Heute in den Feuilletons

Tot vor Vibratoemotionen

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
28.10.2008. Der chinesische Dienst der Deutschen Welle online ist wesentlich regimefreundlicher als die deutschen Inhalte über China, berichtet Deutschlandradio: "Es entsteht der Eindruck, es handelt sich um zwei verschiedene Medien, die sich womöglich bekämpfen." FR und taz haben einer Konferenz über die berühmte Kafka-Konferenz in Liblice zugehört. Die FAZ sagt Nein! zur Wirtschaftskrise. Im Tagesspiegel klagen drei Bundeskulturminister a.D. über die Auswüchse des Föderalismus.

Aus den Radios, 28.10.2008

Vor einigen Wochen wurden Stimmen laut, die Chinaberichterstattung der Deutschen Welle sei oft einseitig prokommunistisch (hier unsere Dokumentation zum Thema). Inzwischen wurden Berichte der chinesischen Redaktion der Deutschen Welle übersetzt. Dabei stellte sich heraus, dass die Vorwürfe berechtigt waren, berichtete gestern Frank Hessenland im Deutschlandfunk in der Sendung Kultur heute (hier die mp3-Datei): "Die Übersetzungen der chinesischen Homepage der Deutschen Welle zu den sensiblen Themen Olympia und Tibet zeigen, dass sich der chinesische Dienst der DW vom deutschen Programm des Senders sehr unterscheidet. Es entsteht der Eindruck, es handelt sich um zwei verschiedene Medien, die sich womöglich bekämpfen. Man muss kein Dissident sein, um zu dem Schluss zu kommen, dass das chinesische Programm stark an den Stil sozialistisch-kommunistischer Propaganda erinnert. So werden aus 'tibetischen Protesten', wie es auf der deutschsprachigen Internetseite heißt, auf der chinesischsprachigen Seite 'gewalttätige Krawalle' und aus 'Demonstranten' werden 'Separatisten', die mit starken Truppenkontingenten zu 'befrieden' seien."

FR, 28.10.2008

Arno Widmann schreibt zur Konferenz im tschechischen Liblice, die am Wochenende an die Kafka-Konferenz von 1963 (hier und hier) erinnerte, die damals von der KP vereinnahmt worden war: "Jiri Hajek, später einer der führenden Köpfe der Charta 77, brachte es 1963 in Liblice auf den Punkt: 'Der Gegensatz zwischen Kafka und uns liegt nicht darin, wie einige marxistische Kritiker meinen, dass Kafka die revolutionäre historische Rolle der Arbeiterklasse nicht erkannte und wir sie kennen. Der umwälzende Gegensatz besteht darin, dass wir die Macht haben, während er und seine Helden machtlos waren.' Die Kafka-Tagung 1963 war ein Moment der Selbstreflexion der Macht. Nein, es war der Moment, als die Intellektuellen, die geglaubt hatten, sie wären mit an der Macht, begannen, die Erfahrung ihrer Machtlosigkeit in dem von ihnen geförderten kommunistischen Regime zu reflektieren. Es gab keinen Autor, der sich dafür so anbot wie Kafka." Vor allem, so Widmann, konnten sie lernen, "dass es bei Kafka kein Opfer gibt, das nicht auch Täter ist".

Auf den Medienseiten nennt Stefan Brändle Sarkozys Reformpläne für das staatliche Fernsehen eine erhebliche "Verquickung von politischen und medialen Interessen". In der Times Mager freut sich Christian Schlüter über das Verschwinden der Politikverdrossenheit.

Besprochen werden: Gaetano Donizettis "Lucia di Lammermoor" an der Oper Frankfurt, eine Nibelungen-Inszenierung von Robert Lehniger am Schauspiel Frankfurt, und eine Tanz-Theater Veranstaltung am Staatstheater Kassel. Außerdem das Buch "Teenage. Die Erfindung der Jugend" von Jon Savage und Dietmar Daths Roman "Die Abschaffung der Arten".

