Heute in den Feuilletons

Kauf dir aber kein neues Auto

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
29.10.2008. Die Feuilletons wenden auch heute ihren ganzen Sachverstand den Finanzmärkten zu. Die FR liest George Soros' jüngstes Buch über den Crash und lernt, dass Märkte politisch sind. Alle besprechen Erwin Wagenhofers Dokumentarfilm "Let's Make Money". Gawker meldet, dass die ersten Zeitungen in den USA ihr Erscheinen auf Papier einstellen. In der Berliner Zeitung widerspricht der Historiker Bert Hoppe der These, die Massenvergewaltigungen nach 1945 seien von der sowjetischen Führung geduldet worden.

FR, 29.10.2008

George Soros hat im Mai in seinem Buch "Das Ende der Finanzmärkte" die Krise zum Teil vorausgesagt. Aber jeder muss seine Erfahrungen selbst machen, meint Arno Widmann. "Menschen folgen entgegen der Grundannahme der Nationalökonomie gerade nicht ihren Interessen, sondern dem, was sie - unter welchen Einflüssen auch immer - dafür halten. Mit anderen Worten: es gibt keine politikfreie Ökonomie. Die Märkte sind immer auch politische Märkte. Damit ist aber auch klar: Es gibt keine sicheren Erkenntnisse, sondern alle Erkenntnisse, so Soros, sind notwendig falsch oder doch, wie er hinzufügt, auf spätere Korrekturen angewiesen."

Weitere Artikel: Eva Schweitzer informiert auf den Medienseiten über die Wahlkampfberichterstattung in den USA. Christian Thomas denkt in einer Times Mager über den Wahltag als "Ground Zero" nach.

Besprochen werden: Volker Löschs Inszenierung von "Marat/Sade" im Deutschen Schauspielhaus Hamburg, eine "Parsifal"- Aufführung in Valencia unter Regie von Filmemacher Werner Herzog, die Ausstellung einer Privatsammlung niederländischer Gemälde in der Kasseler Wilhelmshöhe und das Buch "Der Kaiser von China" von Tilman Ramstedt (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Aus den Blogs, 29.10.2008

Via Gawker. Gestern zitierten wir in der Magazinrundschau Marc Andreesen, der den Zeitungen zurief: Stellt die Printausgabe ein! Heute berichtet die New York Times, dass der The Christian Science Monitor genau das angekündigt hat: Ab April will er seine tägliche Printausgabe einstellen und online weitermachen. Im Print wird es nur noch ein wöchentliches Magazin geben. Der Monitor ist eine nicht sehr auflagenstarke (52.000), aber respektierte und mit sieben Pulitzerpreisen ausgezeichnete Zeitung. Er ist die erste amerikanische Qualitätszeitung, die diesen Schritt wagt. "John Yemma, Redakteur des Monitors, erklärte, dass man mit dem Umzug ins Internet die acht Auslandsbüros halten und dabei noch Kosten sparen könne. (...) 'Jeder redet über neue Modelle', sagte Mr. Yemma, 'dies ist ein neues Modell.'"

Via BoingBoing. Bald wird man uns nicht nur an unseren gescannten Körper, biometrischen Daten, RFID-Funkchip, e-Gesundheitskarten, Maut-Kontrolle, Kreditkartenfahndung, Telefon-, Internet- und Videoüberwachung erkennen, sondern auch an unseren Emotionen. Das staatlich finanzierte amerikanische GreenDot Projekt arbeitet schon daran: "Das Ziel des Projekts ist es, Personen anhand ihrer Bewegungen zu erkennen und den emotionalen Zustand einer Person, ihren kulturellen Hintergrund und andere Merkmale zu ermitteln. (...) Das Forschungsteam baut eine große Datenbank menschlicher Emotionen auf und benutzt dafür Kabelfernseh-Aufnahmen und Videodownloads aus dem Internet. Mittels vergleichbarer Techniken, wie sie in der Spracherkennung benutzt werden, stellt das Projekt auf das Lernen von Maschinen ab (eine Technik der Künstlichen Intelligenz) um Computersysteme darauf zu trainieren, die in einem Video festgehaltene Körpersprache eines Individuums mit den Daten anderer Subjekte zu vergleichen." (Online bestaunen kann man Versuche mit Obama, McCain und Bush sowie mit Sarkozy, Merkel, Clinton und Obama.)

Widerstand lässt sich immer demonstrieren, zum Beispiel mit diesem supermilitanten Chanelschuh (Variationen hier).

