Heute in den Feuilletons

Die Nerds haben gesiegt

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
14.10.2008. taz und FR kommentieren die Buchpreisentscheidung für Uwe Tellkamp recht wohlwollend. Richard Wagner ist in der Achse des Guten zumindest froh, dass nicht die Diskursdiktatur gewonnen hat. Die Welt weiß: Das Kindle wird kommen. Und das Buch wird sich auflösen wie eine Träne im Ozean, meint der Perlentaucher. Die FR fürchtet, dass das Versagen des Marktliberalismus die Korruption in Afrika fördert. Und die Finanzkrise wirkt sich jetzt auch auf das Verlagswesen aus - Stroemfeld wurde der Kredit gekündigt.

TAZ, 14.10.2008

Freundlich nimmt Dirk Knipphals den Buchpreis für Uwe Tellkamp und seinen DDR-Roman "Der Turm" auf, den "gewichtigsten, vielseitigsten und schillerndsten Roman dieses Herbstes": "Kunst und Kultur ist Tellkamps Figuren lebenswichtig. Aber es wäre ein Fehler, darin einen reinen Konservatismus zu erkennen. Von der Erzählanlage her ist das Buch sehr modern, allein schon in den vielfältigen Erzählperspektiven, die es durchspielt."

Weiteres: Alessandro Topa berichtet aus Teheran von iranischen Undergroundbands. Hübsch der Songtext der Band Kiosk: "Wir leben auf der Achse des Bösen / während ramponierte Karren im Geschwindigkeitswahn tösen / Sagt nicht, ihr hättet nichts zu essen / Ihr habt jede Menge Yellow Cake - schon vergessen?" In der "buchmessern"-Kolumne zur Frankfurter Buchmesse befindet Daniel Bax, dass die Türkei und ihre Kultur aus deutscher Sicht längst "inneres Ausland" geworden ist. Rudolf Walther war auf einer Frankfurter Tagung zum europäisch-türkischen Verhältnis "Imaginärer Osten - imaginärer Westen". Andreas Fanizadeh ist irgendwie nicht einverstanden mit Thea Dorn, die im Spiegel auch von Jüngeren mehr öffentlichkeitsrelevante Intellektualität forderte. Helmut Höge sinniert über den Sinn fürs Okkulte bei Akademikerinnen im fortgeschrittenen Alter.

Aus den Blogs, 14.10.2008

Der Stroemfeld Verlag hat unerfreuliche Post bekommen: "Eine hiesige Sparkasse schreibt uns unvermittelt: '... ist die Aufrechterhaltung der bestehenden Kreditlinie auf dem Geschäftskonto nicht mehr zu gewährleisten... Daher wird die Kreditlinie von EUR 100.000.- gekündigt.' Nach den neuen Banken-Richtlinien von Basel II lasse sich der Überziehungskredit trotz jahrelanger Bürgschaft 'nicht mehr darstellen'. Dabei haben wir weder Lehmann-Zertifikate noch Subprime-Hypotheken-Bonds gekauft! Daß Sachbearbeiter bei den Banken bedrucktes Papier für wertloser halten als unbedrucktes, wissen wir ja längst. Aber daß jetzt abgesicherte Kredite gekündigt werden, während buchstäblich Milliarden bei Immobilienspekulationen ›verbrannt‹ werden, ist doch neu."
Wie die werten Leser dem Verlag helfen können, erklärt Verleger KD Wolff in einem Rundbrief (pdf).

Richard Wagner sieht in der Achse des Guten Uwe Tellkamps Beschwörung des DDR-Bürgertums zwar ein wenig skeptisch, aber alles in allem ist er doch erleichtert über die Buchpreisentscheidung: "Auf der Shortlist hat er sich nicht nur gegen Ingo Schulze durchgesetzt, sondern auch gegen Dietmar Dath. Gottseidank, muss man sagen, und damit wären wir auch schon wieder beim Problem. Denn Dath, ehemaliger FAZ-Redakteur und bekennender Outfit-Leninist, ist gewissermaßen eine Ausgeburt des akademischen Westens. Er ist die ultima ratio des Diskursdiktatorischen, des anderen Endes von Bürgerlichkeit, signalisiert durch den Verfall von Stil zu Kult. So atmet man auf, und das zunächst wegen der Besiegten, nicht wegen des Siegers."