Welt, 28.10.2008

Eckhard Fuhr ruft in der Leitglosse die Kanzlerin auf, sich bei ihrer heutigen Rede zum zehnten Jahrestag des Bundeskulturministieriums für ein "Staatsziel Kultur" einzusetzen: "Staatsziel Kultur bedeutet zweierlei: der Staat ist kulturtragend, die Kultur aber nicht staatstragend. Diese Übereinkunft gehört zu den wesentlichen Zutaten der Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik."

Weitere Artikel: Peter Zander hat den neuen James-Bond-Film schon gesehen. Gernot Facius erinnert an das Pontifikat Johannes' XXIII., das vor fünfzig Jahren begann. Hanns-Georg Rodek stellt einen monumentalen Bildband mit Archivmaterialien von Ingmar Bergman vor, der bei Taschen erscheint. Gerhard Gnauck zitiert aus einem großen Interview mit Marcel Reich-Ranicki in der Gazeta Wyborcza. Gabriela Walde schreibt zur Eröffnung der temporären Kunsthalle am Schlossplatz. Auf der Forumsseite besingt Tilman Krause nach dem Erfolg von Uwe Tellkamps Roman "Der Turm" das bildungsbürgerliche Krafreservoir in den Neuen Ländern.

NZZ, 28.10.2008

Roman Bucheli freut sich über den geglückten Neustart des Robert-Walser-Archivs, das rundum erneuert von Zürich nach Bern gezogen ist: "Zum Glück waren die Zürcher Behörden so bockig und uneinsichtig. Denn hätten sie damals das Loch gestopft - es war von jährlich rund 300 000 Franken die Rede -, wäre das Archiv im gewohnten Stil (mit allen nicht zu überschätzenden Verdiensten, aber auch mit ebenso vielen Unzulänglichkeiten) fortgeführt worden."

Besprochen werden die Retrospektive des Italieners Giorgio Morandi im New Yorker Metropolitan Museum, eine Aufführung von Verdis "Aida" in Stuttgart, das Theaterprojekt "welt retten" beim Steirischen Herbst und Bücher, darunter Claude Simons Prosawerk "Der blinde Orion", Wiebke Edens Romandebüt "Die Zeit der roten Früchte" und Adolf Endlers Forsetzungszüchtigung "Nächtlicher Besucher, in seine Schranken gewiesen" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

TAZ, 28.10.2008

Dirk Knipphals berichtet angeregt von der Kafka-Tagung im tschechischen Liblice und weiß schließlich zu melden: "Ganz zum Schluss der Tagung konnte der Zeithistoriker Jürgen Danyel das damalige Eintreten für Kafka mit einer differenzierten Sicht auf den Roman verknüpfen: Vielen Initiatoren der 63er-Konferenz, Danyel nannte den Namen des Germanisten Eduard Goldstücker, sei es mit der Rehabilitierung Kafkas im Sozialismus gerade auch darum gegangen, sich selbst zu rehabilitieren. Sie hatten zuvor etwa in stalinistischen Schauprozessen mitgemacht - Mittäter und Opfer in einem. Wie Josef K.! So en passent und elegant zugleich wie Jürgen Danyel hat wohl bislang kaum jemand dissidentische Heldengeschichten dekonstruiert."

Weitere Artikel: Auf den Hofer Filmtagen hat Anke Leweke neben vielen "biederen Ausstattungsfilmen" auch einige interessante Dokumentationen gesehen, "doch musste man sich der Frage stellen, wo sie geblieben sind, die Querdenker und Anarchisten von einst." Christian Broecking berichtet vom Enjoy-Jazz-Festival im Rhein-Neckar-Dreieck. Wilfried Weinke versammelt verschiedene Ereignisse zu Robert Capa und seiner Co-Fotografin Gerta Taro.

Besprochen werden Harald Schmidts Strumpfhosen-Musical "Prinz von Dänemark" und Kurt Flaschs Mittelalter-Abhandlung "Kampfplätze der Philosophie".

Auf der Meinungsseite vermisst Klaus Raab bei den zuständigen Anstaltsleitern auch nur eine ungefähre Ahnung davon, "was Fernsehen kann und soll".

Und noch Tom.

