ulf Erdmann Ziegler erzählt eine Geschichte von einem "Video-Vampir". Sie beginnt so: "Zum ersten Mal steckte er fest. Er hatte das Übliche probiert, bei Nacht draußen liegen und in das Sternenzelt starren und den Wecker auf sechs Uhr morgens stellen, Traumprotokoll schreiben, weiterschlafen. Aber die Form wollte sich nicht einstellen. Die Form wäre genug gewesen, so wie damals, als er es mit Handschatten auf der Wand probiert hatte, Monster links, Monster rechts, und dann war daraus das Elefantenvideo geworden, sein Anspruch auf einen Hocker in der letzten Reihe des Pantheons - sein meistzitiertes Werk auf jeden Fall. Er war neunundfünfzig, und bis vorgestern hatte er sich keine Sorgen gemacht."

Weiteres: Martin Zähringer stellt die litprom vor, die Gesellschaft zur Förderung von Literatur aus Asien, Afrika und Lateinamerika e. V. Besprochen werden ein "Fidelio" im Opernhaus Zürich, die Ausstellung "Die Skulpturen der Maler" im Museum Frieder Burda in Baden-Baden und Bücher, darunter Ramiro Pinillas Roman "Der Feigenbaum" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

TAZ, 07.10.2008

Für Ömer Erzeren ist die türkische AKP kein Stück liberaler als die Kemalisten. "Mit der Tradition staatlicher Intervention unter anderen Vorzeichen kann sich Erdogan durchaus anfreunden. Während des Fastenmonats Ramadan sprach Erdogan auch einmal von Kultur, genauer von 'kultureller Erosion'. Es ist höchst aufschlussreich, wo er die kulturelle Erosion ausmachte: bei all denjenigen Bürgern, die vom 'Zuckerfest' im Anschluss an den Ramadan sprechen. Richtig heiße es Ramadan-Fest. Doch die Bezeichnung Zuckerfest ist schon seit dem Osmanischen Reich gebräuchlich. Erdogan dachte fälschlicherweise der Begriff Zuckerfest sei eine Erfindung religionsfeindlicher Kräfte. Wieder versucht der Staat die Sprache der Bürger zu besetzen - diesmal unter islamischen Vorzeichen. ... Doch das Projekt staatlicher verordneter Identität ist schon bei den Kemalisten gescheitert. Und nichts spricht dafür, dass eine eklektische politische Bewegung, die religiösen Konservativismus mit neoliberaler Wirtschaftspolitik verbindet, Identität stiften könnte."

Weitere Artikel: Brigitte Werneburg leidet unter den von "Superbimbos" geschaffenen "Superstructures" wie den zehn Ausstellungen zum "Kult des Künstler" in Berlin. Elisabeth Raether begutachtet bei den Pariser pret-a-porter-Schauen Powerdressing im Jahr 2008. 43 Prozent der unter-30-jährigen Wähler haben in Österreich rechts gewählt: Für Isolde Charim Zeugnis eines "leeren Aufbegehrens".

Besprochen werden das Soloalbum des Seeed-Sängers Pierre Baigorry alias Peter Fox, Stefan Puchers Inszenierung der "Perser" von Aischylos am Schauspielhaus Zürich und die Autobiografie von Bushido.

Schließlich Tom.

FR, 07.10.2008

Martin Lüdke porträtiert den türkischen Dichter Nazim Hikmet, dessen Leben vor allem aus Verfolgung, Haft, Folter, aus Angst und Hoffnung bestand. Sein neuaufgelegter Roman "Die Romantiker" gelte völlig zu Recht als eines der großen Bücher des 20. Jahrhunderts: "Der ursprüngliche Titel lautete: 'Mensch, das Leben ist schön!'. Den Helden des Romans, Ahmet und Ismail, zwei jungen Männern, hat Hikmet sein eigenes Schicksal zu fast gleichen Teilen aufgetragen. Der Roman zieht Bilanz. Er folgt der Chronologie der Ereignisse und sprengt sie doch, wo immer nötig, auf. Es ist kein umfangreicher, aber ein großer Roman geworden. Wie in seinen Gedichten zeigt Hikmet auch hier, völlig unaufdringlich, eine radikale Modernität."

In einem Nachruf auf die jüngst verstorbene Dichterin Christa Reinig erinnert ebenfalls Martin Lüdke an ihren unverkennbaren Stil und den eigenwilligen Charme: "Der Sarkasmus ihrer Verse verwies auf eine andere, sehr eigene Form der Moderne. Schnoddrig, ironisch, unmittelbar und eindringlich, von äußerst raffinierter Einfachheit war ihre Sprache."

Besprochen werden die Ausstellung "Walt Disneys wunderbare Welt und ihre Wurzeln in der europäischen Kunst" in der Kunsthalle der Hypo-Kulturstiftung München, Konstanze Lauterbachs Inszenierung der Jules Massenet-Oper "Werther" im Staatstheater Wiesbaden und ein Konzert der Mezzosopranistin Waltraud Meier in der Alten Oper Frankfurt.

