Heute in den Feuilletons

Gymnasiastenkamasutra

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
27.10.2008. In der NZZ beklagt der südafrikanische Autor Ivan Vladislavic den literarischen Braindrain in Afrika. In der FR will der Soziologe Sighard Neckel die Werte der Bänker ernstnehmen. Die Welt hat schon Connie Walthers RAF-Film "Schattenwelt" gesehen, in dem ein Opfer zurückschießt. Die taz bringt eine dylanologische Sensation. Die FAZ begleitet die  russischen Oligarchen durch die Finanzkrise.

NZZ, 27.10.2008

Im Interview mit Angela Schader spricht der südafrikanische Schriftsteller Ivan Vladislavic über die Literatur in seinem Land und den schlechten Stand der Kultur in Afrika: "Nach wie vor verlässt ein großer Teil der Hochschulabsolventen die afrikanischen Länder, und auch viele Literaturschaffende leben im Ausland. Vor einigen Jahren war ich zu einem Literaturfestival in Mali eingeladen: Von den rund dreißig Schriftstellern, die daran teilnahmen, lebten genau drei in Afrika. Das ist doch Wahnsinn."

Weitere Artikel: Uwe Justus Wenzel hat noch einmal Georg Simmels "Philosophie des Geldes" gelesen und referiert vor allem die Passagen zur Gottähnlichkeit des Geldes: "Weit entfernt davon, nichts zu sein, scheint das Geld vielmehr alles zu sein, nämlich das Sein selbst, der 'warme Strom des Lebens'. Gerät dieser Strom in einer Finanzkrise ins Stocken - oder beschleunigt er sich turbulent?" Angelika Overath stellt die Stiftung "Kreatives Alter" vor, die alle zwei Jahre eben dieses honoriert.

Besprochen werden Matthias Hartmanns Uraufführung von Justine del Cortes Szenenfolge "Sex" (das Barbara Villiger Heilig als "Gymnasiasten-Kamasutra" durchgehen lassen will) und Christiane Pohles Version von Thomas Bernhards "Alten Meister" am Theater Basel.

FR, 27.10.2008

Der Ruf nach einer Rückkehr zu "alten Werten" nach der Finanzkrise, scheint dem Soziologen Sighard Neckel Interview wenig hilfreich zu sein. "Ich glaube, dass alt oder neu für die Frage der Werte keine hilfreichen Kategorien sind. Überhaupt enthält die öffentliche Rede von der Rückkehr zu den Werten die ungewollte Unterstellung, dass sich der enthemmte Marktkapitalismus selbst als ganz und gar a-moralisch verstanden hätte. Das ist überhaupt nicht der Fall. Vielmehr ist der Öffentlichkeit mehr als ein Jahrzehnt lang der Wert der Selbstverantwortung als moralisches Curriculum verordnet worden. Wir sollten deshalb nicht mehr tun, als die Finanzeliten jetzt an jene Werte zu erinnern, die sie selbst propagiert haben."

Weiteres: In der Times Mager erinnert Judith von Sternburg an den Heiligen Ivo Helory. Besprochen werden der "Hamlet" am Schauspiel Stuttgart (Harald Schmidt als Hamlet, auf die Bühne tretend "wie Yoda aus dem Sternengleiter" sei "viel lustiger" als Fernsehen, meint Peter Michalzik), die Inszenierung von Elfriede Jelineks Stück "Prinzessinnendramen" am Schauspiel Frankfurt, "Fernweh" am Freien Schauspiel Ensemble Frankfurt sowie die Theater-Adaption des Romans von Joachim Schädlich, "Der "Trivialroman", am Frankfurter Künstlerhaus Mousonturm.