Aus den Blogs, 28.10.2008

Der Kreditstatus der New York Times ist von Ratinagenturen auf "Ramsch"-Status abgewertet worden. Gawker berichtet über eine Rede des Times-Chefredakteurs Bill Keller, der Gerüchte dementierte, dass die Times zwanzig Prozent ihres Personals entlassen wolle: "Das erklärt aber noch nicht, wie die Company ihre Verbindlichkeiten in Höhe von 500 Millionen Dollar in den nächsten Jahren bezahlen will. Die Firma könnte vielleicht den Boston Globe oder About.com verkaufen. Aber die Zeit ist ncht gerade günstig für solche Deals."

Tagesspiegel, 28.10.2008

Rüdiger Schaper hat es geschafft, die zwei Vorgänger und die eine Vorgängerin des jetzigen Staatsministers für Kultur zu einem Interview über diese zehn Jahre neue Institution des Bundes zusammenzubringen. Und sie sind sich einig in einer Klage: Michael Naumann: "Ich bedaure sehr, dass in der Föderalismusreform die Verhandlungsführung bei Kulturfragen in Brüssel wieder an die Bundesländer zurückgegangen ist. Das macht uns zum Gespött unserer europäischen Nachbarn." Christina Weiss: "Die Ministerpräsidenten der Länder wollen in Brüssel unbedingt ihre Hoheit für Kultur- und Medienpolitik behaupten. Man braucht aber in den europäischen Gremien eine identifizierbare Person, nicht wechselnde Vertreter mit wechselnden Qualifikationen aus den Bundesländern." Julian Nida-Rümelin: "Das ist eine paradoxe Situation. Der Bund hat sich bei der Föderalismusreform II Sicherheitskompetenzen im Tausch gegen Kompetenzen in der Bildung und der Kultur erkauft. Ein strategischer Fehler."

SZ, 28.10.2008

Schönes Interview mit dem Cellisten Anner Bylsma. Er spricht über den Verlust der Sprache in der Musik vor Wagner und Strauss, über junge Virtuosen und nervendes Dauervibrato: "Beim Brahms-Violinkonzert ist man als Hörer oft nach einem Satz tot vor Vibratoemotionen. Brahms ist doch auch schön landschaftlich - die schwere Luft bei Hamburg! Für uns Holländer ist er ein Onkel aus der Gegend hinter Groningen. Man muss bei ihm nicht alles so persönlich nehmen, vielmehr es geschehen lassen. Es fehlt die Vielfalt der Differenzierung auch in der Bogenführung, die zu sehr auf Gleichförmigkeit ausgerichtet ist. Lange Töne dürfen nicht 'steif' bleiben. Es muss auch innerhalb des langen Tons dynamisch abwechseln. Wenn einer den Ton gleichmäßig aushält, sind die beweglichen kleinen Noten anderer nicht zu hören. Da schaukelt sich wieder gegenseitig die Lautstärke auf. Schade. Leider wird viel gerade von Könnern verdorben." (Hier ein Artikel über Bylsma im Freitag, hier ein Interview mit Bylsma auf cello.org und hier Bachs Prelude G-Dur:



Niklas Hofman und Jens-Christian Rabe beschreiben den Versuch von MySpace und den vier großen Musiklabels Universal, EMI, Warner und Sony, die Reste des kommerziellen Musikmarkts unter sich aufzuteilen. Sie bilden eine Art Joint Venture, das "zwischen 70 und 80 Prozent des Musikmarkts kontrollieren" würde. Das Kernangebot für den Nutzer "ist kostenlos. Überzeugt haben dürfte die Musikkonzerne Murdochs Angebot, sie direkt an dem Dienst zu beteiligen (angeblich insgesamt zu 40 Prozent), wobei die jeweiligen Anteile je nach Marktanteil gestaffelt sein sollen. Die Konzerne verdienen also nicht nur, wenn ein Song aus ihrem Repertoire abgefragt wird, sondern sind direkt an den Werbeeinnahmen des Unternehmens beteiligt. (...) Anders als den Majors wurde den unabhängigen Labels zum Start keine Beteiligung am Joint-Venture MySpace Music angeboten."