Welt, 29.10.2008

Beeindruckt zeigt sich Hanns-Georg Rodek von Erwin Wagenhofers Dokumentarfilm "Let's Make Money", der versucht, die komplizierten Kreisläufe des Geldverkehrs und seiner Profiteure ins Bild zu bannen: "Die meisten Medien im Finanzkrisenherbst 2008 bemühen sich so redlich wie vergeblich, ihren erschreckten Nutzern zu erklären, was um sie herum geschieht. Diese Vergeblichkeit hat viel damit zu tun, dass sie sich in Details und Fachbegriffen - Subprime, Private Equity, asset-backed - verlieren. Wagenhofer fährt stattdessen mit der Kamera zurück, und plötzlich sehen wir statt dem Detail das gesamte Gemälde. Es gibt viele redende Köpfe in 'Let's Make Money', aber das ist kaum zu vermeiden - und was sie zu sagen haben, klingt oftmals ungeheuerlich."

Weitere Artikel: Wolf Lepenies erkennt in den gerade laufenden Finalspielen des Baseballsaison Parallelen zu den amerikanischen Wahlen. Friedrich Pohl ist begeistert von Heinz Strunks Roman "Die Zunge Europas". Siegfried Tesche unterhält sich mit dem James-Bond-Regisseur Marc Forster über den neuesten Film der Reihe. Sven Felix Kellerhoff besucht die neu eingerichtet Berliner Gedenkstätte für die "Stillen Helden", die Juden vor den Nazis retteten.

Besprochen werden die große Peter-Doig-Ausstellung in der Schirn, Ralf Stabels Studie "Im Tänzer - Der Tanz und die Staatssicherheit" und eine "Parsifal"-Inszenierung Werner Herzogs inValencia.

Auf der Forumsseite warnt der Verfassungsrechtler Horst Dreier (der neulich wegen seiner liberalen Einstellung zur Stammzellforschung von der Kandidatur als Verfassungsrichter weggemobt wurde) vor allzu beliebigen Änderungen am Grundgesetz: "Viele der in den letzten Jahren erfolgten Grundgesetzänderungen zeichnen sich durch große Detailliertheit und stetig wachsenden Textumfang aus. Das macht sich im Grundrechtsteil des Grundgesetzes besonders nachteilig bemerkbar, wenn neben die schönen schlanken Sätze der Urfassung nun aufgeblähte und mit Spezialregelungen gespickte Textungetüme treten, die nur noch Spezialisten verständlich sind."

Weitere Medien, 29.10.2008

Bohumil Dolezal, einer der bekanntesten tschechischen Publizisten, kritisiert in Lidove noviny die Angriffe auf das Prager Institut für die Erforschung des Totalitarismus (Ustr) und die Wochenzeitung Respekt nach den Veröffentlichungen über die mutmaßliche Verstrickung Milan Kunderas in einen Verratsfall 1950. Die Veröffentlichung der Fotokopie eines Polizeivermerks, der Kunderas Verrat vermuten lässt, "ist natürlich mit Risiken verbunden: erstens, dass der Text eine Fälschung ist und der Verrat nicht stattgefunden hat. Es gibt aber ein noch größeres Risiko: dass sich das Bemühen durchsetzt, zu lügen, zu verschweigen und die Wahrheit unter den Teppich zu kehren, vor allem, wenn es um Prominente geht." Es gehe nicht nur um Angriffe aus der Presse auf Ustr und Respekt, sondern auch um massive Einmischungen der Politik in den Fall. "Die Demokratie gründet sich auf das Vertrauen in die Öffentlichkeit, in deren Fähigkeit, zwischen Wahrheit und Lüge zu unterscheiden. Darauf, dass sie keinen Kurator benötigt. Bei uns setzt sich - wie man sieht -, ein solches Vertrauen nur sehr schwer durch."

Die New York Times schreibt über Ingo Schulzes Roman "Neue Leben": "Dieser sehr lange Roman beschreibt die moralische, soziale und ökonomische Plünderung (Ostdeutschlands - Anm.PT) durch den einfallenden Kapitalismus - hemmungslos in der Abwesenheit einer ausgleichenden Kraft. Anders als Mr. Schulzes frühere Werke, hat dieses Buch einen Ton von ungemilderter Trostlosigkeit. Diese Trostlosigkeit liegt nicht nur über der neuen Situation, sondern auch über der Gesellschaft vor dem Mauerfall, die er zuvor in ihrer menschlichen Komplexität behandelt hat. 'New Lives' ist ganz Verachtung - für das Alte wie für das Neue."