SZ, 07.10.2008

Total fasziniert beschreibt Thomas Meyer die "Traviata" im Zürcher Hauptbahnhof, live übertragen vom Schweizer Fernsehen und von Arte (kann man noch online sehen). Inszeniert hat Adrian Marthaler. "Die Menschen folgen zunächst, bevor sich die Reihen etwas lichten, schwarmweise der Handlung. Vom Orchesterpodium hinüber zum Cafe, wo sich die Pariser Gesellschaft zum Fest versammelt, dann weiter zum Gleis 9, wo sich die Liebenden trennen und Alfredo im Zug entschwindet, während Violetta auf einem kleinen Gepäckwagen zu einem anderen Cafe fährt. Dort wirkt die Aufführung geradezu gespenstisch, weil das Orchester kaum mehr zu hören ist." Die Zuschauer "wurden so zu Statisten, zu- und auch mal wegschauend, plaudernd, weitergehend, lächelnd und doch konzentriert - eine sehr lebendige, präsente Masse, die an der Sache offenbar großen Gefallen fand". (Lesen Sie auch den tollen Artikel im Zürcher Tagesanzeiges: "Violetta stirbt, der Bahnhof jubelt", mit mehr als 130 Leserkommentaren!)

Weitere Artikel: Im Aufmacher winkt Georg Diez dem Hedonismus ein mattes Adieu. Nach öffentlichen Protesten wollen die Weimarer Politiker nun offenbar doch an ihrem Theaterintendanten Stephan Märki festhalten, den sie gerade abzusägen versucht hatten, berichtet Christopher Schmidt. Hans-Peter Kunisch zieht ein positives Resümee des Schwerpunktthemas Afrika beim gerade zu Ende gegangenen 8. Berliner Literaturfestival. Zu "leichtgewichtig" findet Frank Thinius den Entwurf des Berliner Architekturbüros Graft für ein "Denkmal für die deutsche Einheit": Es ist eine "fußballfeldgroße Deutschlandflagge aus Hunderten heliumgefüllten Luftschiff-Modulen", die propellergetrieben durch die Luft schwebt (mehr dazu in der Welt am Sonntag). Thomas Hahn resümiert die Biennale de la danse in Lyon. Helmut Böttiger schreibt zum Tod der Schriftstellerin Christa Reinig.

Besprochen werden die Ausstellung "Georg Baselitz: Druckgraphik 1964 bis 1983" in der Münchner Pinakothek der Moderne (daneben noch ein kurzer Hinweis auf die Ausstellung "Georg Baselitz Top" in der Kunsthalle Würth), die Ausstellung "2· Das Wetter, der Mensch und sein Klima" im Deutschen Hygiene-Museum Dresden, die Uraufführung von Jan Neumanns Stück "Herzschritt" in Düsseldorf, Martin Sonneborns Film "Heimatkunde", ein Konzert mit Kent Nagano für die Sawallisch-Stiftung im Chiemgau und Bücher, darunter Dieter E. Zimmers Buch über den "Wirbelsturm Lolita" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FAZ, 07.10.2008

Barbara Hobohm stellt die drei Medizin-Nobelpreisträger Harald zur Hausen, Francoise Barre-Sinoussi und Luc Montagnier und ihre preiswürdigen Leistungen vor. Den deutschen Preisträger zur Hausen porträtiert Reinhard Wandtner noch einmal gesondert. In der Glosse lässt Jörg Thomann zeitgeistwidrige Publikationen Revue passieren - angeregt durch ein demnächst erscheinendes Buch von Friedrich Merz mit dem schönen Titel "Mehr Kapitalismus wagen". Die bevorstehende Rückkehr der revolutionären Linken in Frankreich - Ex-Terroristen inklusive - unter dem Banner der neuen Sammlungspartei "Neue Antikapitalistische Partei (NAP)" schildert Jürg Altwegg. Josef Hanimann informiert über die Kultursaison "Artention" Nordrhein-Westfalens in Paris. Katja Gelinsky schreibt über US-Kirchengemeinden, die gegen Barack Obama agitieren, obwohl sie damit ihre mit Neutralität verbundene Steuerbefreiung gefährden. Dramatische Nachrichten von kaputtgesparten Opernhäusern in Italien liefert Dirk Schümer. In amerikanischen Zeitschriften liest Jordan Mejias Essays zur Wirtschaftskrise, aber auch einen zur Schönheit des Scheiterns. Zum Tod der Lyrikerin Christa Reinig schreibt Lorenz Jäger. Auf der Forschung-und-Lehre-Seite berichtet Alexander Cammann über den Deutschen Historikertag.

Besprochen werden die große Nolde-Ausstellung im Pariser Grand Palais, eine Ausstellung mit Zeichnungen des Illustrators Axel Scheffler in Kaditzsch, drei Inszenierungen zur Saisoneröffnung in Halle, ein Robert-Forster-Konzert in Köln, Etta Scollos Liederalbum "Il Fiore Splendente", und Bücher, darunter Roberto Bolanos autobiografische Fragmente "Exil im Niemandsland" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).