Weitere Artikel: Sonja Zekri stellt die russische Naziklamotte "Gitler kaput!" von Marjus Wajsberg vor, die ein "ein wohltuend schmutziger kleiner Film" sei (hier der Trailer, hier die Website, und wer "Sway" lieber von Dean Martin hört, kann das hier tun - oder lieber "Mambo Italiano"?). Janek Schmidt berichtet über eine Münchner Podiumsdiskussion zu islamischer Kunst. Leonardos "Codex Atlanticus" ist nicht von Schimmel bedroht, beruhigt uns Henning Klüver. In der NYRB-Reihe über die Wahlen in den USA kritisiert heute der Englischprofessor David Bromwich den außenpolitischen Zickzack-Kurs von Obama (englische Fassung). Johan Schloemann informiert uns über die frühesten Anführungszeichen der Druckgeschichte. "Google kann künftig Publikationen von Random House in seiner Suchmaschine Google Book Search aufnehmen. Vorerst betreffe das nur einige tausend Titel in Nordamerika", meldet cbu.

Besprochen werden die Ausstellung "Byzantium 330 - 1453" in der Londoner Royal Academy of Arts, Volker Löschs "Marat"-Abend am Hamburger Schauspielhaus ("Eine Logo-Kreuzung aus Aldi und Lidl schmückt eine bühnengroße Gummizelle, in der die Hartz-IV-Empfänger als Chor nach der Verbesserung ihrer Lage rufen", fasst der wenig begeisterte Till Briegleb die Inszenierung zusammen), Verdis "Aida" an der Staatsoper Stuttgart und Bücher, darunter politische Kinderbücher und Nicolas Bergs Studie über den "Luftmenschen" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FAZ, 28.10.2008

In seinem Feuilleton-Leitartikel glaubt Frank Schirrmacher, dass die Finanzkrise unerklärlich ist, und er fragt sich, ob unsere Gesellschaft nun nur noch auf Geldanimationen auf Screensavern starren und keine Stifte mehr aufheben wird, und deshalb, wie auch wegen der Linkspartei, in einem "Wurmloch" verschwinden, und im Jahr 1929, also im "Brutofen der Jahrhundertkatastrophe", wieder herauskommen, sich der Macht der Metaphern beugen und zwanghaft in den Worten und Sätzen der Vergangenheit sprechen muss. Schirrmachers Antwort aber lautet: Nein!

Weitere Artikel: Bei den Hofer Filmtagen hat Rüdiger Suchsland vor allem einen sehr beeindruckenden Film gesehen: "Torpedo" der sechzehnjährigen Helene Hegemann. In der Glosse denkt Jürgen Kaube über Systemfehler und Schönwettergerede im Zusammenhang mit der Finanzkrise nach. Der Historiker Dominik Geppert erinnert an die von Wilhelm II. heraufbeschworene Daily-Telegraph-Affäre, die sich heute zum hundertsten Mal jährt. Jochen Hieber porträtiert Michael Leiner, Art Director beim Stroemfeld Verlag. Ganz knapp schreibt Andreas Kilb zum Tod von Gerard Damiano, dem Mann, der beim Porno-Klassiker "Deep Throat" Regie führte. Auf der Forschung-und-Lehre-Seite macht sich der Wissenschaftshistoriker Christoph Hoffmann Gedanken zur Frage, wie die Politik wissenschaftliche Erkenntnisse rhetorisch einsetzt, um auf vermeintlich unpolitische Weise den Leuten das Rauchen auszutreiben. Auf der Medienseite beklagt sich der Regisseur Rolf Silber über den Umgang der Fernsehgewaltigen mit den Regisseuren.

Besprochen werden die deutsche Erstaufführung von Wajdi Mouawads Stück "Der Sonne und dem Tod kann man nicht ins Auge sehen", Matthias Hartmanns Inszenierung von Justine del Cortes Stück "Sex" in Zürich, eine Frankfurter "Lucia di Lammermoor", bei der insbesondere der Tenor Joseph Calleja sehr beeindruckte, die große "Picasso et les maitres"-Schau in Paris, die Ausstellung "Buddhas Leuchten & Kaisers Pracht" im Grassimuseum Leipzig, die neuen Platten "Oh (Ohio)" von Lambchop und "Only by the Night" der Kings of Leon (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).