Wenigen ist bisher aufgefallen, dass elektronische Zeitungsarchive keineswegs komplett sind, merkt Peter Glaser in einem Artikel über Google an. Denn Verlage löschten nach einer amerikanischen Gerichtsentscheidung, dass Texte im Internet neu honoriert werden müssten, viele Artikel freier Autoren: "Viele amerikanische Zeitungsverlage, darunter auch die New York Times, fingen an, ihre Online-Datenbanken auszuräumen. Die Beiträge freier Autoren, die eventuell Honorarnachforderungen hätten stellen können, wurden gelöscht - eine Art kalter Bücherverbrennung. Stanley N. Katz, ein Historiker an der Universität Princeton, nannte die Aktion der Verleger 'verheerend'. Wissenschaftlern, die häufig mit Zeitungsdatenbanken arbeiten, war der Schwund nach und nach aufgefallen - massenhaft Material aus den 70er-, 80er- und den frühen 90er-Jahren war atomisiert worden."

FR, 14.10.2008

Online zu lesen ist jetzt auch Christoph Schröders Kommentar zum Buchpreis für Uwe Tellkamp: "Die Auszeichnung für Uwe Tellkamp ist gut für das Buch, gut für den Suhrkamp Verlag, vor allem aber gut für den aufgrund seiner marktkonzentrierenden Wirkung keineswegs unumstrittenen Preis, der gezeigt hat, dass er nicht nur ein reiner Bücherverkaufs-, sondern vielleicht doch auch ein Literaturpreis ist."

Paul Collier
, Oxford-Ökonom und Autor von "The Bottom Billion", blickt auf die Auswirkungen der Finanzkrise in Schwellenländern - er befürchtet vor allem eine Verweigerung der marktliberalen Öffnung: "Jetzt führt die Implosion in der amerikanischen und europäischen Wirtschaft, die wir der inadäquaten Deregulierung durch die Apostel des ungezügelten Kapitalismus verdanken, wahrscheinlich dazu, dass die afrikanischen Oberschichten sich in ihrer feindseligen Haltung der freien Marktwirtschaft gegenüber bestärkt sehen" und "korrupte Führungseliten ... Hände reibend das alte System der Vetternwirtschaft und Korruption" wieder einführen.

Weitere Artikel: Die Ungarin Beatrix Caner, Leiterin des Literaturca Verlags, spricht in einem Interview von einer auffälligen Reislamisierung der türkischen Literaturszene. Daniel Kothenschulte würdigt den verstorbenen Jazz-Fotografen William Claxton. Judith von Sternburg klärt uns über "Büschelauszugskraftprüfungen" am Weltnormentag in der Times Mager auf.

Besprochen werden Katharina Wagners Inszenierung von Richard Wagners "Rienzi" im Theater Bremen (eine "selbstbewusste Befragung der Vorlage"), ein Konzert des Dirigenten Yakov Kreizberg in der Alten Oper Frankfurt, ein Konzert von Udo Lindenberg und der Krimi-Roman "Der Totengarten" von George Pelecanos.

Heute erscheint auch die Literaturbeilage zur Frankfurter Buchmesse. Im Aufmacher bespricht Ina Hartwig Marlene Streeruwitz' "Kreuzungen".

NZZ, 14.10.2008

Marc Zitzmann schreibt über die Eröffnung des neuen Pariser Kulturzentrums Centquatre im ehemaligen städtischen Bestattungsinstitut im 19. Arrondissment. Thomas Hermann trifft den P.G.Wodehouse-Übersetzer Thomas Schlachter.

Besprochen werden Richard Wherlocks formidables" Traviata-Ballett mit Ayako Nakano in Basel, die Berliner "Tropen"-Schau im Martin-Gropius-Bau, die Ausstellung "Reiz der Antike" im Braunschweiger Herzog-Anton-Ulrich-Museum und Bücher, darunter Volker Brauns Band "Schichtbuch des Flick von Lauchhammer". sowie Christian Hallers Roman "Im Park" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Welt, 14.10.2008

Spätestens mit dem Christkindl wird auch das Kindle kommen, meint Hendrik Werner zum Buchmessenthema Elektronisches Buch. Etwas unheimlich ist es schon: "Die Verlage, hat Hanser-Chef Michael Krüger hochgerechnet, würden auf die Hälfte ihrer Größe schrumpfen, wenn sich das E-Book hierzulande durchsetzt. Und die derzeit noch allenthalben zwischen Produzenten und Endverbraucher geschalteten Agenturen namens Buchhandlungen bräuchte man auch längst nicht mehr im gegenwärtigen Umfang."