Welt, 27.10.2008

In Rom hat Peter Zander einen weiteren deutschen RAF-Film gesehen, Connie Walthers "Schattenwelt", eine kleine Produktion, die aber möglicherweise ebenfalls für Diskussionen sorgen wird: "'Schattenwelt' provoziert nicht nur mit dem Affront, dass das Opfer am Ende zurückschießt (was wiederum einen Unschuldigen trifft). Sondern vor allem damit, dass am Drehbuch Peter-Jürgen Boock mitgewirkt hat, selbst ein ehemaliges RAF-Mitglied, das 18 Jahre im Gefängnis saß. Dass ein Ex-Terrorist an einem Film mitwirkte, der öffentliche Fördergelder erhielt, hat dem Projekt schon im Vorfeld böse Kommentare eingebracht."

Weitere Artikek: Hendrik Werner kommentiert die annoncierte Zusammenarbeit zwischen Randomhouse Amerika und Google Book Search als Dammbruch. Hanns-Georg Rodek berichtet von den Hofer Filmtagen. Josef Engels unterhält sich mit dem schwedischen Posaunisten Nils Landgren, der zum Leiter des Berliner Jazzfests gekürt wurde. Gesa Lehrmann berichtet über neue Tendenzen der Graffitikunst: die regionalen Unterschiede verschwinden durch die Kommunikation der Graffiti-Künstler im Internet.

Besprochen werden eine von Harald Schmidt inszenierte Hamlet-Klamotte in Stuttgart, eine Giovanni-Bellini-Ausstellung in Rom, Peter Weiss' "Marat/Sade" am Hamburger Schauspielhaus und Angelin Preljocajs Schneewittchen-Choreografie beim Berliner Staatsballett.

Auf der Forumsseite porträtiert Ulrich Clauß des Medienunternehmer James Murdoch, Sohn von Rupert, der sich verbindlicher gibt als sein Vater und der gerade versucht, den deutschen Fernsehmarkt aufzurollen.

TAZ, 27.10.2008

Heute ist zwar der letzte Montag des Monats, aber einen neuen Text von Gabriele Goettle gibt es nicht. Stattdessen preist Max Dax Bob Dylans CD-Box "Tell Tale Signs", die ungeahnte Schätze aus den Jahren 1989-2006 birgt und fragt sich, was da noch alles kommen mag: "Mit Ausnahme einer Handvoll obskurer Konzerte, die Dylan auf dem Mond, im Kindergarten seiner Enkel und bei den Weltjugendspielen im Andropow-Moskau gegeben haben soll, gibt es Aufnahmen aller Konzerte des Sängers. Um unveröffentlichte Studioaufnahmen hingegen ranken sich die wildesten Gerüchte."

Weiteres: Tobi Müller untersucht, wie Barack Obama mit dem rhetorischen Topos der "frontier" umgeht. Rudolf Walther gratuliert der Zeitschrift Kritische Justiz zum Vierzigsten. Von Friedrich Küppersbusch gibt's die Gedanken zur Woche. Jenni Zylka widmet sich der weiblichen Selbstbefriedigung.

Und noch Tom.

FAZ, 27.10.2008

Die Finanzkrise in Russland mit dem Absturz der Aktienwerte um siebzig Prozent kommt, wie Kerstin Holm feststellt, den Staatsgewaltigen gerade recht - weil nämlich zunächst vor allem die Oligarchen zu leiden haben: "Der Held der politischen Bühne ist Finanzminister Kudrin, der mit standhaftem Geiz 560 Milliarden Dollar Rücklagen anhäufte und, wie Fafner vor dem Nibelungenschatz, immer wieder Versuche abwehrte, ihn für Sozialprogramme, Landwirtschaft, Infrastrukturprojekte anzuzapfen. Dank Kudrins Reserven, die wöchentlich um fünfzehn Milliarden Dollar schrumpfen, kann der Staat die Oligarchen nun teilbeerben."