NZZ, 29.10.2008

Der Philosoph und Reformkatholik Otto Kallscheuer betrachtet die religiöse Rhetorik, die im amerikanischen Wahlkampf bekanntlich eine nicht unerhebliche Rolle spielt. Allein schon, weil John McCain so selten in der Kirche gesehen worden war, brauchte er die wiedergeborene Sarah Palin. "Barack Obama und Sarah Palin ziehen zwei unterschiedliche Register der zivilreligiösen Rhetorik der Vereinigten Staaten: das Register der im rechten Glauben geeinten Community und dasjenige des universalistischen Auftrags an Amerika. Ralph Waldo Emerson sprach einst von der 'Partei der Erinnerung' und der 'Partei der Hoffnung'."

Besprochen werden die große Schau "Design Cities" im Design Museum London, die Ausstellung "Tag, Nacht, Halbmond" der Schweiz-Japanerin Leiko Ikemura im Museum zu Allerheiligen, Schaffhausen, Peter Longerichs Himmler-Biografie, Hansjörg Schertenleibs Roman "Das Regenorchester" und Peter Adolphsens Prosastück "Das Herz des Urpferds" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Berliner Zeitung, 29.10.2008

Der Historiker Bert Hoppe antwortet seinem Kollegen Hubertus Knabe, der anlässlich der "Anonyma"-Verfilmung die Massenvergewaltigunen durch sowjetische Soldaten nach dem Krieg zu systematisch verübten Verbrechen erklärt hatte: "Derartigen Hinweisen waren schon die deutschen militärischen Aufklärungsstellen nachgegangen - und hatten keine Belege dafür finden können. Eine Befragung von 45 gefangenen Rotarmisten durch die Gefangenensammelstelle des Armeeoberkommandos 9 ergab im Februar 1945 vielmehr ein für die Wehrmacht überraschendes Bild: 'Die Aussagen deuten ohne Ausnahme darauf hin, dass strenge Befehle der Oberen Führung der Roten Armee vorliegen, die Zivilbevölkerung schonend zu behandeln, insbesondere den Besitz nicht geflohener Einwohner nicht anzutasten.' Die Realität sah anders aus - die These freilich, die sowjetische Führung hätte die Gewalt unterbinden können, hätte sie nur den Willen gehabt, lässt sich nicht halten."

Holm Friebe und Kathrin Passig geben als neue Parole aus, dass Emails total passe sind, absolut 10. September.

TAZ, 29.10.2008

Auf der Meinungsseite verhandelt Ilija Trojanow in einem Schlagloch die neue Aktualität von Karl Marx, wie sie sich derzeit in der Kneipe erleben lässt: "'Es gibt viele Marxens', bemerkte mein Freund, 'da findet man allerhand Anregungen.' 'Nun', antwortete ich, 'es gibt im Marxismus mehr Strömungen als Flüsse.' 'Du übertreibst' - mein Freund G. stand schon, er musste weiter in die nächste flüssige Verkaufsstelle. 'Das Panorama reicht von den Anarchomarxisten bis zu den Nationalsozialisten, dessen Führer sich damit brüstete, er habe die Ideen von Marx verwirklicht - siehe'Gespräche mit Hitler' von Hermann Rauschning.' 'Also ist Marx für dich ein Irrlicht?' 'Nicht nur. In seinem kapitalen Werk schreibt Marx, der Kapitalismus werde in Schlamm und Blut geboren. Der marxistische Pfad hat sich als schlammigster und blutigster Umweg zum Kapitalismus erwiesen.'"

Dass Zivilcourage sich bis heute nicht an der Universität studieren lässt, zeigt laut Klaus Hillenbrand die neueröffnete Gedenkstätte "Stille Helden" der Stiftung Gedenkstätte Deutscher Widerstand in Berlin, welche die Rettung von Juden in der Nazizeit durch einige Tausend "anständige Deutsche" dokumentiert. "Diese beiden werden nicht mehr zusammenkommen", lautet das Fazit von Christiane Müller-Lobeck über eine Hamburger Veranstaltung, auf der Ex-Spiegelmann Moritz von Uslar versuchte, aus Ex-Spiegelchef Stefan Aust den "seelenverwandten Teilzeitmelancholiker herauszukitzeln. " Durchaus mehr als der "solitäre Kulturkreative der Linkspartei" sei Konstantin Wecker befindet Peter Unfried nach dem Besuch eines Berliner Konzerts des Liedermachers.

Besprochen wird die Textsammlung "1968 in Jugoslawien - Studentenproteste und kulturelle Avantgarde zwischen 1960 und 1975" (mehr dazu in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Und noch Tom.