Der Verleger Klaus G. Saur glaubt, dass neben der Belletristik zumindest Lehrbücher auf Papier erhalten bleiben: "Die elektronische Information ist für das schnelle und kurze 'Nachschlagen' ideal. Den Inhalt eines Lehrbuches kann ich aber nur erfassen, wenn ich es lese. Nur was du Schwarz auf Weiß nach Hause nehmen kannst, hat Bestand."

Weitere Artikel: Tilman Krause begrüßt die Idee, Bibliotheken auch am Sonntag zu öffnen. Michael Pilz schreibt zum Tod des Fotografen William Claxton. Carolin Fischer wirft einen Blick auf den nun durch Le Clezio dominierten französischen Literaturherbst. Sebastian Borger unternimmt einen Rundgang durch ein neues Museum für neueste Kunst, das der Sammler Charles Saatchi in London eröffnete. Kai-Hinrich Renner notiert reichlich saure Reaktionen auf MRRs Wutausbruch beim Fernsehpreis, der am freitag im ZDF eine halbstündige Qualitätsdebatte nach sich ziehen wird. Auch Elke Heidenreichs Vorschlag, sie rauszuschmeißen, wird offensichtlich erörtert. Bernd Sösemann erinnert an das Naziprojekt einer Kultstätte für den "Nährstand", das vor 75 bei Hameln entstand.

Gemeldet wird, dass der Aufbau-Verlag einen neuen Besitzer hat, den Berliner Kaufmann Matthias Koch. Besprochen wird ein "Fidelio" in Zürich.

Perlentaucher, 14.10.2008

Das E-Book ist nicht einfach ein Buch. Da stellen sich ganz neue Fragen, meint Rüdiger Wischenbart: "Warum sollte ich mein e-Book nicht an meine Freunde ausleihen dürfen? Warum sollten mir meine Freunde dann nur mein e-Book zurückgeben, und nicht auch ihre Notizen, Anmerkungen, oder Verweise auf andere Bücher? So entstehen in der Wissensgesellschaft, in die wir eingetreten sind, Mehrwert und User-Communities. Wie viel von den anderen Büchern und deren Notizen darf ich dann einsehen? Wo endet eigentlich das Buch, das ich digital gekauft habe, und wo beginnt das nächste Buch, auf das mich meine Freunde verwiesen haben?"

Zhou Derong, ehemals Kulturkorrespondent der FAZ in China, ist nicht einverstanden mit der Kritik an der Deutschen-Welle-Redakteurin Zhang Danhong, der eine allzu große Nähe zum Regime in China vorgeworfen wird. Denn wer legt fest, was man denken soll? "Ich stelle mir eigentlich ein richtig dickes Buch vor, sagen wir von mindestens eintausend Seiten, mit einem ganzen Haufen von Kriterien, die uns sagen, was wir zu China oder Russland oder Themen wie Antisemitismus oder rechtem und linkem Extremismus in allen erdenklichen Varianten schreiben dürfen und was nicht."

FAZ, 14.10.2008

Frank Schirrmacher porträtiert äußerst wohlwollend und in Neoliberalismus-kritischer Absicht Paul Krugman, Wirtschafts-Nobelpreisträger und New-York-Times-Kolumnist sowie -Blogger: "Die einzigartige ökonomische Verfallsgeschichte der amerikanischen Mittelschichten ist gewiss härter als die vergleichbaren sozialen Einbußen hierzulande. Krugman lässt auch keinen Zweifel daran, dass das Ausmaß der Ungleichheit in Amerika weitaus größer ist als in Deutschland. Aber wir holen auf, Richtung Abgrund." Jürgen Kaube feiert den Preis als "Ereignis" auch für die Sozialwissenschaften.

Krugmans Kommentar im eigenen Blog fiel einzeilig aus: "A funny thing happened to me this morning." Antwort: Fast 2000 Glückwunschkommentare.