Weitere Artikel: Jordan Mejias vergleicht die Facebook-Seiten von Barack Obama und John McCain - mit so erwartbarem wie eindeutigem Ausgang. Der landesweiten Schulstreik gegen die Regierung Berlusconi liegt in den radikalen Sparmaßnahmen im Erziehungsbereich begründet, informiert Dirk Schümer. In der Sternzeichenreihe landet Lorenz Jäger bei Musils "Törleß" und beim Skorpion. Michael Gassmann berichtet von einem Stuttgarter Kongress, bei dem es um die Autonomie der Kirchenmusik ging. Beim Blick in osteuropäische Zeitschriften liest Joseph Croitoru über das Sterben der Bibliotheken in Russland und die Blüte der - eher gefühligen - Literatur-Blogs in Rumänien. Gerhard Rohde stellt den österreischischen Dirigenten Sascha Goetzel vor, der demnächst das Borusan Istanbul Philharmonic Orchestra leitet. Andreas Rossmann meldet, dass der Schriftsteller Michael Zeller den Wuppertaler von-der-Heydt-Preis erhält, wobei er auch den Seitenumstand erwähnt, dass die Lebensgefährtin des Autors in der Auswahljury saß. F.P. schreibt zum Tod des "Renft"-Sängers Peter Cäsar Gläser. Auf der Medienseite porträtiert Robert von Lucius den das Regime in Zimbabwe mutig kritisierenden Verleger Trevor Ncube.

Besprochen werden der Harald-Schmidt-"Hamlet" in Stuttgart (in dem, findet ein insgesamt amüsierter Gerhard Stadelmaier, Harald Schmidt "glänzend zeigt, was er eigentlich nicht kann"), Werner Herzogs "Parsifal"-Inszenierung in Valencia (inszenatorisch eine Katastrophe, urteilt Julia Spinola), ein Udo-Lindenberg-Konzert in Köln, die "Diana und Actaeon"-Ausstellung in Düsseldorf, Philipp Stölzls Film "Nordwand" und Bücher, darunter Ulf Geyersbachs ro-ro-ro-Monografie zu "Louis-Ferdinand Celine" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

SZ, 27.10.2008

Die SZ setzt den Abdruck der "New York Review of Books"-Reihe zu den amerikanischen Wahlen mit Ronald Dworkin fort, der sich gruselt bei der Vorstellung, welche Richter John McCain im Falle seines Wahlsiegs für den Obersten Gerichtshof aussuchen würde. Die Nobelpreisjury lädt den von der Mafia verfolgten italienischen Schriftsteller Roberto Saviano zu einem Vortrag nach Stockholm ein, auch wenn der Juryvorsitzende Horace Engdahl von diesem Beschluss wenig begeistert ist, berichtet Gunnar Herrmann. Henning Klüver besucht die Slow-Food-Messe Salone del Gusto in Turin. Frederik Kunth schickt Nachrichten aus dem Netz. Florian Welle gratuliert zum 30. Geburtstag des von Harald Weinrich gegründeten Instituts für Deutsch als Fremdsprache. Oliver Stone spricht im Interview über seinen neuen Film "W". Rainer Gansera berichtet von den 42. Hofer Filmtagen. Stephan Opitz möchte die Finanzkrise zu einer Kulturförderungsdebatte nutzen.

Auf der Medienseite berichtet Caspar Busse über die Sparmaßnahmen bei MTV Deutschland. Barbara Gärtner stellt das neue Frauenmagazin Missy vor: "Zielgruppe: weiblich, urban, feministisch und popkulturell interessiert, zwischen 20 und 35 Jahre alt."

Besprochen werden Harald Schmidts "Hamlet"-Musical am Schauspiel Stuttgart ("pappsüße Klangsüße", befindet Christopher Schmidt im Aufmacher), neue DVDs, die Ausstellung "Spektakel der Macht" in Magdeburg, ein Konzert des Countertenors David Daniels in München und Bücher, darunter der Comic "Torpedo" von Enrique Sanchez Abuli und Jordi Bernet (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).