SZ, 29.10.2008

Burkhard Müller berichtet über die Kafka-Konferenz im tschechischen Liblice, bei der sich alle als Opfer fühlen konnten. In der NYRB-Reihe beschreibt heute Garry Wills, welche Folgen ein Wahlsieg der Republikaner für die amerikanische Verfassung hätte (englische Fassung). Jörg Häntzschel bekam eine Mail mit der Betreffzeile: "How Joerg can change America", und schon verbrachte er ein Wochenende als Freiwilliger in Obamas Telefonkampagne. Stefan Koldehoff schreibt über die Zusammenarbeit der Sammlung Rau mit dem Remagener Arp-Museum. Joachim Kaiser schreibt in seinem siebten Geburtstagsartikel über Beckett. Stefan Koldehoff singt dem scheidenden Berliner Museumsgeneral Peter-Klaus Schuster ein Abschiedslied. Auf der Medienseite lobt Christopher Keil die interessanten und vor allem konzentrierten Vorträge auf dem Londoner Medientag, der diesmal vom RTL-Group-Chef Gerhard Zeiler geleitet wurde.

Besprochen werden Dany Boons Filmkomödie "Willkommen bei den Sch'tis" (Daneben gibt es ein Interview mit dem Regisseur über Vorurteile, Straßenkünstler und seine Mutter: "Als ich meine Mutter anrief, um ihr zu sagen, dass wir wohl den größten Kinoerfolg Frankreichs geschafft haben, war sie erst einmal still. Und dann hat sie gesagt: 'Kauf dir aber kein neues Auto.'"), eine Wagner Gala mit dem Bayreuther Festspielorchester und Christian Thielemann beim Musikfestival Abu Dhabi Classics, einige CDs, die Uraufführung von Justine del Cortes Stück "Sex" im Zürcher Schiffbau, ein Münchner Beethovenkonzert mit dem Pianisten Rudolf Buchbinder und den Stuttgarter Radiosinfonikern unter Roger Norrington und Johannes Gelichs Roman "Der afrikanische Freund" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FAZ, 29.10.2008

Begeistert ist Verena Lueken nicht von Erwin Wagenhofers Dokumentarfilm "Let's Make Money". Aber gut sei der Film immer dann, wenn Wagenhofer nicht gleich eine Antwort wisse. Zum Beispiel in einer Episode mit Baumwollpflückern in Burkina Faso: "'Wir werden nach Europa kommen, wenn unser Land kaputt ist', sagt der Agrarökonom Yves Delisle, 'wie hohe Mauern auch immer ihr bauen werdet.' Zu diesem Thema hat Gerhard Schwarz, der Leiter der Wirtschaftsredaktion der Neuen Zürcher Zeitung, seine ganz eigenen Vorstellungen. Während Geld und Güter frei durch die Welt reisen, sollten Menschen, die vor der Armut fliehen, Eintritt bezahlen. Wie in einem Tennisclub, so stellt er sich das vor. Für Zitate wie dieses lohnt sich der Film dann doch."

Weitere Artikel: Italien trifft, wie Dirk Schümer weiß, die Finanzkrise besonders hart, da helfen auch die Beschwichtigungsparolen von Berlusconi & Co. wenig. In der Glosse schildert Paul Ingendaay den Fall eines achtzehnjährigen Marokkaners, der an der Tafel des Schulzimmers im Erbauungsspruch "Gott, König und Vaterland" den König durch seinen Lieblingsverein Barca ersetzt hatte und jetzt wegen Beleidigung des Königs für anderthalb Jahre im Gefängnis sitzt. Hubert Spiegel war im tschechischen Libice, wo man sich an die am selben Ort 1963 stattgefundene Kafka-Konferenz erinnerte. Die Schriftstellerin Felicitas Hoppe, gerade Gastprofessorin in Washington, erklärt, dass sie jetzt ein Wettbüro in der US-Hauptstadt eröffnet hat. Von bischöflichem Widerstand gegen die von Papst Benedikt wieder eingeführte tridentinische Messe in England weiß Gina Thomas zu berichten. Rüdiger Suchsland porträtiert die - wie sie nicht gerne hört: sechzehnjährige - Helene Hegemann, deren in Hof begeistert aufgenommener Film "Torpedo" heute an der Berliner Volksbühne zu sehen ist. Andreas Rossmann informiert darüber, dass die Sammlung Rau nun auf Dauer im Arp-Museum unterkommt. Martin Kämpchen fragt, was aus der Aufmerksamkeit für die Literatur des Buchmessen-Gastlands Indien 2006 geworden ist. Auf der DVD-Seite werden unter anderem eine Edition der Filme Christine Noll Brinckmanns und eine zehnteilige Helmut-Qualtinger-Werkschau empfohlen.

Besprochen werden die Eröffnungsausstellung mit Videos von Candice Breitz in der provisorischen Berliner Kunsthalle, die Peter-Doig-Ausstellung in der Frankfurter Schirn, ein Lesung mit Musik mit Alfred Brendel und Pierre-Laurent Aimard in Frankfurt und Bücher, darunter Evelyn Grills Roman "Das römische Licht" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).