Weitere Artikel: Oliver Jungen gibt einen Überblick über die belletristischen Neuerscheinungen des Deutschen Bücher-Herbstes, Helmut Mayer nimmt sich der Sachbücher an. In der Glosse kann Nils Minkmar über John McCains Witze gar nicht lachen. Wolfgang Sandner schreibt zum Tod des Fotografen William Claxton. Jordan Mejias zeigt sich unzufrieden mit dem Umbau des am Columbus Circle Manhattans gelegenen "Lollipop Building" (vorher - nachher). Marius Meller stellt die Schriftstellerin Emma Braslavsky vor. Knapp gemeldet wird, dass der Berliner Kaufmann Matthias Koch den insolventen Aufbau-Verlag kauft. Auf der Medienseite informiert Christoph Gunkel über den "Antisemitismus im Web 2.0". Hannes Hintermeier stellt den bei Bloomsbury tätigen englischen Verleger Richard Charkin vor, der für die FAZ von der Buchmesse bloggen wird.

Besprochen werden die Bochumer Saisoneröffnungsinszenierungen des "Kaufmanns von Venedig" und von "Roberto Zucco", Niklaus Helblings Wiener Inszenierung von "Ende gut, alles gut", außerdem jeweils recht kurz Aufführungen von Richard Strauss' "Don Juan" in Frankfurt, von Strauss' "Frau ohne Schatten" in Düsseldorf und des "Fliegenden Holländers" in Leipzig, Jun Miyakes Album "Stolen From Strangers" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

SZ, 14.10.2008

Ingo Petz hat das Indiefestival Festival Pop Montreal besucht und dort auch Ian Ilavsky getroffen, Verächter der Musikindustrie und Mitbegründer der Band Godspeed You! Black Emperor: "Viele in Montreal betrachten gerade diese Band als Vorbild und den Geburtshelfer der Szene, die damals chaotisch und übersichtlich war und die sich von 2005 an mit dem Wirbel um Arcade Fire schließlich professionalisierte und strukturierte. 'Ich glaube, wir haben mit unserer Arbeit einen ausgeprägten Stolz generiert', sagt Ilavsky: 'Auch die junge Generation legt sehr viel Wert auf ihre Unabhängigkeit und Freiheit. Die Skepsis gegenüber dem großen Geld und großen Unternehmen ist sehr verbreitet.' Man sehe es ja überall in den Straßen von Montreal: 'Die Nerds haben gesiegt.'"

Die SZ druckt einen Brief ab, den der Romanist Erich Auerbach 1938 aus seinem türkischen Exil an Johannes Oeschger schickte. Auerbach beschreibt unter anderem den unvermeidlichen "Prozess der modernen Barbarisierung" des Landes. Die türkische Regierung "muss das arme und nicht arbeitsgewohnte Land organisieren, ihm moderne und praktische Methoden beibringen, damit es leben und sich wehren kann; und wie überall geschieht das im Zeichen eines puristischen Nationalismus, der die lebende Tradition zerstört, und sich teils auf ganz phantastische Urzeitvorstellungen, teils auf modern-rationale Gedanken stützt. Die Frömmigkeit wird bekämpft, die islamische Kultur als arabische Überfremdung verachtet, man will zugleich modern und rein türkisch sein, und es ist so weit gekommen, dass man die Sprache durch Abschaffung der alten Schrift, durch Entfernung der arabischen Lehnworte und ihren Ersatz durch 'türkische' Neubildungen, teils durch europäische Entlehnungen völlig zerstört hat: kein junger Mensch kann mehr die ältere Literatur lesen - und es herrscht eine geistige Richtungslosigkeit, die äußerst gefährlich ist."

Weitere Artikel: Keine Angst vor der Krise: In Hollywood begann mit dem Börsencrash von 1929 ein Goldenes Zeitalter, erinnert sich Susan Vahabzadeh. Andreas Zielcke erklärt uns aus aktuellem Anlass, was eine Bürgschaft ist. Holger Liebs macht sich einen Reim auf das jährliche Kunst-Ranking der Zeitschrift ArtReview. Julian Benedikt schreibt den Nachruf auf den Jazz- und Modefotografen William Claxton. Vasco Boenisch war dabei, als die Organisatoren von "Ruhr 2010" die ersten 150 Projekte für das Jahr als Kulturhauptstadt Europas präsentierten. Christine Dössel schreibt zum Tod des Schauspielers und Kabarettisten Kurt Weinzierl. Martin Vialon analysiert den oben zitierten Brief Auerbachs.

Besprochen werden Gounods "Faust" an der Wiener Staatsoper, die Ausstellung "Tue Greenfort - Linear Deflection" im Kunstverein Braunschweig und Stücke von Shakespeare, Bernard-Marie Koltes und Kristo Sagor am Schauspielhaus Bochum.

Außerdem heute: Die Literaturbeilage.